
"Euthanasie"-Opfer der Nazis "Ich bin ohne Sinnen gestorben!"




Archiv BKH Kaufbeuren
einestages-Autorin Gabriele Lübke hat die Geschichte ihrer Großmutter anhand von persönlichen Dokumenten ihres Vaters und der Krankenakte, die sie über das Bundesarchiv in Berlin erhielt, aufgearbeitet.
Rosa Schillings nahm beim Kaffee mehreren Kranken ihr Butterbrot fort, warf es auf den Boden und rief: "Hunden legt man solches Essen nicht vor. Ich lasse mich nicht zum Tier erniedrigen." In den ersten Wochen in der Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen war Rosa sehr ängstlich. Danach folgte die Rebellion. Sie sah sich als Ausbeutungsobjekt und wollte nicht teilnehmen am täglichen Leben der Anstalt und damit an den Arbeiten, die Patientinnen und Patienten erledigen mussten. Immer wieder verweigerte sie die Medikamente und äußerte, dass man ihr abends Schlafmittel gebe und sie nachts in unsittlicher Weise belästige.
Bei ihrer Einweisung war Rosa auf Anordnung des Arztes zwangssterilisiert worden. Ihren Goldzahn hatte man ihr herausgebrochen. Ihr einst hübsches Gesicht beschrieb sie selbst als Fratze.
Rosa Schillings wurde am 2. Mai 1941 von den Nazis ermordet. Sie starb im Zuge der Erwachsenen-"Euthanasie" in der Gaskammer der Tötungsanstalt Hadamar.
Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen wurden während des Nationalsozialismus schon ab 1934 diskriminiert und verfolgt. Ab Sommer 1939 wurde die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" geplant und von Hitler durch eine Tötungsermächtigung legitimiert, datiert auf den 1. September 1939, Tag des Kriegsbeginns durch den deutschen Überfall auf Polen. Das Mordprogramm erhielt den Namen "Aktion T4", nach der Adresse Tiergartenstraße 4 der eigens dafür aufgebauten Verwaltungszentrale in Berlin.
In grauen Bussen zu den Tötungsanstalten
Die systematische Ermordung von Kindern mit geistigen oder körperlichen Behinderungen begann 1939; die Nationalsozialisten verschleierten sie auch als "Gnadentod". Ab Januar 1940 wurden erwachsene Patienten und Patientinnen von grauen Bussen abgeholt und in insgesamt sechs Tötungsanstalten gebracht, darunter Hadamar in Hessen. Dort ermordete man sie mit Kohlenmonoxid in als Duschräumen getarnten Gaskammern und äscherte die Leichen umgehend ein.
Die Nazis töteten insgesamt rund 200.000 kranke und behinderte Menschen, davon etwa 15.000 in Hadamar. Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 1941 wurden dort 10.122 Menschen ermordet. Die Angehörigen erhielten kurz darauf "Trostbriefe" sowie Sterbeurkunden mit falschen Angaben zu Todesursache und -datum.
Rosa Schillings war meine Großmutter. Auch mein Vater hat einen solchen Trostbrief und eine Sterbeurkunde erhalten. Als Sterbedatum war der 26. Mai 1941 eingetragen, als Todesursache Leukämie.
Eine zynische Lüge.
Mein Vater hat viel über seine Mutter erzählt, doch seine Erzählungen endeten immer 1936, als der Kontakt zu ihr abgebrochen wurde. Das Nächste, was er von ihr erfuhr: Sie sei in Hadamar "verstorben".
Mit zwei Kleinkindern nach Borneo
Rosa Schillings wurde am 18. März 1899 als Rosa Antonette Hubertine Droste in Würselen geboren. Sie wuchs mit drei Brüdern in einer wohlsituierten Kaufmannsfamilie auf, eine unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit. Rosa heiratete 1925 Johann Josef Schillings, den alle Jean nannten. Noch im selben Jahr wurde ihre Tochter Inge geboren, ein Jahr später ihr Sohn Gregor.
Jean Schillings nahm 1927 das Angebot einer niederländischen Firma an, die technische Leitung eines Bergwerkes auf der fernen Insel Borneo zu übernehmen. Zunächst blieb Rosa in Deutschland, um ihre kranke Mutter zu pflegen; ihr Vater war bereits 1924 gestorben. Rosas Schwiegermutter konnte nicht verstehen, dass sie ihrem Mann nicht sofort nach Südostasien folgte und brach jeden Kontakt zu ihr und den Enkeln ab.
Nach dem Tod ihrer Mutter reiste Rosa im Februar 1929 mit den Kindern nach Borneo. In der damaligen niederländischen Kolonie hatte ihr Ehemann inzwischen ein Haus erworben und Personal eingestellt. Im Januar 1930 kam es zu einem Aufstand der Bergwerksarbeiter, bei dem Jean erstochen wurde. Rosa beerdigte ihn auf Borneo und kehrte mit den beiden Kindern zurück in ihren Heimatort Würselen. Dort kam es zu Streitigkeiten um das Erbe ihres Mannes und zum endgültigen Bruch mit den Schwiegereltern.
Für sich und ihre Kinder richtete Rosa eine Wohnung ein. Finanzielle Sorgen hatte sie nicht, da sie eine Witwen- und Waisenrente aus den Niederlanden bekam und eigenes Vermögen aus dem Erbe ihrer Eltern hatte. Aber das Schicksal schlug weiter zu: Ihre an Malaria erkrankte Tochter Inge starb im November 1931. In dieser Zeit begannen Rosas Depressionen.
"Den Kindern wird der Hass ja schon eingeimpft"
Weihnachten 1932 brach Rosa in Weinkrämpfe aus, ihr Bruder Hermann brachte sie in eine Heilanstalt nahe Aachen. In Abständen folgten weitere Aufenthalte in mehreren Heilanstalten. Hermann wurde als ihr gesetzlicher Pfleger und als Vormund ihres Sohnes eingesetzt. Rosa und ihr Bruder Josef versuchten, das zu verhindern - vergebens: Pflegschaft und Vormundschaft verblieben noch einige Jahre bei Hermann.
Trotz ihrer Krankheit galt Rosas ganze Liebe und Sorge Sohn Gregor. Sie hatte Angst, dass er ihretwegen leiden muss, denn auch die Kinder vermeintlich "Geisteskranker" waren aufgrund des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Gefahr.
Archiv BKH Kaufbeuren
Am 22. März 1936 wurde Rosa in die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen eingewiesen. Die Diagnose: paranoide Schizophrenie. Rosa fügte sich nicht in das Anstaltsleben ein. Für Ärzte und Pflegepersonal war sie nur eine rebellische, aufsässige Patientin. Rosas Willen konnten sie nicht brechen, ihre kritischen Äußerungen über Hitler und das Naziregime nicht stoppen. So nannte sie Hitler einen Schweinehund, der seine Leute mit "Kraft durch Freude" fange.
"Den Kindern wird der Hass ja schon eingeimpft", sagte Rosa laut Krankenakte, und über die Zustände in Galkhausen: "Ihr könnt ja nichts anderes als die Leute zu misshandeln und ihnen nichts zu essen zu geben. Die haben mir mein junges Gesicht genommen und haben mir ihre Fratze gegeben."
Fast 75 Jahre später bin ich Rosas Weg gegangen
Nur noch einmal hat Rosa Galkhausen verlassen: mit dem grauen Bus, der sie in die Tötungsanstalt Hadamar brachte. Angeordnet hatte das, so der letzte Eintrag in der Krankenakte, der "Herr Reichsverteidigungskommissar" am 2. Mai 1941. In Hadamar starb sie am selben Tag den Gastod.
Rosas Sohn Gregor, mein Vater, wuchs ab etwa 1937 bei seinem Onkel Josef auf. Er hat einen Teil des Schicksals seiner Mutter und damit sein eigenes Schicksal aufgearbeitet. In Hadamar erfuhr er, wie seine Mutter gestorben ist. Den in der Gedenkstätte Hadamar vorliegenden Transportlisten war das wahre Todesdatum zu entnehmen.
2005 sprach mein Vater dann in einem Interview mit einer amerikanischen Wissenschaftlerin über das Schicksal seiner Mutter. Doch auch hier blieben die Jahre von 1936 bis 1941 im Dunkeln, darüber hatte er keine Informationen.
Mich hat dieser Teil meiner Familiengeschichte vor zwei Jahren eingeholt: Im März 2015 habe ich in Hadamar zum ersten Mal den Ort gesehen, an dem meine Großmutter ermordet wurde. Ich bin ihren Weg gegangen - von der Garage der grauen Busse bis zur Gaskammer und zum Krematorium. Ein grausamer Weg, Rosas letzter.
"Ich habe die Ehrenrechte der ganzen Welt"
In Hadamar habe ich erfahren, dass noch 30.000 Krankenakten der Opfer der T4-Aktion, die bis August 1941 getötet wurden, im Bundesarchiv in Berlin einsehbar sind. Auch die Akte meiner Großmutter. Darin wurden hauptsächlich Rosas Äußerungen dokumentiert, nicht die Therapie. So konnte ich ihr Leben von 1936 bis 1941 nachvollziehen. Das Lesen der Akte hat mich emotional sehr berührt, aber auch sehr stolz gemacht: Trotz aller Schikanen konnte niemand Rosas Willen brechen, sie hat sich bis zuletzt gegen die Behandlung in Hadamar und das Naziregime aufgelehnt.
Besonders beeindruckt hat mich, was Rosa am 19. Januar 1941 dem Anstaltsarzt sagte: "Ich habe die Ehrenrechte der ganzen Welt. Ich bin als Staatsanwältin angestellt, um selbst aufzuklären, warum ich gemordet worden bin! Ich bin ohne Sinnen gestorben!"
Fast 75 Jahre später wird Rosas Gesicht in Filmen des israelischen Filmemachers Yaniv Schwartz verwendet: als Anklägerin für die furchtbaren Euthanasie-Morde. Und so ist ihre Äußerung Wirklichkeit geworden.
Im April 2015 stieß ich zufällig im Internet auf diese Kurzfilme von Yaniv Schwartz zur T4-Aktion. Er hatte das Foto meiner Großmutter auf den Internetseiten der amerikanischen Wissenschaftlerin gefunden. Ich nahm Kontakt mit Yaniv auf, so entstand ein neuer Kurzfilm über Rosa (hier zu sehen). Es ist ein Mahnmal für alle, die diesen sinnlosen Tod gestorben sind - ein israelisch-deutsches Zufallsprojekt über eine der Gräueltaten des Nationalsozialismus.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Rosa Schillings wurde im März 1936 in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen. Fünf Jahre später starb sie in Hadamar, einer Tötungsanstalt, im Rahmen der "Aktion T4". Mit diesem Mordprogramm töteten die Nationalsozialisten Menschen, deren Leben sie als "lebensunwert" einstuften.
Rosas Reisepass von 1929: Als Rosa Schillings nach Borneo reiste, war sie 29 Jahre alt. Mit ihren beiden Kindern folgte sie ihrem Ehemann.
Johann Josef Schillings, Jean genannt, hatte auf Borneo eine Stelle bei einem niederländischen Bergwerkunternehmen angenommen. Die größte Insel Asiens war damals teils niederländische, teils britische Kolonie.
Beerdigung: Nur ein knappes Jahr nach Rosas Ankunft wurde ihr Ehemann bei einem Aufstand der Bergwerksarbeiter erstochen. Das Foto zeigt Rosa Schillings mit den Kindern Inge und Gregor an seinem Grab auf Borneo.
Zurück in Deutschland: Mit ihren beiden kleinen Kindern lebte Rosa zunächst wieder in ihrem Heimatort Würselen. Der Lebensunterhalt war durch eine Witwen- und Waisenrente und eigenes Vermögen gesichert. Familiäre Streitigkeiten um das Erbe ihres Mannes setzten Rosa zu, vor allem aber der nächste Schicksalsschlag: Ihre Tochter war an Malaria erkrankt und starb im November 1931. Rosa Schillings litt unter Depressionen.
Zum Tode verdammt: Dieses Motiv von 1936, das die Nationalsozialisten zu Schulungszwecken verbreiteten, stammt aus der Diaserie "Blut und Boden". Derartige Propaganda sollten den Deutschen vermitteln, dass "erbkranke" Menschen minderwertige, parasitäre Lebensformen seien.
Volksverhetzung: Besucher der NS-Ausstellung "Erbgesund - Erbkrank" in der Invalidenstraße 138 in Berlin, aufgenommen im Jahr 1934. Mit solchen Veröffentlichungen und Ausstellungen bereitete der NS-Staat sein Mordprogramm an körperlich, geistig oder psychisch Kranken und Behinderten vor.
Transport in den Tod: Graue Busse wie diese der Tarnorganisation Gekrat transportierten zu sechs Tötungsanstalten Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen - oder mit dem, was Nazi-Ärzte als psychische Erkrankungen einstuften.
Die Busgarage der Tötungsanstalt Hadamar 70 Jahre später (Foto von 2013). Aufgestellt wurde sie Anfang 1941 im Innenhof der Anstalt und bot Platz für drei Busse. Damit fuhr die "Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft" (Gekrat) psychisch kranke Menschen in die hessische Kleinstadt Hadamar - in den sicheren Tod.
Krematorium von Hadamar: Der Schornstein rauchte unaufhörlich. "Hier sollte niemand über Nacht bleiben oder behandelt werden, hier sollten die Leute nur ankommen und am gleichen Tag umgebracht werden", sagt Jan Erik Schulte, Historiker und Leiter der Gedenkstätte Hadamar.
Auf dem Friedhof in Hadamar wurden die Opfer der "T4-Aktion" begraben. In der Tötungsanstalt starben insgesamt etwa 15.000 Menschen, zumeist in der Gaskammer. Als das zehntausendste Opfer verbrannt wurde, gab es laut Zeugenaussagen im Sommer 1941 eine Feier für die Angestellten, die alle eine Flasche Bier erhielten.
Bürokrat des Bösen: Philipp Bouhler (1899-1945) war Reichsleiter der NSDAP, Chef der Kanzlei des "Führers" und SS-Obergruppenführer. Von Hitler war er beauftragt mit der Durchführung der NS-"Euthanasie", das nach der Berliner Adresse Tiergartenstraße 4 zu "T4" abgekürzt wurde. Kurz nach Kriegsende wurde Bouhler am 19. Mai 1945 verhaftet und beging Selbstmord mit einer Blausäure-Kapsel.
"Löwe von Münster": Clemens August Graf von Galen, katholischer Bischof in Münster, zählte zu den wenigen, die entschieden gegen die "Euthanasie" protestierten. Das Foto zeigt ihn 1946. Fünf Jahre zuvor hatte er, in einer Brandpredigt am 3. August 1941, die Nazi-Gräueltaten öffentlich angeprangert. Tatsächlich entschied Hitler noch im gleichen Monat, das Mordprogramm offiziell einzustellen. Weitergeführt wurde es in einer zweiten Phase dennoch - nunmehr zumeist per "Hungerkost" und Todesspritzen mit überdosierten Medikamenten.
Das Krematorium im Keller der früheren Tötungsanstalt Hadamar (Foto von 2013). In der rechten Vertiefung befand sich der Koks als Brennstoff; in der verglasten Vertiefung links davon liegen noch heute Aschereste der Ermordeten.
Das Personal der Anstalt Hadamar im April 1945. Kurz zuvor, am 26. März, hatten US-Soldaten die systematischen Morde in der Tötungsanstalt beendet. Diese Aufnahme zeigt also Pflegerinnen bereits nach der Befreiung von Hadamar.
Die Täter vor Gericht: Am 24. Februar 1947 begann vor der Strafkammer des Landgerichts in Frankfurt am Main der dritte und umfangreichste Euthanasie-Prozess. Angeklagt waren 26 Ärzte und Angehörige des Pflegepersonals in Hadamar wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord. Das Foto zeigt die Hauptangeklagten bei Prozessbeginn. Zweite Reihe von links nach rechts: Schwester Margarete Borkowski (halb verdeckt), Oberschwester Irmgard Huber, der frühere Anstaltsdirektor Adolf Wahlmann, der leitende Arzt Bodo Gorgass. Hintere Reihe von links nach rechts: die Pflegerinnen und Pfleger Agnes Schränkel, Paul Hild, Härtle, Paul Reuter, Jürth Thomas. Im Vordergrund die Verteidiger Prausnitzer, Saalwächter und Zohn.
Der Leiter und sein Handlanger: Adolf Wahlmann (links) übernahm als Chefarzt ab 1942 die Führung der Anstalt Hadamar und verantwortete somit die Tötungen der zweiten Phase, die unauffälligeren Morde durch Unterernährung sowie Medikamentenspritzen und Tabletten. Karl Willig (rechts), Hilfspfleger in Hadamar, war berüchtigt als besonders brutaler Täter und auch für die Leichenverbrennung zuständig. Das Foto zeigt sie am 5. April 1945 nach ihrer Festnahme.
Tod durch den Strang: Karl Willig wurde am 14. März 1946 hingerichtet, ebenso wie Pfleger Heinrich Ruoff und Verwaltungsleiter Alfons Klein. Dagegen war Anstaltsleiter Adolf Wahlmann, der jeden Morgen entschieden hatte, welche Patienten heute zu ermorden waren, lediglich acht Jahre im Gefängnis. Zunächst wurde er 1945 zu lebenslanger Haft, dann 1947 zur Todesstrafe verurteilt, die allerdings zwei Jahre später in lebenslänglich umgewandelt wurde (per Grundgesetz war die Todesstrafe abgeschafft). 1953 entließ man ihn vorzeitig, er starb einige Jahre später.
Blick in ein Krankenzimmer der Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar: Der mittelhessische Psychiatriestandort mit seiner Gedenkstätte ist international zu einem Symbol der Euthanasie-Verbrechen der Nazis geworden.
Das "Denkmal der grauen Busse" entstand vor der Philharmonie in Berlin (Aufnahme von 2008). Die Künstler Horst Hoheisel und Andreas Knitz gestalteten es, um an die Opfer der "Euthanasie" zu erinnern - an die Kinder, Männer und Frauen wie Rosa Schillings, die mit solchen Bussen in den Tod gefahren wurden.
Wie das Mordprogramm begann: Mit diesem Schreiben ordnete Adolf Hitler persönlich an, "unheilbar Kranken" könne "der Gnadentod gewährt werden". Den Befehl gab Hitler wahrscheinlich im Oktober 1939, er wurde aber offenbar zurückdatiert auf den September, Tag des Kriegsbeginn durch den deutschen Überfall auf Polen.
Rosa Schillings, eines von etwa 200.000 Opfern der "Euthanasie", der systematischen Tötung von Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus. Ihr Leben und ihr Sterben ist außergewöhnlich gut dokumentiert: Rosas Enkelin Gabriele Lübke konnte die Familiengeschichte anhand vieler persönlicher Dokumente und der Krankenakte aufarbeiten.
Heiratsschein: 1925 heirateten Rosa Droste und Johann Josef Schillings. Ende des darauffolgenden Jahres hatte das Ehepaar bereits zwei Kinder, Inge und Gregor.
Brief aus einem Sanatorium in Ückerath. Nach dem Tod ihrer Tochter Inge fiel Rosa Schillings in Depressionen. Am 15. Juli 1935 schrieb sie an ihren Sohn Gregor dies:
"Mein liebes gutes Kind! Schon so lange hätte ich Dir einen kleinen Brief gesandt, aber die Angst, Dir könnte ein Leid geschehen, hat mich davon abgehalten. Ich denke, dass Du recht gesund bist! Und wie würde ich mich freuen, einige Zeilen, die du selbst geschrieben hast, lesen zu können. Bald sind ja auch die großen Ferien, wie gerne würde ich mit Dir verreisen. Bete mal ganz fleißig, dann wird es vielleicht werden. Ich schicke Dir, sobald ich kann, ein schönes Paket. Sei Du mir recht herzlich gegrüßt und geküsst von
Deiner Dich liebenden Mutter
Einlieferungspapier: Am 22. März 1936 kam Rosa Schillings in die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen. Die Diagnose der Ärzte lautete: "Schizophrenie, paranoide", beschrieben als "symptomarm" (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Zitat aus der Krankenakte vom 8. April 1936:
"Ich möchte gern mit einem mir gut bekannten Rechtsanwalt in Verbindung treten, der sich dann um die Angelegenheiten meines Kindes kümmern muss. Ich bin wiederholt krank gewesen. Das Kind fliegt von einem Verwandten zum anderen. Es ist ein gut veranlagter und begabter Junge, und ich möchte ihn, da ich es selbst nicht kann, eine gute Erziehung in einem Internat bieten. Die Vermögensverhältnisse erlauben es. Hoffentlich gelingt es mir, da ich an meinem Bruder, der mein gesetzlicher Pfleger ist, keine Hilfe habe." Ein Anwalt wurde nicht eingeschaltet. (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Aus der Krankenakte vom 8. August 1936:
"Ich bin doch nicht ihr Versuchskarnickel. Was die mit mir schon alles angestellt haben. Jeden Tag treiben sie neues Spiel und neue Schikane mit mir und geben allerhand Versprechungen. Aber die schlechten Menschen laufen überall herum, anständige Menschen werden eingesperrt, weil sie solche Schlechtigkeiten nicht mitmachen können. Den Kindern wird ja der Hass schon eingeimpft. Ich weiß was los ist, ich darf bloß nichts sagen." (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Aus der Krankenakte vom 16. August 1936:
"'Ich bin hier lange genug ihr Ausbeutungsobjekt gewesen. Meine ganze Familie haben sie ruiniert. Ich zeige sie beim Gericht an.' Patientin (Rosa) nahm beim Kaffee mehreren Kranken ihr Butterbrot fort, warf es auf den Boden und rief: 'Hunden legt man solches Essen nicht vor. Ich lasse mich nicht zum Tier erniedrigen'." (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Aus der Krankenakte vom 10. Oktober 1936:
"Die Menschen sollen alle mit Kraft durch Freude fahren. Die Kinder sollen möglichst alle in Jugendherbergen schlafen. Die bekommen dann alle ein einheitliches Essen. In das Essen wird etwas hineingetan, damit alle für den Hitler stimmen, so will er seine Leute fangen, der Schweinehund. Aus Frankreich ist ein Gesandter gekommen, dieser hat gesagt: In Deutschland sind alle verrückt geworden. Die Großen laufen mit Bildern herum und die Kleinen mit Pistolen." (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Aus der Krankenakte vom 8. September 1938:
"Patientin ist sehr erregt, wenn sie bei der Pflegerin nicht ihren Willen bekommt. Sie äußerte: 'Sie sind ein ganz gemeines Weib. Ihr könnt ja nichts anderes als die Leute zu misshandeln und ihnen nichts zu essen geben. Die haben mir mein junges Gesicht genommen und haben mir ihre Fratze gegeben. Etwas anderes können sie doch nicht und jetzt können sie gehen'." (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Am 19. Januar 1941 äußerte Rosa gegenüber dem Arzt:
"Was muss ich für Angaben machen? Ich habe das doch alles schon mal gesagt, es ist nichts nachgekommen! Ich habe die Ehrenrechte der ganzen Welt. Ich bin als Staatsanwältin angestellt, um selbst aufzuklären, warum ich gemordet worden bin! Ich bin ohne Sinnen gestorben!" (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Der letzte Eintrag in der Krankenakte, 2. Mai 1941:
"Heute auf Anordnung des Herrn Reichsverteidigungskommissars in eine andere Anstalt verlegt." (Akte aus dem Bundesarchiv, Berlin)
Auf Rosas Sterbeurkunde sind das Sterbedatum 26. Mai 1941 und die Todesursache "akute myeloische Leukämie" verzeichnet. Beides ist falsch: Tatsächlich wurde Rosa Schillings am 2. Mai, noch am Tag ihres Transports nach Hadamar, getötet. Darüber geben die Transportlisten der Gedenkstätte Hadamar Aufschluss - die Nazis waren in der Buchhaltung ihrer Morde penibel.
Neu beurkundet: Rosa Schillings Leben beendete auch nicht etwa eine Leukämie - sie starb in der Gaskammer, wie viele tausend andere Opfer des NS-Vernichtungswahns.
Ernst Lossa wurde im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms ermordet. Er wuchs in Kinderheimen auf und wurde 1942 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen. Dort gab man dem erst 14-jährigen Jungen am 9. August 1944 die Todesspritze.
Archiv BKH Kaufbeuren
Die Geschwister Lossa erlebten das erste Kriegsjahr im Kinderheim, wurden dann aber 1940 getrennt. Ernst Lossa kam in ein Erziehungsheim bei Dachau. Seine Schwester Amailie Speidl erinnert sich an die Trennung: "Meine Schwester und ich wurden mitten in der Nacht geweckt, es hieß, wir sollten unserem Bruder Lebewohl sagen. Ernst stand angezogen im Flur und schaute tieftraurig. Bis heute denke ich an seinen Blick." Am nächsten Morgen war Ernst verschwunden.
Valentin Faltlhauser leitete die Anstalt in Kaufbeuren. Als besonders perfide Mordmethode entwickelte er die sogenannte E-Kost: Gemüsereste wurden so lange zerkocht, bis sie keinerlei Nährstoffe mehr enthielten. Die Patienten verhungerten praktisch beim Essen oder fielen, stark geschwächt, Infektionskrankheiten zum Opfer.
Der Kinofilm "Nebel im August" zeichnet das Schicksal von Ernst Lossa nach (ab 29. September 2016 in den Kinos). Das Szenenbild zeigt Ivo Pietzcker als Ernst Lossa sowie Sebastian Koch in der Rolle des Anstaltsleiters, der im Film Werner Veithausen heißt. Der echte Klinikleiter, der so viele Kinder auf dem Gewissen hatte, kam nach dem Krieg ohne Bestrafung davon: Der gnadenlose Faltlhauser wurde zwar zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, aber nach mehreren Aufschüben wegen Haftunfähigkeit 1954 begnadigt.
Der Totenschein Als "asocialer Psychopath" wird Ernst Lossa hier eingestuft, seine Todesursache mit "Bronchopneumonie" (Lungenentzündung) angegeben. In Wahrheit starb er, weil ein Pfleger und eine Schwester ihm mit vereinten Kräften das Mittel Luminal spritzten. Der 14-Jährige war ein gesunder Junge, der wegen seiner Herkunft aus einer jenischen Familie fahrender Händler nach einigen Jahren in Kinderheimen ermordet wurde. Sein Vater starb in einem KZ.
Propagandaoffensive: Mit solchem "Schulungsmaterial" begleitete die NS-Führung ihre Kampagne zur Tötung von Kranken und Behinderten.
Mit diesem Schreiben ordnete Adolf Hitler persönlich an, dass unheilbar Kranken "der Gnadentod gewährt werden kann". Fortan entschieden Psychiater in Berlin über Leben und Tod von Menschen im ganzen Land. Den Befehl gab Hitler wahrscheinlich im Oktober 1939, er wurde aber offenbar zurückdatiert auf den 1. September, Tag des Kriegsbeginns.
Philipp Bouhler war Chef von Hitlers Kanzlei und wurde zum Leiter des Euthanasie-Programms der Nationalsozialisten, das nach der Berliner Adresse Tiergartenstraße 4 zu "T4" abgekürzt wurde. Nach Kriegsende wurde Bouhler am 19. Mai 1945 verhaftet und beging Selbstmord mit einer Blausäure-Kapsel.
Die Gutachter der Nazis entschieden über "lebensunwertes Leben". Das Bild vom September 1941 zeigt unter anderem: Rudolf Lonauer, Leiter der Tötungsanstalt Hartheim. Victor Ratka, Direktor der Gauheilanstalt Tiegenhof sowie "T4"-Gutachter, ebenso wie Friedrich Mennecke, Hermann Paul Nitsche und Gerhard Wischer.
Arglose Kinder wie hier in der Heilanstalt Schönbrunn bei Dachau wurden durch das Gesetz zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses", das bereits im Juli 1933 verabschiedet wurde, dem Tod ausgeliefert.
Geistig behinderte Kinder in Schönbrunn: Was mit ihnen geschehen sollte, davon hatte die NS-Führung überaus klare Vorstellungen. Propagandaminister Joseph Goebbels schrieb in seinem Tagebuch: "Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 40.000 sind weg, 60.000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch notwendige Arbeit. Und sie muss jetzt getan werden. Bouhler ist der rechte Mann dazu."
Transport in den Tod: Die Aufnahme aus dem Sommer 1941 zeigt zwei Busse der GEKRAT, die mit dem Transport zur Tötungsanstalt Hadamar beauftragt war. Das Kürzel steht für "Gemeinnützige Gesellschaft für Krankentransporte", ein Tarnnamen für eine Unterabteilung der Zentralstelle "T4".
Rauchender Schornstein des Krematoriums im hessischen Hadamar: In dieser Tötungsanstalt wurden rund 14.500 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ermordet, zumeist vergast und anschließend verbrannt - ein Ort des Grauens.
Friedhof von Hadamar: Von Januar 1941 bis März 1945 erstreckten sich die Massenmorde der Nazis in der Tötungsanstalt. "Hier sollte niemand über Nacht bleiben oder behandelt werden", sagt Jan Erik Schulte, Historiker und Leiter der Gedenkstätte Hadamar. "Hier sollten die Leute nur ankommen und am gleichen Tag umgebracht werden."
Tod durch den Strang: Karl Willig war Pfleger in Hadamar und wurde ebenso wie Heinrich Ruoff, ebenfalls Pfleger, und Alfons Klein, Verwaltungsleiter, zum Tode verurteilt. Willig, zuständig auch für die Leichenverbrennung, war berüchtigt als besonders brutaler Täter. Die Hinrichtungen wurden am 14. März 1946 im Gefängnis Bruchsal vollstreckt.
Szenenbild aus "Nebel im August": Was mit Ernst Lossa geschah, erforschten die US-Amerikaner nach dem Krieg besonders gründlich und verwendeten sein Schicksal exemplarisch in Prozessen zu NS-Verbrechen. Der Spielfilm beruht auf dem gleichnamigen Buch von Robert Domes, das 2008 erschien und mehrere Literaturpreise erhielt.
Nicht vergessen: Ernst Lossa, hier in einer Filmszene dargestellt, verhielt sich mitunter auffällig und galt zugleich als hilfsbereit und gutmütig. Im Kinofilm durchschaut er das Kliniksystem. Er versucht, anderen Kindern zu helfen, und plant seine eigene Flucht. 1944 gelang ihm das nicht - Ernst Lossa starb im Alter von 14 Jahren.