
Exil-Schicksale: Out of Afghanistan
Exil-Schicksale Out of Afghanistan
Als Nasrin Mofid im November 1992 in Hamburg ankommt, hat sie bereits eine dreimonatige Odyssee hinter sich. Hals über Kopf war die damals 25-jährige Afghanin mit ihren beiden kleinen Kindern nach dem Sturz von Präsident Nadschibullah vor marodierenden Moslem-Rebellen aus ihrer Heimatstadt Kabul geflohen. Kein Land hatte ihr Zuflucht geben können, bis sie schließlich von Tschechien aus sechs Stunden lang zu Fuß über die Grenze nach Deutschland gelaufen war, wo vietnamesische Schlepper sie aufsammelten und nach Dresden brachten.
In der Nacht auf dem Hauptbahnhof musste sie, die Illegale, die kein Wort Deutsch sprach, erleben, wie Jugendliche ihren vierjährigen Sohn angriffen, bis sie endlich verängstigt, erschöpft, ohne Papiere und mit einem unguten Gefühl den Zug in Richtung Hamburg bestieg. Was sie noch nicht ahnt: Die eigentliche Hölle würde erst jetzt beginnen. Denn in der fremden Stadt wartet nicht nur Nasrins Mann, dort warten bereits viele Afghanen - auch solche, die nicht gut auf Kommunisten zu sprechen sind.
Die Hafenmetropole an der Elbe beherbergt die größte afghanische Gemeinde Europas. Nach Schätzungen des Hamburger Flüchtlingsrats leben dort heute etwa 16.000 Exil-Afghanen, im Jahr 2005 erreichte ihre Zahl mit rund 20.000 einen Höchststand - und das Schicksal und kriminelle Schlepperbanden führen im norddeutschen Flachland ausgerechnet jene wieder zusammen, die es schon am Hindukusch nicht miteinander aushalten konnten: Anhänger des Königshauses, die nach dem Sturz des Schah und vor der sowjetischen Invasion 1979 flohen. Dann afghanische Kommunisten, die zehn Jahre später nach dem Abzug der Sowjets emigrierten, um dem Zorn der frommen Mudschahidin zu entgehen. Die wiederum mussten ab Mitte der neunziger Jahre den noch radikaleren Taliban weichen. Mit jedem neuen Regimewechsel erreichten neue Flüchtlingswellen aus Afghanistan die Hansestadt - zuletzt, nachdem Nato-Truppen 2001 den militärischen Kampf gegen die radikalen Islamisten in das Land trugen.
Moskaus Anarchie
"Für ein junges Mädchen in einem muslimischen Land gibt es nur einen guten Freund - das Buch", sagt die heute 42-jährige Nasrin Mofid voller Ironie. Ihre eigene Schulzeit in Kabul empfindet sie als schön, aber langweilig. Zunächst. Dann hört sie von einer Organisation, in der "Frauen mitdiskutieren dürfen" - und ist sofort Feuer und Flamme für die "Frauenorganisation", einen Ableger der herrschenden Kommunistischen Partei. Nasrins Vater, Beamter und Anhänger der Monarchie, ist wenig begeistert, doch die Mutter, eine Lehrerin, überzeugt ihn. Als Nasrin verspricht, Schule und Studium zu beenden, duldet er das Engagement seiner Tochter.
Es ist die Zeit, in der die Welt für eine andere Kabuler Familie endgültig aus den Fugen gerät. Die Rasulis haben hingenommen, dass es seit 1973 keinen König mehr gibt und Afghanistan sich Republik nennt. Sie waren einverstanden gewesen mit ihrem ersten Präsidenten Mohammed Daud Khan - schließlich stammte er aus der gleichen Familie wie Ex-König Mohammed Zahir Schah. Doch dann wurde Daud Khan 1978 ermordet und der Kommunist Mohammed Taraki übernahm die Macht.
Die in Moskau geschulten neuen Herrscher wollen den Afghanen ihre konservativen Werte austreiben. Sie machen sich über deren strenge Erziehungsmethoden lustig, zeigen im Fernsehen ägyptische Filme mit nabelfreien Bauchtänzerinnen. Die Rasulis sind keine besonders strenggläubigen Muslime, die Frauen tragen keine Burka, nicht einmal ein Kopftuch.
Doch was die 15-jährige Nafisa Rasuli 1979 beobachtet, kommt ihr vor wie blanke Anarchie: "Junge Mädchen tranken Alkohol, sie kamen oft erst mitten in der Nacht nach Hause - und die Eltern konnten nichts dagegen tun", erinnert sie sich heute an eine chaotische Schulzeit. Die neue Freiheit wirkt auf viele Afghanen wie das Ende der Welt, auch auf gebildete, weltoffene. Es ist der Nährboden für die Moslem-Rebellen, die bald zum Aufstand und zum "Heiligen Krieg" gegen die gottlose Regierung aufrufen. Bald muss Moskau Truppen schicken, um das kommunistische Regime zu stützen.
Flucht über die Berge
Nafisa studiert im ersten Semester Ingenieurswissenschaften, als sie 1984 ein Stipendium für die Sowjetunion erhält. Ihre Familie aber will nicht, dass sie nach Moskau geht, sie selbst auch nicht. Doch einfach abzulehnen wagen die Rasulis nicht. "Immer öfter haben wir davon gehört, dass Menschen nachts abgeholt wurden und einfach verschwanden", erzählt Nafisa. "'Du musst das Land verlassen'", entscheiden ihre Eltern, "'Du fliegst nach Amerika!'"
Im Autobus bringt ein Cousin die 19-Jährige nach Dschalalabad an die pakistanische Grenze, von dort wollen sie weiter nach Peschawar. Nafisa trägt diesmal einen Schleier. Mit Kalaschnikows bewaffnete Männer halten den Kleinbus wiederholt an. Beim vierten Stopp muss sie aussteigen - allein. Der Bus fährt weiter. Ein mitleidiger Autofahrer nimmt Nafisa mit zurück nach Dschalalabad. Sie macht sich zu Fuß auf den Weg durch das Gebirge, bei sengender Hitze. Nafisa ist am Ende, doch sie muss weiter. Irgendwann erreicht sie Peschawar. Das Warten auf ein Visum für die USA beginnt - und vier Monate vergehen. Nafisas Schwester, die schon in den USA lebt, rät ihr, Pakistan möglichst schnell zu verlassen - es sei kein sicheres Land für sie. Nafisa soll erst einmal nach Deutschland fliegen, dann in die USA.
Im Dezember 1984 kommt Nafisa in Frankfurt an. Noch im Flughafen beantragt sie Asyl. Der Empfang ist freundlich. "Ich hatte überhaupt keine Schwierigkeiten; nicht mit den Gesetzen und nicht mit den Leuten. Sie haben mir sehr geholfen." Nach einem Jahr ist der Asylantrag genehmigt. Ihre Eltern und Geschwister sind aus Afghanistan inzwischen in die USA ausgereist. Dort will sie endlich auch hin. Doch dann der Schock: Die USA nehmen keine Afghanen auf, die bereits in Deutschland Asyl erhalten. Für Nafisa bricht die Welt zusammen.
Geduldet, nicht akzeptiert
In Kabul hat derweil Nasrin, die zielstrebige junge Frauenaktivistin, ihren Weg gefunden. Mit 18 Jahren tritt sie 1985 in die afghanische KP ein, als einzige ihrer Familie. "Ich fand, dass Frauen eine Zukunft haben sollten", erklärt sie heute diesen Schritt, "sie sollten an der Politik teilnehmen und um ihre Rechte kämpfen." Sie organisiert nun selbst Frauenkreise; ihre Organisation hat Nasrin die Verantwortung für 28 Städte anvertraut, die sie betreut, bis die Mudschahidin die Kommunisten aus dem Land treiben und auch Nasrin vor den Moslem-Rebellen fliehen muss. Noch heute hat sie keinen Zweifel: "Menschen wie ich und meine Partei, wir hatten uns eine gute Sache vorgenommen."
Nafisa Rasuli dagegen ist der Preis zu hoch. Sie ist geflohen vor dem ideologischen Ballast, der auf den Bildungschancen für Frauen in Afghanistan lastet. Sie ist in Deutschland. "Das Land hat mir alles geboten, was ein Mensch braucht", sagt sie heute, "ein Zuhause, Geld, Schulausbildung, einen Sprachkurs. Sogar die Möglichkeit, zu studieren." Doch ausgerechnet von dem Bildungsangebot macht sie keinen Gebrauch. "Fünf Jahre lang habe ich nur geweint", erinnert sie sich. "Ich wollte nach Amerika, sonst nichts." Sie heiratet einen afghanischen Exilanten, bekommt zwei Kinder, lässt sich scheiden. Nach zehn Jahren in Deutschland wird Nafisa deutsche Staatsbürgerin - nun kann sie ohne Visum in die USA reisen, wo inzwischen ihre gesamte Familie in Virginia lebt.
Als Nafisa endlich Amerika erreicht, lebt Ram Arenja noch in Kabul. Ob König oder Kommunisten, für den afghanischen Hindu macht das so gut wie keinen Unterschied, solange man ihn seinen Geschäften nachgehen lässt. Und das ist der Fall, denn das Import-Export-Geschäft des 42-Jährigen bringt Devisen ins Land. Etwa 90.000 Hindus leben Anfang der siebziger Jahre in Afghanistan, die meisten in Kabul und Kandahar. Ihre Familien handeln mit Textilien, Rosinen, Tee. Als tüchtige und ehrliche Geschäftsleute sind die Hindus angesehen, auch bei den Muslimen. Streit entzündet sich meist nur, wenn das Gespräch auf die Religion kommt - Hindus sind für Muslime Ungläubige. Ihre Bestattungsriten sind nicht überall geduldet, Hindu-Kinder müssen während des Koranunterrichts vor der Tür sitzen.
Afghanistan an der Elbe
An die Demütigungen des Alltags sind Ram Arenja und seine Glaubensbrüder gewöhnt. Doch als die Kommunisten die Hindus zwingen wollen, auf ihrer Seite im Bürgerkrieg gegen die Mudschahidin zu kämpfen, verlassen viele das Land. Der Abzug der gedemütigten Sowjets macht die Dinge nicht besser, im Gegenteil: Die Lage verschlechtert sich für Hindus dramatisch. Plötzlich tragen alle Männer Bart, beten auf der Straße zu Allah. Hindus sind nicht erwünscht. Dafür bekommen Angehörige der wirtschaftlich erfolgreichen Minderheit öfter mal Post: Erpresserbriefe mit Drohungen gegen Frauen und Töchter.
"Ich habe nie bezahlt", sagt Ram Arenja, "aber die Angst begleitete uns immer". Der Händler will nicht warten, bis seiner Familie etwas passiert. Er lässt im April 1995 Haus, Auto und Geschäft zurück und fährt mit seiner Frau und den vier Kindern mit dem Bus über die pakistanische Grenzstadt Chaman ins pakistanische Karatschi. Dort verspricht jemand, die sechsköpfige Familie nach Europa zu bringen. Wohin, wissen sie nicht, es wird eine Reise ins Ungewisse - bis sie in Frankfurt am Main landen. Es ist ein glücklicher Zufall: Ram Arenjas Bruder lebt in Hamburg. Dort muss er hin.
Anderthalb Jahrzehnte später ist die Hansestadt für Ram Zuhause geworden. Nach Kabul zurückzukehren? Er liebt die afghanische Kultur, genießt es, afghanische Feste zu feiern oder Freunde und Bekannte am Steindamm zu treffen, dort wo sich in Hamburg nahe des Hauptbahnhofs Geschäfte mit afghanischen Spezialitäten aneinanderreihen. Afghanistan selbst aber ist unwirtlich geworden für Hindus. Nur noch geschätzte 3000 seiner Glaubensbrüder harren noch aus, die meisten müssen ihre Religion in der Öffentlichkeit verleugnen.
Verblasst, nicht vergessen
Nach zwei Jahren in Amerika kehrt 1996 auch die Nafisa Rasuli an die Elbe zurück. Der Abschied von der Familie fiel ihr schwer, aber die USA sind nicht mehr ihr Traumland: "Ich hatte richtige Sehnsucht nach Deutschland", gibt sie zu. Sie hat sich längst ausgesöhnt mit der fremden Kultur, schließlich im Jahr 2000 sogar einen Deutschen geheiratet. Kabul ist nicht vergessen, aber die Erinnerung verblasst. Wenn es dort Sinnvolles für sie zu tun gäbe, würde sie schon hinfahren: "Ich würde gern beim Aufbau helfen."
Nasrin Mofid, die Frauenaktivistin, sehnt die Zeit herbei, in der sie und ihre Kinder nach Afghanistan zurückkehren können. Zugleich fürchtet sie die Enttäuschung. Städte, Plätze und Häuser sind vom Krieg zerstört, das Kabul, das sie kennt, existiert nur noch als Bild in ihrem Kopf. "Ich will meine alte Welt nicht verlieren", sagt sie. Durch Hamburg zu spazieren und Landsleute zu treffen - das macht der einstigen Revolutionärin heute nichts mehr aus. "Ich habe viel einstecken müssen, aber ich war selbst auch extrem und sehr aggressiv." Sie diskutiert noch immer gern, aber sie freut sie auch, dass mittlerweile Exil-Afghanen verschiedenster Überzeugungen miteinander über Politik reden, "ohne dass es zum Streit oder zu einer Schlägerei kommt".
5000 Kilometer der Heimat entfernt haben sich die Afghanen von Hamburg zusammengerauft - ob sie dem Schah nachtrauern, dem säkularen Regime der Kommunisten oder der Zeit, als jeder zumindest in Ruhe seinen Geschäften nachgehen konnte. Am Hindukusch dagegen geht das Drama gerade wieder in eine neue Runde. Die Zahl der afghanischen Emigranten in Hamburg, die seit ein paar Jahren sank, ist laut Flüchtlingsrat 2009 wieder stark angestiegen.