
Exzentriker-Kommune von Fiume 1919 Nackte Helden für den "Duce"

- • Kriegsende und Revolution 1918: Elf Tage im November
- • Versailler Vertrag: "Der Krieg in den Köpfen ging weiter"
Es war ein seltsamer Konvoi, der da am 12. September 1919 kurz vor Mittag auf dem Hauptplatz der Adriastadt Fiume Halt machte: 26 keineswegs schmucke Fahrzeuge, darunter auch ein paar rasch entwendete Heereslastwagen. Aber darauf achteten die 2500 wartenden Menschen gar nicht.
Mit gewaltigem Jubel begrüßten sie die Ankömmlinge. Hurrasalven, Lorbeerkränze und zahllose grün-weiß-rote Fahnen, der Anfeuerungsruf "Eia, Eia, Eia - Alalá" und immer wieder die mitreißenden Klänge der Hymne "Giovinezza" (Jugend) - solch ein Fest hatte die Hafenstadt am nordöstlichen Zipfel der Adria noch nicht erlebt.
"Arditi", Draufgänger, nannten sich die Freischärler, die den Ort, das heutige Rijeka, im Handstreich unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Mit der großen Mehrheit der 30.000 Stadtbewohner waren sie sich einig: Fiume, bis dahin ein Teil des ungarisch regierten Kroatien, aber mehrheitlich von Italienern bewohnt, sollte endlich wieder italienisch werden.
Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte es darum Streit gegeben. Nationalistische Heißsporne in Rom, Mailand und anderswo hatten Fiume dermaßen zum Symbol ihres Stolzes aufgebaut, dass Italiens bedrängter Ministerpräsident bei den Friedensverhandlungen in Paris deshalb sogar in Tränen ausgebrochen war - vergeblich.
"Kokain fiel wie Schnee auf das Abendmahl"
Als sein Nachfolger dann einwilligte, Fiume zur neutralen Stadt zu erklären, brach sich die nationale Empörung Bahn. Stichwortgeber und Anführer der Rebellen, die nun mit dem Einzug in Fiume triumphieren konnten, war der Dichter und Abenteurer Gabriele D'Annunzio, ein schillernder Décadent, legendär für erotisch-schwülstige Wortergüsse und tollkühne Militäraktionen.
Berauscht von ihrem Erfolg, inszenierten die Arditi mit "Comandante" D'Annunzio in Fiume ihre Version eines Idealstaats. Wie es dort zuging, hat der Historiker Kersten Knipp in seinem Werk "Die Kommune der Faschisten" mit viel Hintergrundinformationen neu erzählt. Da gibt es zum Beispiel den Bericht des Belgiers Léon Kochnitzky. Als Freund D'Annunzios beteiligte sich der Musiker und Literat an der verwegenen Aktion. In seinem Werk "Die fünfte Jahreszeit oder die Zentauren von Fiume" (1922) schilderte Kochnitzky das Leben im Freistaat als einzigen Rausch:
"Es gab in der Stadt eine Höhle, die ganz mit den Fellen von Eisbären ausgestopft war. Zwischen dichtem Weihrauchnebel wurden dort unzählige Orgien veranstaltet, unterbrochen von satanisch anmutenden Trankopfern. Die künstlichen Paradiese waren von diesem Bild nicht ausgeschlossen. Das Kokain fiel bisweilen wie Schnee auf das Abendmahl, man atmete das noch in den Schädeln dampfende Blut."
"Ungefähr alles", was Europa an Reformern und politischen Eiferern zu bieten hatte, habe sich damals an der Adria versammelt, schrieb Kochnitzky: "Nationalisten und Internationalisten, Monarchisten und Republikaner, Konservative und Syndikalisten, Klerikale und Anarchisten, Imperialisten und Kommunisten".
Ph önix aus der politischen Asche des 19. Jahrhunderts
Bei politischen Debatten sprangen manche erregt auf die Cafétische. Zwar reiste der Vordenker des Futurismus, Filippo Tommaso Marinetti, recht bald wieder ab, aber einen vielversprechenden "futuristischen Rhythmus von Tänzen und freudigem Geschrei" wollte er doch in Fiume beobachtet haben.
D'Annunzio erklärte den Freistaat zur "Cittá di Vita" (Stadt des Lebens); der Ort sei "die einzig glühende Stadt, die einzige Stadt der Seele, ganz Atem und Feuer, ganz Schmerz und Raserei, ganz Reinigung und Aufzehrung" - ein Phönix aus der politischen Asche des 19. Jahrhunderts.
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Beseelt von einem "fieberähnlichen Abscheu für das harte und graue Alltagsleben", so D'Annunzio, habe man bürgerliche "Tugend und Sparsamkeit, Familie, Vorfahren, Religion, Monarchie und Republik" beiseite gewischt, um "in einer Art heroischer Orgie" voller Leidenschaft das schöne Hier und Jetzt zu feiern.
"Liebschaften ohne Ende"
In glühenden Farben verklärte auch der Dichter und D'Annunzio-Jünger Giovanni Comisso die Stadt, in seinen Augen ein wahres Paradies für Bonvivants, Partygänger und Schürzenjäger: "Die Patisserien quollen über von wunderbaren Kuchen", so Comisso. "Jeden Abend luden die Bürger von Fiume die italienischen Offiziere zu Festen ein, die bis in den nächsten Morgen dauerten. Man aß, man tanzte, man trank."
Vor allem aber sei die Stadt "voller hübscher junger Frauen" gewesen, so Comisso - es habe "Liebschaften ohne Ende" gegeben:
"Die Stadt wurde durch das Blut italianisiert. Seitens der Männer gab es keine Eifersuchtsdramen, wohl aber seitens der Frauen. Sie stritten sich um die Italiener. Man sah Arditi, begleitet von Frauen in Militäruniform. Im Durcheinander der Liebe verbreiteten sich Krankheiten. Als ich einmal in ein Krankenhaus kam, um einen Soldaten abzuholen, sah ich die Abteilung zur Behandlung für Geschlechtskrankheiten."
Auch der Abenteurer Guido Keller gehörte zum Inventar der exaltierten Kommune an der Adria. Der Spross einer aus der Schweiz stammenden Patrizierfamilie war wie D'Annunzio von der Fliegerei besessen, wie dieser ein Bücherfex und zugleich den Ursprünglichkeitsidealen der Freikörperkultur ergeben.
Keller zeigte sich oft in Pyjama und Pantoffeln; abseits des Zentrums bewegte sich der stadtbekannte Exzentriker am liebsten völlig hüllenlos. Fasziniert von der körperlichen Schönheit junger Hafenarbeiter, rekrutierte Keller aus ihnen die Leibgarde des "Duce" D'Annunzio.
Pressefreiheit, Gleichberechtigung, Grundeinkommen
"Die meisten stellten ihre Eigenart zur Schau, pflegten Spielarten des Dandytums und dekadenten Raffinements", resümiert Giordano Bruno Guerri, italienischer Historiker und D'Annunzio-Biograf. Sie traten "in einem von D'Annunzio geschaffenen Drehbuch des Erotismus und der schönen Gesten auf".
Allein, die paradiesische Hochstimmung hielt nicht lange. Zwar gab sich Fiume ein Jahr nach der Okkupation sogar eine Verfassung, nach der die Presse frei war, Frauen wählen durften, Drogenkonsum und Homosexualität straffrei waren. Zudem garantierte die "Italienische Regentschaft am Quarnero" jedem Bürger eine freie medizinische Versorgung und ein Grundeinkommen. Ein Staatskult wurde dekretiert, ja sogar ein Tempel dafür entworfen.
Doch die Wirtschaftslage verschlechterte sich immer mehr. Italien und das Balkanreich hatten sich über die Grenzziehung verständigt; einträchtig blockierten sie den Rebellenhafen. Am 21. Dezember 1920 zogen die verbitterten, wiewohl keineswegs verzagten Arditi die äußerste Konsequenz und erklärten Italien den Krieg.
Ihr Heldenmut hielt allerdings nur drei Tage vor. Als das italienische Schlachtschiff "Andrea Doria" die ersten Salven auf den Ratspalast von Fiume feuerte, begriffen auch die verwegensten unter den Besatzern, dass ihr fröhliches Gemeinwesen keine Zukunft haben konnte. Das einzigartige Experiment an der Adria endete ebenso unvermittelt, wie es begonnen hatte.
Es blieb nur der Gestus martialischer Begeisterung: Zackige Aufmärsche in Schwarzhemduniform, kultische Einheitsbeschwörungen, der Gruß mit erhobenem rechtem Arm, feurige Kampfparolen. All das wirkt im Nachhinein wie die Generalprobe der faschistischen Choreografie. Die fand in Benito Mussolini ihren eigentlichen "Duce" - und sollte schon 1922 in seinem "Marsch auf Rom" einschneidende Folgen für Italien und Europa bewirken.
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Zankapfel: Fiume, das heutige Rijeka, war und ist eine der wichtigsten Hafenstädte an der nördlichen Adria (Bild um 1920). Der italienische Dichter Gabriele D'Annunzio machte sie 1919 zu einer Testregion des Faschismus - mit rund 2000 Freischärlern brachte er Fiume
Willkommener Staatsstreich: Die italienischen Freischärler wurden bei ihrer Ankunft am 12. September 1919 in den Straßen von Fiume begeistert gefeiert. Von den rund 30.000 Einwohnern der Stadt war die Mehrheit italienischer Herkunft. Entschieden traten sie für den Anschluss Fiumes an Italien ein und verwahrten sich dagegen, dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zugesprochen zu werden.
Der "Comandante": Gabriele D'Annunzio spricht in Fiume vor Mitstreitern und Einheimischen. "Niemals gab es in der Weltgeschichte eine eindrucksvollere und zukunftsreichere Komödie", urteilte der Historiker Ernst Nolte 1963 über das Experiment Fiume.
Herrschaft der "Kühnen": Mit martialischen Posen feierten sich die "Arditi" (Italienisch "ardito", kühn, verwegen) nach ihrem erfolgreichen Einmarsch in Fiume. Entstanden ist das Foto am 2. Oktober 1919. Die Stadt hatte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zur ungarischen Hälfte der Habsburger-Monarchie gehört. Bei den Friedensverhandlungen von Paris beschlossen die Diplomaten, dass Fiume an das neu gegründete Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen fallen sollte. Im November 1920 schließlich verständigte sich die Regierung in Rom mit dem Königreich im Grenzvertrag von Rapallo darauf, Fiume zu einem "unabhängigen Freistaat" zu erklären.
"Fiume ist ein Leuchtturm, erstrahlend inmitten eines Meeres der Niederträchtigkeit": Ausnahmezustand in der von Dichter D'Annunzio eroberten Hafenstadt. Aufmärsche prägten die ersten Tage und Wochen der Besatzung. Als eine Art Dauerparty schilderte der Dichter Giovanni Comisso die Zustände in der Stadt: "Man aß, man tanzte, man trank." Vor allem aber sei die Stadt "voller hübscher junger Frauen" gewesen, so Comisso - es habe "Liebschaften ohne Ende" gegeben.
Selbsternannte Helden in Siegerlaune: Drei Arditi-Kämpfer in Fiume demonstrieren der Kamera stolze Entschlossenheit. Ihr Schlachtruf: "Fiume o Morte!" - "Fiume oder Tod". In schillernden Farben schilderte der Belgier Léon Kochnitzky das Leben im Freistaat: "Zwischen dichtem Weihrauchnebel wurden dort unzählige Orgien veranstaltet, unterbrochen von satanisch anmutenden Trankopfern. (...) Das Kokain fiel bisweilen wie Schnee auf das Abendmahl, man atmete das noch in den Schädeln dampfende Blut."
Fantasie-Fahne: Stolz präsentieren die Rebellen das Banner, das sie sich für ihre "Republik Fiume" zugelegt haben. Ihr Anführer, der Dichterfürst Gabriele D'Annunzio hatte den Freistadt zur "Cittá di Vita" (Stadt des Lebens) verklärt, "die einzig glühende Stadt, die einzige Stadt der Seele, ganz Atem und Feuer, ganz Schmerz und Raserei, ganz Reinigung und Aufzehrung".
Kranker Revoluzzer: Gabriele D'Annunzio als Staatschef von Fiume. Das Foto entstand am Tag der Annexion der Adria-Hafenstadt am 12. September 1919. Der Dichter war von hohem Fieber geplagt, was ihn nicht daran hinderte, am Abend auf der Terrasse des Stadtpalasts seine erste Rede zu halten. "Italiener von Fiume", begann er. "Hier bin ich."
"Italien oder Tod": Mit markigen Parolen plakatierten die Anhänger D'Annunzios die Häuserwände in der Stadt. Der kleingedruckte Spruch ("Chi Fiume ferisce di Fiume perisce") bedeutet so viel wie: "Wer Fiume verletzt, wird durch Fiume umkommen."
Italiener gegen Italiener: Rechts ein Freischärler auf der Seite von Fiume, links Soldaten der offiziellen italienischen Armee - am Schlagbaum standen sich während der Regentschaft D'Annunzios Angehörige der gleichen Nation gegenüber.
Am liebsten hüllenlos: Lebensreformer und D'Annunzio-Anhänger Guido Keller posierte in Fiume gern nackt, hier mit dem Dreizack des Meeresgottes Neptun. Keller war in der Hafenstadt zuständig für die Sicherheit des "Comandante" - aus jungen Hafenarbeitern rekrutierte er die Mitglieder für D'Annunzios Leibgarde. Zudem gründete Keller in Fiume unter anderem einen Yoga-Kreis.
Überzeugter Nudist: Freizügigkeit gehörte zu D'Annunzios sorgsam gepflegtem Image - hier ein Strandbild aus den 1880er Jahren. "Nackt zu sein - im absoluten Fehlen einer körperlichen Scham fühle ich, dass ich wirklich bis aufs Mark in den Hellenismus eingedrungen bin und dass ich in Athen hätte geboren werden sollen und die Jugend in den dortigen Sportstätten hätte ausleben sollen", schrieb D'Annunzio 1885. Auch im Freistaat Fiume war FKK nichts Ungewöhnliches.
Lyriker bei der Lektüre: Mit üppig-orientalischen Interieurs hatte der aufstrebende Décadent D'Annunzio seine literarische Feier der Sinne untermalt - hier in seinem Domizil Mammarella in Francavilla al Mare, um 1895. D'Annunzio, geboren 1863 in Pescara, arbeitete zunächst als Journalist, bevor er mit der Schriftstellerei begann. Seit seinem Roman "Il piacere" (Lust) von 1889 war er europaweit bekannt. Schon als 14-Jähriger war sein fiebriger Patriotismus erwacht - bereits damals wollte D'Annunzio "Italiens Feinde hassen und sie bekämpfen", wie er schrieb.
Enfant terrible der italienischen Literaturszene: 1913 lieferte Dichter Gabriele D'Annunzio, für neueste Trends stets aufgeschlossen, das Drehbuch für den erotischen Film "Cabiria", dessen Handlung in der Antike spielte.
"Lernt die Italiener kennen": Gabriele D'Annunzio (M.) und seine Fliegerkameraden 1918 nach ihrem erfolgreichen Propagandaflug über Wien. Am 9. August flog der Dichter mit Gleichgesinnten über die Hauptstadt des Kriegsgegners, wo sie 350.000 Flugblätter abwarfen. Der Text begann mit den Sätzen: "WIENER! Lernt die Italiener kennen. Wenn wir wollten, wir könnten ganze Tonnen von Bomben auf eure Stadt hinabwerfen, aber wir senden euch nur einen Gruss [sic] der Trikolore, der Trikolore der Freiheit."
Politik als rauschhafte Extase: "Menge, um ein Reiterdenkmal versammelt", heißt diese Tuschezeichnung, angefertigt 1908 von dem futuristischen Bildhauer Umberto Boccioni. Den rechten Arm fanatisch in die Höhe gereckt, huldigen die Menschen ihrem Führer, eine Frau hat sich vor Leidenschaft ihrer Kleidung entledigt - so stellte sich Boccioni den idealen Polit-Kult vor. Wie zahlreiche andere Künstler des Futurismus stand auch der Bildhauer der faschistischen Bewegung nahe. Beim Experiment Fiume konnte Boccioni nicht mehr mitwirken - er starb 1916 bei einem Sturz vom Pferd.
"Ende des Abenteuers der Republik Fiume": So betitelte die Pariser Zeitung "Le Petit Journal" den hier dargestellten Einmarsch der italienischen Truppen in der Hafenstadt. Sie übernahmen am 9. Januar 1921 das Kommando.
Annexion durch die Faschisten: 1922 putschten die Schwarzhemden - zwei Jahre später wurde die Stadt an Italien abgetreten. Zum Festakt reiste 1924 auch Italiens König Viktor Emanuel III. an - hier begrüßt ihn Stadtkommandant General Giardino (Mitte).