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Abschiebung aus der DDR: Eine Familie erpresst die Stasi

Foto: Uwe Gerig

Abschiebung aus der DDR Eine Familie erpresst die Stasi

Nach seiner Flucht im Herbst 1983 trickste Fotojournalist Uwe Gerig die Stasi aus, um die Ausreise seiner erwachsenen Tochter zu erzwingen. Über ihre "Geiselhaft" werde der SPIEGEL vor einem West-Besuch Honeckers berichten, erfand er in einem Brief. Die Spitzel lasen mit - und Gerigs Plan ging auf.

Bei einem Urlaub an der Adria setzten sich meine Frau und ich im Oktober 1983 von einer Gruppe staatstreuer Touristen aus der DDR ab. Unsere lange und minutiös vorbereitete Flucht von Erfurt über Jugoslawien nach Frankfurt am Main war nach zehn nervenaufreibenden Tagen zu Ende. Unsere Tochter, damals 21 Jahre alt, hatten wir jedoch als "Pfand" der Stasi in der DDR zurücklassen müssen. Sofort nach unserer Ankunft in der Bundesrepublik setzten wir alle Hebel in Bewegung, um Gabys Ausreise zu erreichen.

Monatelang hatten wir in Erfurt gemeinsam alles besprochen. Gaby, die Pädagogik in Magdeburg studierte, wollte auch nicht länger im Land bleiben. Doch die Behörden würden sie nicht so einfach "aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen", wenn den Eltern die Flucht gelänge. Wir hatten ein Szenario dafür entwickelt, wie sie sich verhalten müsste, wenn die Vernehmer der Stasi sie als "Zeugin" befragen würden. Sie musste unbedingt glaubhaft machen, dass sie nicht in die Fluchtpläne eingeweiht war. Ansonsten hätten ihr mindestens drei Jahre Haft wegen "Mitwisserschaft" gedroht.

"Und wenn die mir nicht glauben?"

Das Szenario übten wir wochenlang wie ein Theaterstück:

"Wir werden dir ein Telegramm nach Magdeburg an die Hochschule schicken, in dem wir dir mitteilen, dass wir unsere 'Reise in Frankfurt beenden'. Dieses Telegramm solltest du überall herumzeigen und die Fassungslose spielen. Meine Eltern sind abgehauen! Wie konnten die das nur tun? Ohne mir etwas davon zu sagen! Überall muss der Eindruck entstehen, dass Du von unserer Flucht keine Ahnung hattest. Das ist ganz wichtig!“

"Und wenn die mir nicht glauben?"

"Die werden dir glauben, wenn du viele Tränen vergießt und immer wieder sagst, du könntest das alles nicht verstehen. Warum haben die Eltern mich nur alleine gelassen?"

"Auf jeden Fall musst du nach Erhalt des Telegramms sofort von Magdeburg nach Erfurt fahren und dort in der Wohnung bleiben."

"Warum das? In Magdeburg finden die mich doch nicht so schnell!"

"Irgendwann, spätestens am fünften Tag nach der Entdeckung unsere Flucht, wird die Stasi in Erfurt davon erfahren, unsere Wohnung durchsuchen und dann versiegeln. Wenn du dann schon in der Wohnung bist, können sie dich nicht hinauswerfen."

Denn nach dem Rechtsverständnis der DDR galt Gaby in diesem Fall zunächst nur als "Zeugin". Erst wenn ihr eine Mittäterschaft nachgewiesen werden könnte, käme sie sofort ins Gefängnis. Das wollten wir durch unsere Vorbereitungen unbedingt vermeiden.

Stasi-Mann mit Rechtschreibschwäche

Nachdem unsere Flucht trotz einiger Probleme geglückt war, riefen wir Gaby am 20. Oktober wie geplant aus Frankfurt am Main an. Sie war in unserer Erfurter Wohnung. Noch war die Stasi nicht bei ihr aufgekreuzt. Das geschah erst fünf Tage später.

Zwölf Stasi-Beamte und ein Staatsanwalt durchsuchten am 25. Oktober mehrere Stunden lang unsere Wohnung und nahmen alles mit, was sie tragen konnten: Kalender, Fotoalben, Bücher. Am Vormittag wurde Gaby vier Stunden lang verhört. Wie einstudiert gab unsere Tochter die Ahnungslose. Am Telefon erzählte sie anschließend locker, wie alles abgelaufen war. "Na, am Dienstag haben mich zwei Männer abgeholt und mit dem Auto in die Andreasstraße gefahren. Dort hat mich so ein Typ vier Stunden lang verhört. Was der alles wissen wollte! Vor allem hat den interessiert, wie eure Freunde und Bekannten in Frankfurt heißen. Aber die kenne ich doch nicht, habe ich geantwortet. Ich studiere doch in Magdeburg und bin selten bei meinen Eltern in Erfurt. Wie soll ich da solche Sachen wissen. Der Typ hat alles mit Handschrift auf einem Blatt Papier festgehalten. Das sollte ich dann anschließend unterschreiben.

Das unterschreibe ich nicht, habe ich dem Typen gesagt. Geben Sie mir einen Stift, dann korrigiere ich erst mal Ihre Rechtschreibfehler. So sieht das ja grauenhaft aus! Auf den fünf Blättern habe ich dann alle seine Fehler verbessert. Der saß ganz bedeppert dabei."

"Und dann haben sie dich wieder laufen lassen?"

"Die haben mich zurück in die Wohnung gefahren. Unterwegs haben sie immer wieder gefragt, was ich jetzt machen will. Ich habe gesagt, dass ich das nicht weiß, weil es ja für mich so überraschend ist. Ich müsse erst mal nachdenken."

Wir wussten, dass die Stasi mithörte, jedes Telefonat auf Band aufnahm und es anschließend auswerten würde. Deshalb durften wir uns beim Telefonieren keine Sentimentalitäten erlauben.

Ich sagte Gaby noch, dass wir einen wichtigen Einschreibbrief an sie abgeschickt hätten. Sie wusste, was in dem Brief stehen würde, auch das hatten wir besprochen. Den Brief sollte die Stasi lesen. Das klappte. Einige Tage danach durchsuchten zwei Stasi-Leute erneut unsere Wohnung und fanden, was sie finden sollten: das Blatt, auf dem wir unserer Tochter die Beweggründe für unsere Flucht erläuterten und uns entschuldigten, dass wir sie aus Sicherheitsgründen nicht einweihen konnten.

Wir hatten dieses Blatt im Beisein von Gaby mehrere Wochen vor der Flucht beschrieben und dann gemeinsam im Fotoarchiv in der Negativhülle mit der aufgedruckten Nummer 250162, Gabys Geburtstag, versteckt. Nun hatte die Stasi den schriftlichen Beweis in der Hand, dass die Eltern ihre Tochter verlassen hatten, ohne sie zu informieren. Gaby konnte nicht als Mitwisserin belangt werden.

Gezielte Falschinformationen

Wir waren sehr beruhigt. Und Gaby gewann an Selbstvertrauen in der für sie schwierigen Situation. Die Stasi schaltete das Telefon in unserer Wohnung nicht ab, weil sie mithören wollte. Jeder Brief von uns wurde beschlagnahmt. Wir hatten also zwei Möglichkeiten, der Stasi Informationen zu übermitteln.

Für uns stand fest, dass wir die Stasi erpressen würden. Durch meine jahrelange Tätigkeit als Reporter bei der Ostberliner Illustrierten NBI kannte ich das System, dem wir gerade entkommen waren. Auch die Denkweise vieler hoher Funktionäre in diesem System war mir geläufig. Alle wollten ihre Positionen und damit gewisse Privilegien bewahren. Jeder hatte Angst, einen Fehler zu begehen und sich dafür ganz oben rechtfertigen zu müssen. Wir müssten also die Wichtigen beim Staatssicherheitsdienst mit immer neuen Informationen überhäufen, von denen sie annehmen würden, dass sie echt seien und dem ganzen System schaden könnten. Nicht einen Nadelstich, sondern viele Nadelstiche müssten wir anbringen. Immer wieder. Und immer an anderen Stellen. Dann würden sie ihre Geisel Gaby ziehen lassen.

1983 gab es bei den Höchsten im System nur ein Thema: der Allerhöchste, nämlich Erich Honecker, wollte zu einem Staatsbesuch in seine Heimat, das Saarland, aufbrechen. Noch blockierten seine sowjetischen "Freunde" Pläne für eine solche Reise in die "BRD", weil sie argwöhnten, dass ein deutsch-deutsches Sonderverhältnis entstehen könnte. Aber es würde wohl nur noch wenige Wochen dauern, bis die letzten Hindernisse beseitigt wären.

Bis dahin dürfte aber nichts Außergewöhnliches passieren. Vor allem sollte es keine negativen Berichte und Schlagzeilen über Honecker und dessen Mauerstaat geben. Neue Todesopfer an den innerdeutschen Sperranlagen oder Ausreisewillige, die sich im Westen besonders lautstark Gehör zu verschaffen suchten, dürfte es nicht geben. Der Staatssicherheitsdienst würde auf Samtpfoten schleichen.

Das alles hatten wir in unserem Szenario einkalkuliert. Gaby wurde vom Staatssicherheitsdienst ganz offen beschattet. Sobald sie das Haus verließ, folgten ihr zwei Zivilisten. Trotzdem übermittelte Gaby uns per Post regelmäßig Nachrichten. Freunde schickten die Briefe außerhalb von Erfurt ab. Alles konnte die Stasi nicht überwachen. Wenn wir mehrmals in der Woche telefonierten, kalkulierten wir immer ein, dass wir abgehört wurden. Dabei konnten wir Informationen übermitteln, die die Stasi verunsichern sollten.

Bilder unbequemer DDR-Tristesse

Bei der Auswertung meines beschlagnahmten Fotoarchivs mit ungefähr 80.000 Farbdias und Negativen musste die Stasi bemerkt haben, dass etwa 3000 Sichthüllen leer waren. Dieses Material, vor allem Alltagsszenen aus dem grauen Osten, hatte ich zuvor heimlich in den Westen geschmuggelt. Damit pokerte ich jetzt in den Telefonaten. Eher beiläufig erzählte ich Gaby und damit der Stasi, dass ich gerade beim SPIEGEL und beim "Stern" in Hamburg gewesen sei, die vor dem Honecker-Besuch große Reportagen mit meinen Bildern bringen wollten. Ihre "Geiselhaft" werde darin zur Sprache kommen. Es war alles gelogen.

Per Post lieferte ich regelmäßig "Beweise": mal einen Besucher-Anmeldeschein vom SPIEGEL (wo ich tatsächlich gewesen war), mal einen in der Schweiz abgestempelten Brief, in dem ich ausführlich über einen Besuch bei der UNO-Menschenrechtskommission in Genf schwadronierte.

Anfang November stellte Gaby planmäßig ihren "Ausreiseantrag", nachdem sie zuvor ihren Stasi-Bewachern mitgeteilt hatte: "Wenn Sie mich hier dauernd verfolgen, bleibt mir nichts anderes übrig, als das Land zu verlassen!" Kurze Zeit später stellte die Stasi die demonstrativ offene Beschattung unserer Tochter ein. Sie hatten offensichtlich andere Möglichkeiten gefunden, um sie "unter Kontrolle zu halten", wie das in ihrem Jargon hieß.

Über das Telefon und in unseren Briefen aus Frankfurt gaben wir immer neue Informationen über unsere angeblichen Aktivitäten weiter. Das Fernsehmagazin "Kennzeichen D" habe mit uns vor der Berliner Mauer einen Beitrag gedreht, auch Richard Löwenthal vom ZDF würde berichten. Postkarten aus Berlin und Mainz als Belege.

In Bonn waren wir tatsächlich beim innerdeutschen Ministerium. Die machten uns wenig Hoffnungen auf eine baldige "Familienzusammenführung" oder gar einen "Freikauf". Wir behaupteten in einem Brief an Gaby das Gegenteil. Dann schickten wir ihr noch die Kopie eines freundlichen Schreibens von Philipp Jenninger, Staatsminister beim Bundeskanzler, der sich in unserer Angelegenheit verwenden wollte. Auch die englische Fassung unserer Anzeige bei der UN-Menschenrechtskommission landete bei der Stasi.

Glückliches Ende: Abschiebung aus wichtigem Grund

Wir hofften, sie würden Gaby vor Weihnachten ausreisen lassen. Aber es passierte nichts.

Unsere Tochter teilte nur mit, die Stasi würde sie nicht mehr belästigen. Was wir damals nicht wissen konnten und erst zehn Jahre später in unserer Stasi-Akte lasen: Am 12. Dezember 1983 empfahl die Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt dem Ministerium eine "Sonderauflassung", sollte heißen: Abschiebung aus wichtigem Grund.

Am 20. Januar 1984 kam unsere Tochter in Frankfurt am Main an.

Zum Weiterlesen:

Uwe Gerig: "Stiller Sieg nach neunzig Tagen: Protokoll einer Selbstbefreiung im geteilten Deutschland". Shaker Media Verlag, Oktober 2013, 292 Seiten.

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