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Flucht aus der DDR: Neues Lager, neues Glück

Foto: Detlev Crusius

Flucht aus der DDR Neues Lager, neues Glück

Als Stalin starb, fasste Familie Crusius ihren Entschluss: Raus aus der DDR. Detlev Crusius war damals elf Jahre alt. Mit der offiziellen Empfehlung seiner Lehrerin reiste er nach Berlin. Doch statt sich die Stalinallee anzusehen, stieg die Familie in eine andere Bahn.

Kurz nach Stalins Tod 1953 und kurz vor dem 17. Juni haben wir der DDR den Rücken gekehrt. Wir, das waren meine Mutter, mein Vater, meine beiden Schwestern und ich. Ich war damals elf Jahre alt und lebte in Güstrow (Mecklenburg-Vorpommern). Ich hatte erlebt, wie Leute abgeholt wurden und auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Man konnte über die DDR denken, wie man wollte, man konnte alles schlecht finden, alles gut oder nur teilweise gut und den Rest schlecht, nach meiner Meinung hat man nur zwei Möglichkeiten in so einem Staat, und das gilt damals wie heute: Man mischt möglichst weit oben in der Hierarchie mit oder man haut ab. Meine Eltern hatten sich Anfang 1953 für die zweite Variante entschieden. Das war nicht vaterländisch und schon gar nicht heldenhaft, aber pragmatisch.

Es gab zu Hause merkwürdige Anzeichen, Veränderungen, die ich nicht einordnen konnte, meine Eltern wurden geheimnisvoll, sie hörten auf zu reden, wenn ich dazu kam, ständig wurde bei uns getuschelt. "Juden im Schiff", sagte meine Mutter immer, wenn ich ins Zimmer kam. Dieser Spruch hatte seinen Ursprung in einem großen Plakat aus der Nazi-Zeit, wo der Erzfeind, natürlich ein Jude, dabei erwischt wurde, wie er die guten Deutschen belauschte.

Ein Magengeschwür als Deckmantel

Dann bemerkte ich, dass meine Mutter viel einkaufte, sie verschwendete unsere kostbaren Lebensmittelmarken! Ich stellte Fragen, wollte wissen, was sich bei uns verändert hätte. Nach ein oder zwei Bedenktagen hat mein Vater es mir erzählt. Unsere Flucht in den Westen war geplant. Mein Vater sagte: "Junge, wir gehen weg, ich habe einen besseren Platz für uns gefunden." Ein Junge, der alles weiß, ist wohl nicht so gefährlich, wie einer mit Halbwissen und zu viel Phantasie.

Mein Vater war magenkrank, hatte ein Magengeschwür, und das war der Deckmantel, unter dem das ganze Vorhaben ablief, sozusagen die Kulisse. Er sollte auf ärztliche Verordnung in Bad Saarow eine gesundheitsfördernde Kur machen, damit er wieder fit wurde für den Aufbau und den Sieg des Sozialismus im neuen Deutschland.

Es war April, kurz nach Stalins Tod und kurz vor den Ferien, noch Schulzeit. Meine Mutter ersuchte meine Klassenleiterin um einen Gesprächstermin und wir erschienen beide in der Schule. Meine Mutter schilderte die Krankheit meines Vaters, den notwendigen Kuraufenthalt, und die ganze Familie wollte ihn auf der Fahrt nach Bad Saarow begleiten. Und ich, der Thälmann-Pionier, sollte bei dieser Gelegenheit die Stalinallee besichtigen!

Die Rote Hilde

Welche großartige Gelegenheit, meinen noch unterentwickelten sozialistischen Horizont zu erweitern, befand meine Klassenleiterin, die Rote Hilde. Und weil ich so fest auf dem Boden der DDR stand, sollte ich die Stalinallee besichtigen dürfen und ein paar Tage früher als üblich meine Ferien antreten, auf Empfehlung der Schule, mit einer schriftlichen Erlaubnis der Schule in der Tasche.

Die schriftliche Erlaubnis der Schule war wegen der vielen Kontrollen auf dem Weg nach Berlin sehr wichtig. Diese Kontrollen mussten sein, sagte die Rote Hilde, denn es gebe eine permanente Gefahr durch Konterrevolutionäre und der ständig aus dem Adenauer-Staat einsickernden Revanchisten. "Wir müssen alle sehr wachsam sein", sagte die Rote Hilde.

Der Tag der Abreise, der Tag der Flucht kam. Wir wollten in zwei Gruppen gehen. Erste Gruppe: mein Vater, meine Schwester Heliane und ich. Zweite Gruppe einen Tag später: meine Mutter und meine jüngste Schwester Christine. Zwei Gruppen deshalb, weil fünf Personen zu viel waren, aufgefallen wären.

Uniformen? Zum Heulen!

An besagtem Tag fuhren wir, die erste Gruppe, mit dem Zug Richtung Berlin. Der Großraum Berlin war auch im Osten weiträumig abgesperrt, der Zugang wurde von der russischen Armee abgeschirmt und kontrolliert. An der Grenze nach Berlin hielt der Zug auf freier Strecke. Der Haltepunkt war mit einem großen schwarzen "H" aus Dachpappe gekennzeichnet, die man auf Holz genagelt hatte. Russische Soldaten und deutsche Volkspolizisten bestiegen den Zug, endloses Warten begann.

Ich sah, wie einzelne Reisende aussteigen mussten und abgeführt wurden. Alles Konterrevolutionäre und Revanchisten, sagte ich zu den Mitreisenden im Abteil, die alle pflichtschuldig nickten. "Halt den Mund du Rotzlöffel", sagte mein Vater. "Genosse, auf den Jungen kannste stolz sein", sagte ein Mitreisender zu meinem Vater, der gar kein Genosse war. Alle waren sehr nervös.

Dann ging unsere Abteiltür auf, ein russischer Soldat und ein deutscher Volkspolizist kamen ins Abteil, ein zweiter Russe blieb vor der Tür stehen. Die beiden Russen waren mit Kalaschnikows bewaffnet, der Deutsche war unbewaffnet. "Dokumente!", sagte der russische Soldat. Der Deutsche sagte nichts, meine kleine Schwester Heliane sah die Uniformen und fing an zu heulen, wie sie das immer machte, wenn sie Uniformen sah.

Flucht in der U-Bahn

Wir gaben unsere Ausweise ab, ich die Bescheinigung meiner Schule, die mich zur Besichtigung der Stalinallee berechtigte, mein Vater seine Krankenunterlagen. Alles gelesen und kontrolliert, der Deutsche war nur Dekoration, vielleicht auch Dolmetscher. Aber es gab nichts zu dolmetschen. Der Russe knallte ein paar Stempel auf unsere Papiere, dann verließen sie das Abteil.

Als die Soldaten nicht mehr zu sehen waren, sackte mein Vater erschöpft und kreideweiß auf seinem Sitzplatz zusammen. Ich sagte zu meiner Schwester: "Kannst jetzt aufhören mit der Heulerei, ist wieder alles gut." Meine Schwester sah mich mit ihren teetassengroßen Augen an und fragte hoffnungsvoll: "Hast du Bonbons?" "Nein", musste ich ihr erklären. Sie stecke ersatzweise den Daumen in den Mund und schlief ein.

Nach mir endlos vorkommender Wartezeit setzte der Zug sich wieder Richtung Berlin in Bewegung. Im Berlin von damals gab es die S-Bahn und die U-Bahn, wie heute auch. Aber nur die U-Bahn hielt im West- wie auch im Ostsektor. Um jetzt in den Zug nach Bad Saarow zu kommen, hätten wir auf östlichem Gebiet weiterfahren müssen, um dann dort in den Zug zu steigen. Wir aber stiegen auf der falschen Bahnsteigseite in die U-Bahn und fuhren in Richtung Westen.

"Sieh mal, Coca-Cola-Reklame!"

Die U-Bahnstation "Friedrichstrasse" war der letzte Bahnhof auf östlichem Gebiet. Die U-Bahn hielt, Vopos - Volkspolizisten - und russische Soldaten kamen zur Kontrolle in den Wagen, einige Mitreisende verließen ziemlich hastig den Wagen und rannten zum Ausgang. Die Vopos gingen durch den Wagen, sahen jeden Fahrgast aufmerksam an, die russischen Soldaten blieben an den Türen stehen.

Aber wir wurden nicht kontrolliert. Die Vopos stiegen wieder aus und die U-Bahn fuhr weiter. Nach kurzer Zeit sagte mein Vater: "Sieh mal, da hängt überall Coca-Cola-Reklame, jetzt sind wir im Westen." Am Bahnhof Zoo stiegen wir aus, Onkel Richard und Tante Anne erwarteten uns. Ich sah beide das erste Mal in meinem Leben. Sie waren damals, bei unserer Flucht aus Pommern, 1945, schneller gerannt als wir, sie waren schon ein paar Jahre länger im Westen.

Wir blieben diese Nacht bei meiner Tante und schliefen schlecht auf dem Sofa und auf dem Fußboden, ihre Wohnung war sehr klein.

Familienstreit im Westen

Am nächsten Tag holten wir meine Mutter und meine jüngste Schwester am Bahnhof Zoo ab. Kontrollen? Nein, es gab keine Kontrollen.

Von einem dicken Problem bekam ich erst jetzt etwas mit. Onkel Richard hatte meinem Vater eine Arbeit in Hamburg besorgen wollen, hatte auch behauptet, er hätte was gefunden, deshalb hätten wir sofort nach Hamburg ausreisen können, ohne die Zwischenstation im Flüchtlingslager. Und nur deshalb, so war es wohl, waren meine Eltern überhaupt aus der DDR abgehauen. So sagten sie jedenfalls jetzt, und Onkel Richard hatte alles versaut.

Meine Mutter wollte sofort wieder zurück in die DDR. Ohne Arbeit, ins Lager? Niemals! Mein Vater: Zurück in die DDR und vielleicht in den Knast? Niemals! Meine Mutter wollte alleine zurück, uns Kinder mitnehmen. Nein, die Kinder bleiben hier im Westen. Tante Anne keifte Onkel Richard an, der war jetzt ein "Dösbüddel", weil er das mit der Arbeit versaut hatte. Onkel Richard sagte, so schlimm ist das nun auch nicht im Lager, und in der DDR war es plötzlich auch nicht mehr so schlimm, jetzt, wo Stalin tot ist, meinte meine Mutter, also doch besser wieder zurück.

Flüchtlingslager statt Wohnung

Mich fragte zwar keiner, aber ich sagte trotzdem: "Ich kann nicht zurück, ich habe die Stalinallee noch nicht gesehen und außerdem will ich nach Afrika." "Halt den Mund, Rotzlöffel", sagte Tante Anne. Meine beiden Schwestern heulten und Onkel Richard sagte: "Hört auf, ich kaufe jedem von euch einen Löwen." Und zu mir sagte er: "Dir kaufe ich eine Pistole, die brauchst du in Afrika." Wir blieben in Westberlin. Zu den Löwen für meine Schwestern und zu meiner Pistole ist es zwar nie gekommen, aber wir blieben im Westen.

Am nächsten Tag gingen wir zur zentralen Registrierung für Flüchtlinge. Damals kamen in Spitzenzeiten bis zu 1.500 Menschen jeden Tag aus dem Osten, teils über Berlin, teils über die grüne Grenze, ein Exodus, den die östlichen Behörden unmöglich aufhalten konnten. Die Schlange der Flüchtlinge zum Registrierungsbüro war endlos lang. Sie ging um den ganzen Häuserblock, über mehrere Straßen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir da gewartet haben. Aus einem Wagen vom Roten Kreuz gab es zwischendurch etwas zu Essen und zu Trinken. Ein paar ältere Leute kippten trotzdem um, vor Schwäche oder vor Hunger, wurden abtransportiert. Endlich waren wir registriert und wurden mit einem Bus ins Flüchtlingslager transportiert.

Grau-brauner Alltag im Lager Berlin

Mein Vater bekam den Flüchtlingsausweis "A", weil er Geheimnisträger war, weil er bei der DHZ in Güstrow die paar Säcke mit Grieß, Zucker, Reis und die Margarine gezählt und verwaltete hatte. Und weil er den Amerikanern verriet, wie viele (oder wenige) Säcke und Margarine das für den Bezirk Güstrow waren. Das war Geheimnisverrat und jetzt wurde er politisch verfolgt. Deshalb war er jetzt ein "Politischer", fast so etwas wie ein Spion.

Willkommen in Absurdistan. Osten wie Westen, der Irrsinn ist überall.

Die vorherrschende Farbe im Flüchtlingslager in Berlin war braun. Die halbrunden Wellblechbaracken waren von innen braun gestrichenen und von außen braun verrostet. In jeder Baracke standen endlos lange Reihen dreistöckiger Betten. Graue Bettwäsche, braune Decken, zentrale Waschplätze und Toiletten; die Kantine war in einer separaten Baracke, auch braun. Die Teller waren aus Blech, nicht braun, sondern aluminiumgrau. Die Kantine war zu klein für alle Lagerinsassen, deshalb mussten wir gruppenweise essen gehen. Wenn wir dran waren, sagte meine Mutter: "Kommt, wir gehen zum Dinner ins Ritz." Mir machte das alles nichts aus, für mich war das ein großes Abenteuer. Mich störte nur, dass ich jede Nacht von Flöhen zerbissen wurde.


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Blutiges Flöheknacken

Als wir einzogen in die Wellblechbaracken, mussten wir erst zur Gesundheitskontrolle, und nachdem ein Arzt mich für gesund befunden hatte, inspizierte ein Sanitäter meinen Kopf auf Kopfläuse, weil wir ja von den Russen kamen, und die Russen haben ja alle Kopfläuse, so erklärte man mir. Ich hatte keine Läuse, obwohl ich von den Russen kam, aber den Kopf haben sie mir trotzdem eingepudert. Die Sanitäter hätten mal besser die Betten und die Flöhe eingepudert. Ich weiß nicht, ob Flöhe damals Nationalitäten hatten, aber diese Flöhe konnten keine russischen sein, eher amerikanische, denn in den Baracken waren sicher nie Russen gewesen, ganz sicher aber Amerikaner.

Mit Flöheknacken vertrieben wir uns abends oft die Zeit, bis das Licht ausgeschaltet wurde. Und das ging so: Man fing die Viecher, zwirbelte sie mit Spucke-Fingern, dann die Daumennägel gegeneinander drücken, Floh dazwischen - knack. Die Flöhe waren so voll gesaugt, dass aus ihnen fast immer Blut spritzte. Ob die Flöhe aus Amerika oder Russland waren, konnte ich nicht rauskriegen, obwohl ich einige Erwachsene fragte.

Das Lager stand unter Kontrolle der amerikanischen Militärpolizei. Die amerikanischen Soldaten verteilten großzügig Schokolade und Kekse, und ich lernte meinen ersten englischen Satz: "I like America!"

Neues Lager, neues Glück

Das Lager war mit Stacheldraht eingezäunt. Ob niemand raus durfte, oder niemand rein, egal, wahrscheinlich beides. Aber das war auch nicht wichtig, das Essen schmeckte prima. Für meine Mutter war der Bohnenkaffee fast das Wichtigste. So was hätte sie schon lange nicht mehr getrunken, erklärte sie mit verklärtem Blick.

Inzwischen war es Mai geworden, es wurde heiß, die Luft in den Wellbleckbaracken war nachts unerträglich, und die Flöhe vermehrten sich sprichwörtlich sprunghaft. Dann - endlich - sollten wir ausgeflogen werden, nach Hamburg. Wir flogen mit einer "Super Constellation". Eines hatten alle Passagiere gemein - niemand hatte viel Gepäck. Ein paar kleine Pappkoffer, ein paar Taschen, mehr nicht.

Ich fand den Westen gut. Das Flüchtlingslager in Hamburg-Wandsbek war sehr ähnlich dem Lager in Berlin, nur sehr viel größer und auch viel sauberer, wir hatten da auch keine Flöhe. Es gab keine Baracken, nur richtige Steinhäuser, grau-weiß gestrichen, früher war das mal eine Kaserne. Die täglichen Mahlzeiten, für mich das Wichtigste, gab es in einer zentralen Kantine. In den Schlafräumen standen zweistöckige Etagenbetten, es waren immer drei bis vier Familien in einem Raum untergebracht. Wir hatten sogar blau-weiß gestreifte Bettwäsche.

Jetzt war ich also im Westen und alles war neu und alles war ein großes Abenteuer. Ich fand es spannend.

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