
Fluchthelfer-Drama: Das Rätsel des unbekannten Stasi-Helden
Boris Franzke
Fluchthelfer-Drama Das Rätsel des unbekannten Stasi-Helden
Boris Franzke hat die Geschichte schon oft erzählt. Wie sie damals, mit Anfang 20, die Tunnel gruben. Wie sie in Berlin kurz nach dem Mauerbau zu Experten für Bodenaushub avancierten: Leichter Sand hier, fester Lehm dort, fast jeden Quadratmeter kannten sie in der Stadt. Der Job war nicht ohne Risiko, doch darüber dachten sie nicht viel nach. Jetzt aber, 50 Jahre später, da Franzke seine eigene Geschichte in Büchern und Akten nachlesen kann, stockt ihm fast der Atem.
Mehr als ein halbes Dutzend Mal hatte er zusammen mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Eduard und anderen von der Westseite aus Tunnel nach Ost-Berlin gegraben, um Menschen bei der Flucht aus der DDR zu helfen. Die Franzkes hatten selbst einmal dort gelebt - bevor der Vater verhaftet und in ein sowjetisches Straflager gesteckt worden war. 1955 war er freigekommen, die Familie daraufhin nach West-Berlin gezogen. "Unsere Freunde aber hatten wir immer noch im Osten", erinnert sich Boris Franzke und daran, "wie wütend" sie gewesen seien, als die DDR 1961 die Mauer baute. "Ich hatte meine Verlobte drüben in Ost-Berlin, mein Bruder seine Frau und zwei Kinder. Auch unsere Schwester lebte dort."
Der Bruder hatte dann die Idee mit dem Tunnel. Doch der Plan war aufgeflogen, noch bevor er umgesetzt werden konnte. Die Angehörigen waren verhaftet und erst nach mehrjährigen Haftstrafen in den Westen entlassen worden. Entmutigt hatte das die Fluchthelfer nicht: "Es machte uns nur noch wütender - und motivierte uns." Sie gruben weiter, Tunnel für Tunnel - und holten Dutzende Menschen in den Westen.
50 Jahre später nun sollte Boris Franzke erfahren, wie sich sein Job für die andere Seite darstellte, aus Sicht der Staatssicherheit etwa, deren Akten mittlerweile ausgewertet sind. Es traf ihn wie ein Schlag: Denn Franzke weiß nun, dass er eigentlich hätte tot sein sollen, wenn alles nach Plan gelaufen wäre. Nach dem Plan der Anderen. Noch absurder, unfassbarer aber erscheint ihm die Erkenntnis, dass es ausgerechnet ein Stasi-Mann gewesen sein soll, der ihm, dem Fluchthelfer, das Leben rettete. Boris Franzke, mittlerweile 72 Jahre alt, will den Mann nun finden. Die Geschichte ist für ihn aktueller denn je.
Durchbruch nach Kleinmachnow
Es war im Spätsommer 1962, als der Schöneberger Autovermieter Bodo P. die Fluchthelfer Franzke sowie Klaus G., Wolfgang Z., genannt Bibi, und den ebenfalls als Fluchthelfer aktiven ehemaligen DDR-Bahnradmeister Harry Seidel anheuerte. Bodo P. wollte seine Familie und weitere Fluchtwillige, die in einem Haus fast direkt an der Zonengrenze wohnten, in den Westen holen.
Seine Idee: Von Zehlendorf aus sollte ein Tunnel unter dem Grenzzaun und zwischen der ersten Häuserreihe hindurch bis zum Keller jenes Einfamilienhauses Wolfswerder 29 im brandenburgischen Kleinmachnow führen. Die Bodenbedingungen waren günstig und auch die Tatsache, dass sich gegenüber des Hauses auf West-Berliner Seite gerade eine Großbaustelle befand. Auf der Brache entstanden Einfamilienhäuser. Eine Baubude mehr oder weniger würde überhaupt nicht auffallen, so das Kalkül.
Bodo P. hatte entsprechende Vorbereitungen getroffen: Nur acht Meter vom Grenzzaun entfernt hatte er eine Hütte errichtet, die groß genug war, um fünf Männern als Ess- und Schlafraum zu dienen und außerdem das in Säcke gepresste Erdreich zu beherbergen. Von der Hütte aus sollte eine rund 80 Zentimeter durchmessende Röhre in etwa drei Meter Tiefe rund 70 Meter weit in leichtem Bogen bis zum Keller des Hauses Wolfswerder 29 führen. Damit niemand Verdacht schöpfte, hatte Bodo P. noch ein Firmenschild an die Hütte genagelt: "Gärtnerei Immergrün".
Eines Nachts Anfang Oktober bezogen die Männer ihr Quartier - und schufteten von da an rund um die Uhr. Auf dem Rücken liegend und mit kurzem Spaten trieben sie den Stollen in den folgenden fünf Wochen voran. Einfach war es nicht, im Dunkeln die Richtung zu halten. Eine Taschenlampe und ein Seil waren die einzigen Hilfsmittel, erklärt Franzke: "Wenn das Seil und der Lichtkegel der Taschenlampe gerade liefen, wussten wir, das wir auf dem richtigen Weg waren."
Auf der anderen Seite
Was sie nicht wussten: Bereits am Morgen des 11. November hatte die Stasi das Haus Wolfswerder 29 gestürmt und die 13 darin versammelten Fluchtwilligen verhaftet. Die Verständigungszeichen aber, die den West-Berlinern signalisieren sollten, dass die Fluchtvorbereitungen im Osten nach Plan liefen, ließen die Häscher weiter ausführen.
In Ost-Berlin erhielt Oberstleutnant Richard Sch. am Nachmittag des 12. November einen Anruf: Er möge sich beim Genossen Oberst melden - ein Auftrag. Sch. war der Sprengmeister seiner Abteilung. Er ging ins Labor und besorgte das benötigte Material: 2,5 Kilogramm TNT, 2,5 Kilogramm Hexogen, zwei parallel geschaltete Sprengkapseln, ein 70 Meter langes doppeladriges Kupferkabel, eine Trockenbatterie 12 Volt und einen 25 mal 15 Zentimeter großen Leinenbeutel.
Gegen 18.30 Uhr traf Sch. auf dem Parkplatz Normannenstraße ein. Vom Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) holte ihn ein Genosse ab, gemeinsam fuhren sie nach Kleinmachnow, zum Grundstück Wolfswerder 29, auf dem bereits Kollegen warteten.
Das Sprengloch für die Ladung war bereits ausgehoben. Es lag zwischen Nr. 32 und 34, zwei Wohnhäusern direkt an der Grenze, die wie alle Grundstücke im Sperrgebiet nur mit einem speziellen Passierschein erreichbar waren. Genau da, wo die Stasi den Fluchttunnel vermutete. Richard Sch. legte die Ladung in den Boden, schüttete das Loch zu und bedeckte die Stelle mit Laub. Das Kabel führte er über die Straße in den Garten von Nr. 29.
Die Luft wird knapp
Die fünf im Tunnel arbeiteten derweil nur noch am Tage. Knapp 20 Meter vor dem Ziel fürchteten sie, Grenzsoldaten könnten sie sonst hören. "Wir haben uns nur im Flüsterton unterhalten", erinnert sich Boris Franzke. Die Anstrengungen setzten ihnen zu, vorn im Tunnel war es stickig, der Sauerstoff knapp. Sie hofften, es bald geschafft zu haben.
Von ihrer Hütte aus konnten sie durch einen Spalt das angepeilte Haus beobachten. Zu bestimmten Zeiten, so hatte es ihnen Bodo P. erklärt, würde da drüben jemand auftauchen, der ein Fenster putzt oder im Vorgarten harkt - das sei ihr Zeichen. Solange diese Zeichen von der Ostseite kämen, sei dort drüben alles in Ordnung.
Im Tunnel selbst hatten sich unerwartete Schwierigkeiten ergeben: "Eigentlich hätten wir schon längst an der Grundmauer dran sein müssen, aber wir hatten uns wohl etwas verkalkuliert."
Noch acht Meter!
Richard Sch. harrte währenddessen mit seinen Kollegen und dem Zünder im Garten von Haus Nr. 29 aus. Sie warteten auf die Tunnelgräber. Als sich bis 4 Uhr nichts ereignete, rollte er das Kabel auf, vergrub es am Sprengloch und fuhr zurück nach Berlin. Um 18 Uhr sollte er wieder in Kleinmachnow sein.
Boris, Eduard und die anderen kamen nur langsam voran. Zu langsam. "Dann haben wir entschieden, nach oben durchzubrechen. Zum einen würden wir dann sehen, wo wir uns befanden. Zum anderen hätten wir dann ein Luftloch und könnten besser graben."
Es war Nacht, als einer von ihnen den Kopf aus der Öffnung steckte: noch mindestens acht Meter bis zur Grundmauer! Sie bedeckten das Loch mit Zweigen und gruben weiter. Ab dem 11. November, so hatte Bodo P. ihnen gesagt, würden sich die Leute für die Flucht bereithalten. Den 14. November hatte er ihnen als letztmöglichen Termin gesetzt. "Wir konnten es nicht mehr aufschieben." Die Zeit lief ihnen davon.
Einer muss raus
Auch in der Nacht zum 14. passierte nichts - Sprengmeister Sch. rollte sein Kabel erneut ein. Gegen Abend war er zurück in Kleinmachnow - und erfuhr, dass die Genossen die Stelle, von der aus die Ladung gezündet werden sollte, vom Garten ins Haus verlegt hatten. Wieder wurde das Kabel über die Straße geführt. Das Ende reichte Sch. seinem Kollegen durch das Kellerfenster.
Inzwischen war es 20 Uhr. Sch. stand nun selbst am Kellerfenster, als ihn der Kollege auf zwei Jugendliche aufmerksam machte, die auf der Straße Wolfswerder, genau zwischen Nr. 32 und 34, standen: ein 17-jähriges Mädchen aus Nr. 32 und ein Junge aus der gleichen Straße. "Wenn die beiden nicht verschwinden, können wir nicht sprengen", flüsterte der Kollege. Keine zwölf Meter war das Paar von der Ladung entfernt.
Die Zeit war abgelaufen. Noch immer hatten die Tunnelgräber die Grundmauer nicht erreicht, ihnen blieb keine Wahl: Einer von ihnen musste raus und den Flüchtlingen im Haus sagen, dass der Einstieg im Vorgarten lag. Aber wer? "Mein Bruder wollte rausgehen", erinnert sich Boris Franzke, "aber ich hatte Angst um ihn und wollte stattdessen lieber selber gehen. Doch er meinte, 'das kommt nicht in Frage'. 'Okay, dann geh ich', sagte Harry Seidel. Und dann ist er gegangen."
"Zünden!"
Ungefähr drei Meter waren es bis zur Oberfläche. Nachdem Seidel rausgekrochen war, stieg Boris auf die Schultern eines Freundes. Er konnte sehen, dass es noch gut zwei Meter waren bis zum Haus - und wie Harry im Dunkeln um die Hausecke verschwand.
"Zünden!" Sch. hatte das Kommando gehört, doch er zögerte - der Junge und das Mädchen standen noch immer auf der Straße. "Das Liebespärchen!", rief er seinem Vorgesetzten zu. "Ich weiß!", antwortete der, "zünden!" Der Sprengmeister führte den Befehl aus. Doch nichts passierte.
Unten im Tunnel warteten sie auf Harrys Rückkehr. Auf einmal waren draußen Schritte zu hören. "Boris, Bibi, kommt mal raus, wir müssen noch einen Kranken transportieren", hörten sie jemanden rufen. Harry? Ein Lichtkegel fiel in den Schacht. "Mensch, das sind Vopos", flüsterte Eduard und riss seinen Bruder zurück. So schnell sie konnten, krochen die vier in den Westen.
Es war bereits nach 22 Uhr, als Sch. die Erlaubnis erhielt, die Sprengladung zu prüfen. Er nahm das Kabel in die Hand, ließ es durch die Finger gleiten. Als er auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Nr. 32 ankam, schnellte ihm das Kabelende entgegen.
Sabotage!
Den Franzkes war klar, dass ihr Tunnel verraten worden war. Von wem, das fanden sie nie heraus. Den Fluchthelfer Harry Seidel verurteilte die DDR-Justiz am 29. Dezember 1962 in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft, 1966 konnte er von der Bundesrepublik freigekauft werden.
Von der Sprengfalle allerdings sollten die West-Berliner Tunnelbauer erst knapp 50 Jahre später erfahren. Boris Franzke ist fassungslos: "Wir befanden uns doch mit Ostdeutschland nicht im Krieg. Wenn man es so sieht, war das versuchter vierfacher Mord!"
Erst recht aber sollte niemand erfahren, was sich in den Tagen und Wochen nach dem Vorfall bei der Staatssicherheit abspielte. Die Technische Untersuchungsstelle des MfS stellte fest, dass das Kabel mit einem verhältnismäßig stumpfen Messer oder einem ähnlichem Gegenstand zerschnitten worden war. Es war also nicht gerissen oder etwa beim Vergraben mit einem Spaten durchtrennt worden.
Da das Sperrgebiet nicht frei zugänglich war, blieb der Kreis der Verdächtigen überschaubar. Wie die Buchautoren Dietmar Arnold, Sven Felix Kellerhoff und Burkhart Veigel herausfanden, ermittelte die Stasi mit Hochdruck in den eigenen Reihen. Die an der Operation beteiligten Genossen und NVA-Soldaten mussten handschriftlich Bericht erstatten und wurden verhört, so auch Sprengmeister Richard Sch. Zu einem Ergebnis führte die Untersuchung nach den bislang bekannten Akten offenbar nicht. Die Autoren kommen aber zu dem Schluss, dass "einer der anwesenden Stasi-Leute die Sprengung sabotiert haben muss".
"Das ist für mich ein absoluter Held", sagt Boris Franzke. Dass ein Stasi-Mann oder ein NVA-Soldat eine Sprengung verhindert, "weil er das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann" und dabei selbst eine riesige Gefahr für sein Leib und Leben eingehe, da er dabei beobachtet werden könnte - "das ist eine einmalige Sache. Ich hoffe, dass er vielleicht später irgendjemandem davon erzählt hat, denn ich würde ihn gern finden, um ihm zu danken. Er hat uns vieren, die wir noch im Tunnel waren, das Leben gerettet!"
Können Sie Boris Franzke helfen, seinen Retter zu finden? Kennen Sie den Fall oder Personen, die daran beteiligt waren? Haben Sie Hinweise, wer die Sprengung verhindert haben könnte? Dann schreiben Sie uns!
Zum Weiterlesen:
Dietmar Arnold, Sven Felix Kellerhoff: "Die Fluchttunnel von Berlin", Propyläen Verlag, Berlin 2008, 288 Seiten.
Burkhart Veigel: "Wege durch die Mauer - Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West", Edition Berliner Unterwelten, Berlin 2011, 431 Seiten.