Zweiter Weltkrieg Als Europäer nach Aleppo flüchten mussten

Während des Zweiten Weltkriegs lag eine der wichtigsten Fluchtrouten zwischen den griechischen Ägäis-Inseln und dem türkischen Festland
Foto: UNRRA ArchivesFür Menschen auf der Flucht gab es schlechtere Orte: "Das Lager ist ordentlich und sauber" und gleich in der Nähe lag eine Stadt "mit Geschäften, einem Kino und so weiter, wohin die Flüchtlinge jederzeit gehen können". Bislang seien "nur wenige Probleme aufgetreten", berichtete ein Mitarbeiter der britischen Hilfsorganisation Middle East Relief and Refugee Administration (MERRA) am 22. Mai 1944 seinem Vorgesetzten. Im Camp herrsche gute Stimmung, der diensthabende Offizier werde spürbar von allen gemocht.
Die Flüchtlinge jener Zeit waren Europäer. Zu Tausenden trafen sie im Frühjahr 1944 in der syrischen Stadt Aleppo ein. Griechenland befand sich unter der Kontrolle eines brutalen Besatzungsregimes aus deutscher Wehrmacht, italienischer Armee und bulgarischen Truppen. Die geografische Nähe zwischen den griechischen Ägäis-Inseln und dem türkischen Festland bot Zehntausenden Menschen die Möglichkeit, dem mörderischen Krieg zu entkommen.
Dort, wo heute - 72 Jahre später - überfüllte Gummiboote mit syrischen Flüchtlingen anlanden, stiegen damals griechische, bulgarische, jugoslawische und polnische Flüchtlinge in alte Fischerboote und steuerten in Richtung türkischer Küste.

Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg: Von Europa nach Syrien
Von der türkischen Stadt Cesme, rund 80 Kilometer vom Badeort Izmir entfernt, brachten Züge diese Menschen weiter in Richtung des von der britischen Armee besetzten Syrien. Der Grund für die reibungslose Weiterfahrt: ein Abkommen mit der Türkei. "Die britische Regierung versprach der türkischen Regierung, alle griechischen Flüchtlinge, die die Türkei betreten, zurückzunehmen", berichteten MERRA-Mitarbeiter, die den Zustand der britischen Flüchtlingslager überwachten.
Komfortable Unterbringung
Die britische Armee hatte im Nahen Osten mehrere Flüchtlingslager für die europäischen Neuankömmlinge aus dem sandigen Wüstenboden gestampft. Ein alter Transitbahnhof für Mekka-Pilger am Roten Meer wurde zu Camp Moses Wells, in dem bald 2000 Menschen Schutz fanden. Im heutigen Gazastreifen bot ein Militärstützpunkt australischer und polnischer Truppen als Flüchtlingslager Nuseirat bis zu 10.000 Menschen Zuflucht. Östlich des Suezkanals nahm das Camp El Shatt sogar bis zu 20.000 Menschen auf.
Verglichen damit war das Camp bei Aleppo - bestehend aus einem Lager für Frauen, Kinder, Alte und Behinderte sowie einer Quarantänestation für wehrfähige Männer, die zurück an die Front mussten - das kleinste. Bis zu 1000 Personen hielten sich dort auf. Für jene, die es über die Ägäis geschafft hatten, war es oft der erste Ort, an dem sie eine Zeit lang Ruhe finden konnten. Den MERRA-Berichten zufolge war es offenbar auch das Camp mit dem höchsten humanitären Standard im Nahen Osten.
"Während die Kleidung desinfiziert wird, werden die Flüchtlinge gründlich unter den Duschen gewaschen und medizinisch untersucht", notierten die Beobachter. Die strengen Regeln für Sauberkeit und Quarantäne hatten Erfolg: "Es gibt kaum Krankheiten . An alle werden Moskitonetze ausgegeben, keine Malaria." Formell betrieben wurde das Flüchtlingslager rund drei Kilometer außerhalb der Stadt vom Geheimdienst der britischen Armee. Doch auch Helfer von MERRA, der Hilfsorganisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), griechischer Behörden und des Internationalen Roten Kreuzes sorgten sich um die Menschen.
Deren Unterbringung war erstaunlich komfortabel: Von "Steinhütten mit Metalldach", teils sogar mit eigenem Ofen war die Rede. Andere Flüchtlinge teilten sich mit französischen Soldaten alte osmanische Baracken. "Einrichtungen für Postsendungen, Telefonie und Telegrafie stehen alle zur Benutzung durch die Flüchtlinge zur Verfügung", stellte ein MERRA-Mitarbeiter fest. Lediglich die "üblichen Zensur- und Sicherheitsbestimmungen" würden die Nutzung einschränken.
Dreimal täglich erhielten die Migranten in der Kantine kostenlose Mahlzeiten, ein Shop im Lager bot Tee, Kaffee, Obst, Zigaretten und sogar Bier. Bezahlen konnten sie mit dem kleinen Taschengeld, das sie von der Lagerverwaltung erhielten: 15 ägyptische Piaster pro Woche, nach heutiger Kaufkraft etwa sieben Euro. Wer mehr wollte, konnte mit Kochen, Putzen und Handwerkerarbeiten dazuverdienen. Zur Arbeit verpflichtet war jedoch niemand: "Es gibt keine Politik, körperlich fitte Flüchtlinge zur Arbeit zu zwingen", berichtete ein Beamter im Mai 1944.
"Sie neigen dazu, sich über ihr Essen zu beschweren"
Doch den meisten Flüchtlingen schien der Sinn ohnehin nicht nach Arbeit zu stehen. "In der Kühle des Abends spielen Männer Fußball und Handball." Frauen seien vor allem mit "Haushaltstätigkeiten wie Nähen, Kleider waschen oder Hilfe in der Küche" beschäftigt. Und dann war da eben noch das nahe gelegene Aleppo mit seinen Geschäften und seinem Kino. Zwar waren Ausflüge eigentlich nur für 10 bis 13 Uhr vorgesehen, doch wurden diese unter Berücksichtigung des Kinoprogramms schon einmal verlängert. Lediglich zu einer Personengruppe findet sich in den Notizen ein kritischer Vermerk: Ältere Männer müssten "streng überwacht werden", da sie sich sonst immer wieder in die Kantine schleichen würden.
Doch die Idylle von Aleppo blieb für die meisten Flüchtlinge nur ein kurzes Intermezzo auf ihrer Weiterreise nach Süden. Von den rund 1000 Menschen, die monatlich am Bahnhof der Stadt ankamen, verbrachten die meisten dort nicht mehr als ein paar Tage. In Zügen ging es anschließend weiter in die überfüllten Lager in Palästina und Ägypten.
Auch von dort berichteten Helfer im Frühjahr 1944. Eine Krankenschwester aus einer völlig überfüllten Klinik im Flüchtlingslager El Shatt schrieb von "Windpocken, Mumps, Scharlach, Keuchhusten und Diphtherie" und listete die zur Behandlung noch zur Verfügung stehenden Medikamente auf. Hinter fast jedem Eintrag steht "keine". Auch in Moses Wells am Roten Meer war nichts wie in Aleppo: "'Keine Arbeit, kein Geld' ist eine Regel des Lagers", notierte ein Helfer. Über die europäischen Migranten schrieb er im Frühjahr 1944: "Sie haben nur wenig Sinn für persönliche Hygiene und neigen dazu, sich über ihr Essen zu beschweren."