
Hirnforschung: Lenins graue Zellen
Anonymous/ AP
Sowjetische Elitenforschung Lenins Hirn in Scheiben
Die Sowjetunion hielt den Atem an. Überall im Riesenreich stoppten Züge mitten im Nirgendwo, Schiffe suchten sich einen Ankerplatz. In den Fabriken erklangen dagegen die Sirenen. Und mit ohrenbetäubendem Lärm feuerten Rotarmisten ihre Geschütze zum Salut ab. Tausende Menschen waren am 27. Januar 1924 aus der gesamten UdSSR nach Moskau gepilgert, wo an diesem Tag Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem Kampfnamen "Lenin", beigesetzt wurde.
Als die Elite der sowjetischen Führung, darunter Josef Stalin, den Leichnam des Revolutionsführers aus dem Gewerkschaftshaus hinaus auf den Roten Platz trug, stimmte die trauernde Menge feierlich die Internationale an. Gegen 16 Uhr erreichte Lenins Leichnam schließlich seine Ruhestätte. Vor der Mauer des Kremls wartete ein erstes provisorisches Grab auf den Schöpfer des ersten sozialistischen Staates der Welt.
"Lenin kaputt"
Ruhe war Lenins Leichnam in der kalten Erde allerdings nicht vergönnt. Mit Formaldehyd, zwei künstlichen Augen und etwas medizinischem Faden, um den Mund zuzunähen, bereiteten Ärzte den bereits zerfallenden Körper für die Ewigkeit auf. Der kommende starke Mann im Sowjetstaat, Josef Stalin, hegte besondere Pläne für die sterblichen Überreste des Revolutionsführers. Einbalsamiert sollte Lenin in seinem Mausoleum an der Kremlmauer als morbides Einheitsdenkmal dienen. Für den Verstorbenen hatte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei nur Verachtung übrig. "Lenin kaputt", höhnte Stalin bereits nach Lenins ersten Schlaganfällen, die ihn zum wehrlosen Pflegefall degradierten und schließlich das Leben kosten sollten.
Die besondere Aufmerksamkeit der kommunistischen Machthaber galt Lenins Gehirn. Ärzte hatten es dem Körper nach seinem Tod am 21. Januar 1924 entnommen. Im Sinne des nun staatstragenden Lenin-Kults erklärte die Partei den Revolutionsführer zum Genie. Wissenschaftler erhielten die Aufgabe, die "materielle Basis des unsterblichen Genies" nachträglich zu beweisen.
"Nicht größer als eine Walnuss"
Die Suche nach Beweisen für Lenins außergewöhnliche Geisteskräfte sollte sich allerdings als schwierig erweisen. Zumal sich das Gehirn in einem schlechten Zustand befand. Der Künstler Juri Annenkow, der Lenins Hirn in seinem Glas in Augenschein nahm, erklärte, dass die eine Hälfte tadellos erhalten sei. Die andere aber sei "verschrumpelt, zerdrückt und nicht größer als eine Walnuss." Bald suchten die sowjetischen Ärzte im Ausland nach Unterstützung für ihre Mission. "Eine Kommission hat bei mir angefragt (...), ob ich bereit wäre zu einer Konsultation über die Art, wie das Leninsche Gehirn zu bearbeiten sei, nach Moskau zu kommen", schrieb der Hirnforscher Oskar Vogt im Januar 1925 an einen Kollegen.
Die Sowjets wandten sich nicht ohne Grund an den Deutschen. Vogt hatte 1898 mit der "Neurologischen Centralstation" den Vorläufer des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung gegründet. Der Wissenschaftler, der mit seinem gepflegten Ziegenbart und der korrekt gebundenen Fliege einen überaus gelehrten Eindruck machte, traf Mitte Februar in Moskau ein.
Gekommen, um zu schneiden
Kurz nach Vogt erreichten Vogts Frau Cécile und seine Assistentin Margarethe Woelcke die sowjetische Hauptstadt. Ein paar Hundert Kilogramm Ausrüstung hatten die beiden Deutschen gleich mitgebracht: Zwischen 1925 und 1927 schnitt die Präparatorin Woelcke mithilfe russischer Assistenten Tag für Tag Lenins Hirn in Scheiben. Das Denkorgan war zuvor in Paraffin eingelegt worden. Mit äußerster Präzision nahm die Deutsche Schnitt für Schnitt vor, insgesamt zerteilte sie Lenins Hirn in 30.953 Teile, wie es im offiziellen Abschlussbericht heißt. Die einzelnen Teile sind nur 20 Mikrometer (= 0,02 Millimeter) dünn.

Hirnforschung: Lenins graue Zellen
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Nach erfolgtem Schnitt fixierte die Deutsche jedes einzelne Stückchen Hirn auf einem Objektträger, der anschließend beschriftet wurde. Zusätzlich wurde jede zehnte Scheibe eingefärbt. Die auf diese Weise freigelegte Feinstruktur des Gehirns sollte Oskar Vogt anschließend die Geheimnisse von Lenins Genialität offenbaren.
Ein "Assoziationsathlet"
Bei der Erforschung von Lenins grauen Zellen scheute die Sowjetunion weder Kosten noch Mühen. Der deutsche Gelehrte Vogt erhielt 1927 eine eigene Forschungseinrichtung: das Institut für Hirnforschung, prachtvoll untergebracht in einem Moskauer Palais nicht weit vom Roten Platz. Fast jeder seiner Ausstattungs- und Personalwünsche wurde Vogt erfüllt. Die Erwartungen an seine Forschung waren entsprechend hoch. Und der Deutsche sollte die Sowjets nicht enttäuschen. 1929 verkündete er in einer Rede, dass "ganz klar ein scharfer Unterschied zwischen der Struktur des Gehirns von Lenin und der Struktur gewöhnlicher Gehirne" vorhanden sei.
In der dritten Hirnrindenschicht läge die Brillanz des Revolutionsführers verborgen, so Vogt: "Die Pyramidenzellen waren bei Lenin bei Weitem stärker entwickelt, die verbindenden Assoziationsfasern zwischen ihnen bei Weitem zahlreicher; auch die Körperzellen waren bedeutend größer und hervorstechend." Und schließlich fasste Vogt zur Freude der kommunistischen Machthaber in seinem Bericht zusammen: "Aus all diesen Gründen lässt unser hirnanatomischer Befund Lenin als einen Assoziationsathleten erkennen." Der Beweis war scheinbar wissenschaftlich erbracht: Lenin war ein Genie. Die "Prawda" berichtete beeindruckt, dass Vogts Forschungsergebnisse "ein bedeutender Beitrag zur materialistischen Erklärung des Psychischen überhaupt" seien.
"Pantheon der Gehirne"
Doch widmete sich Vogt in seinem Hirnforschungsinstitut nicht allein Lenins Hirn. Dreizehn "Elitegehirne" verschiedener Künstler und Wissenschaftler gehörten bald zu seiner Sammlung, die im institutseigenen "Pantheon der Gehirne" der Öffentlichkeit präsentiert wurden. "Die dreizehn Gehirne stehen in dreizehn Glaskassetten längs einer Wand in einem großen Raum", schrieb der Korrespondent der deutschen "Düsseldorfer Nachrichten". "Über jeder Glaskassette steht der Name des Mannes, dessen Kopf das im Schranke gehaltene Gehirn entnommen wurde, und einige Aufzeichnungen über seine Laufbahn; in einigen Fällen auch Lichtbilder des Mannes". Bei den ausgestellten Denkorganen handelte es sich um Attrappen. Die echten Gehirne wurden in den Laboren erforscht und mit Lenins Denkapparat verglichen.
Etwa ab 1930 aber versiegte das Interesse Stalins, der mittlerweile unumschränkt herrschte, an der Elitegehirnforschung. Vogts Institut verlor seine Selbstständigkeit, er selbst wurde in den Medien angegriffen. Schließlich kehrte der Deutsche nach Berlin zurück und forschte weiter am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, dem heutigen Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Die Mitarbeiter des Moskauer Instituts arbeiteten dagegen weiter an Lenins Hirn. 1936 legten sie ihren Abschlussbericht vor, der erneut Lenins Außergewöhnlichkeit beweisen sollte. "Im Gehirn W.I. Lenins sind in der Frontalregion, besonders in den Feldern 10 und 46, in der unteren Scheitelregion, in der oberen Schläfenregion, in der Schläfen-Scheitel-Hinterhauptsregion an der Grenze zum Feld 19 sowie in der postzentralen Region (vorzugsweise Feld 70 und vorzugsweise Feld 71) besonders große Zellen gerade in der III. Schicht anzutreffen", heißt es da.
Zum Leidwesen der sowjetischen Hirnforscher erhielten sie von der Zensur keine Genehmigung zur Publikation ihrer Ergebnisse. Wissenschaftlich gesehen war die Suche nach Lenins Intellekt in seinen Hirnzellen ohnehin vergeblich. In der Hirnstruktur lassen sich nach dem heutigen Stand der Wissenschaft keine Belege für bestimmte Veranlagungen finden. Lenins Hirn ist für die Forschung trotzdem von Interesse: Aufgrund der extremen Verkalkung der Blutgefäße im Denkorgan vermuten Wissenschaftler einen seltene Erbkrankheit, die den Revolutionsführer letztlich das Leben kostete.
Vereint im Tod
Bald nach Stalins Tod 1953 leistete der Diktator seinem verachteten Vorgänger Gesellschaft. Bis 1961 konnte die Öffentlichkeit Stalins einbalsamierten Körper neben Lenins Leiche in dessen Mausoleum besichtigen. Stalins Gehirn hingegen landete im Moskauer Institut für Hirnforschung, dort, wo bis heute auch Lenins Hirn hinter dicken Sicherheitstüren, verteilt auf zwei Schränke die Ewigkeit verbringt. Welcher der beiden Roten Zaren allerdings der genialere war, wird sich dagegen niemals klären lassen. Obwohl Lenin sich in seinem Urteil über Stalin sicher war: "Intelligent ist der überhaupt nicht!"