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Fotograf auf der Reeperbahn: Huren, Krüppel, Nachtgestalten

Foto: Günter Zint/ Panfoto

Fotograf auf der Reeperbahn Huren, Krüppel, Nachtgestalten

Helden und Liebesdamen, Rockstars und Alkoholwracks, Schaumschläger und Szenegänger: Günter Zint hat sie alle fotografiert. Seine Bilder zeigen die Abgründe und Absurditäten der Hamburger Reeperbahn. Ein intimes Meisterwerk.
Von Günter Zint

Fuzzy, das verhuzzelte Faktotum einer Striptease-Bar, winkt mit einer Handrassel der vor ihm thronenden Dame zu. Die Dame steht mit entblößten Brüsten auf der Bar, an der Fuzzy trinkt, direkt im Visier des Fotografen.

Schnitt.

Pete Townshend, Gitarrist der Krawallrockband The Who, stiert grinsend in die Kamera. Sein Blick ist derart psychedelisch, dass er unmöglich vom Inhalt der Bierflasche in seiner Hand herrühren kann. Die hat er sich nur schnell geschnappt, bevor der Fotograf auf den Auslöser drückte, um später keine Probleme wegen illegalen Drogenbesitzes zu bekommen - immerhin soweit kann er noch denken.

Schnitt.

Ein einbeiniger Krüppel, der über die Reeperbahn humpelt, streckt dem Fotografen demonstrativ die Zunge raus, als wolle er sagen "Glotzt mich ruhig an, ihr Unversehrten, aber nehmt dies dafür!"

Drei Szenen, eine Welt. Mit Momentaufnahmen wie diesen hat der Hamburger Fotograf Günter Zint, 66, in den sechziger und siebziger Jahren das Rotlicht- und Party-Milieu rund um die Hamburger Reeperbahn porträtiert. Ungezählte Stunden verbrachte er auf dem Kiez - und bekam dabei die sonderbarsten Nachtgestalten vor die Linse: Helden und Huren, Rockstars und Alkoholwracks, Schaumschläger und Szenegänger. Unter dem beziehungsreichen Titel "Zintstoff" ist kürzlich ein Bildband mit Zints Fotos aus den vergangenen 50 Jahren erschienen. Die Bilder vom Hamburger Kiez zählen dabei zu den eindrücklichsten Aufnahmen, die der Fotograf zum Teil mit kurzen Anekdoten kommentiert.

"Einer der letzten Menschen"

So erfährt der Leser, dass Jimi Hendrix während eines Gastspiels im legendären "Star Club" in den Sechzigern aus seinem Hotel in St. Pauli geschmissen wurde, weil er zu laut Musik hörte. Also nahm Fotograf Zint den Gitarrengott unter seine Fittiche, ließ ihn in seiner Wohnung die Lautstärkeregler aufdrehen - und bekam seinerseits mächtig Ärger mit den Nachbarn. Rocker-Kollege Eric Burdon ("House of the Rising Sun") wiederum bat Zint, ihn in einem echten Bordell abzulichten - fesche Ladies inklusive. Und dass so manches Eros Center auf dem Kiez für Rollstuhlfahrer eigens Tiefgaragenplätze mit Begleitservice und Fahrstuhl in die höherliegenden Gemächer anbot, ist ebenfalls ein launiges Histörchen.

Günter Zint hat all diese Szenen mit viel Liebe fürs Detail festgehalten - und mit ebenso viel Liebe für die Menschen vor seiner Kamera. "Günter Zint ist nicht nur einer meiner zuverlässigsten Freunde, sondern auch einer der 'letzten Menschen', die ich kenne", schreibt Günter Wallraff in seinem Vorwort zu dem Bildband. "Er ist trotz seiner Professionalität und seines fotografischen Könnens nicht nur Augenzeuge der Vorgänge, sondern meist auch Betroffener. Nur scheinbar agiert er als Beobachter und Reporter, fast immer ist er Teil des Geschehens."

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Diese unmittelbare Beteiligung an den Dingen, die er mit seiner Kamera dokumentiert, machte das Arbeiten für Zint nicht immer leicht. Nachdem er in den späten Sechzigern bei einer Demonstration nicht nur fotografiert, sondern gleich mitprotestiert hatte und vom Verfassungsschutz beobachtet worden war, wurde er als Hausfotograf des SPIEGEL entlassen. Doch auch danach veröffentlichte der SPIEGEL gern Zint-Bilder. Seiner politisch geprägten Arbeit blieb der Fotograf treu. In den folgenden Jahren dokumentierte er das Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen, Hausbesetzerszenen und dieAnti-AKW-Proteste unter anderem in Wackersdorf und Gorleben. Für Wallraffs Bestseller "Der Aufmacher" und "Ganz unten" steuerte er Bilder bei, die heute längst zu Ikonen geworden sind.

Doch seine Kiez-Fotos strahlen einen ganz eigenen Charme aus. Sie rühren den Betrachter, ohne die Abgebildeten zu entblößen, sie gewähren Einblick, ohne voyeuristisch zu sein. Und sie zeigen ganz deutlich: Zwischen Glanz und Glamour, zwischen Elend und Verzweiflung ist es vor allem eines, das ein Foto zu einem wirklich guten Bild macht: Menschlichkeit.

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