
30 Jahre Übergang: Unterwegs im wilden Osten
Fotos aus 30 Jahren Ostdeutschland Minions in Sachsen
"Ich bin mit meinem Kumpel durch das Dorf gefahren und schaute aus dem Fenster. Da sah ich diese Frau, die auf einer Holzbohle stand. Unter der Holzbohle lag ein Mann mit einem Laubbläser und pustete ihr den Rock hoch."
Bernd Cramer passiert so was öfter: dass er in Situationen hineingerät, deren Witz oder Absurdität sich erst später beim Betrachten seiner Fotos voll entfaltet. In dem Moment sagte er zum Fahrer nur "Anhalten!", sprang aus dem Auto und drückte ab.
Sie waren im November 2015 auf dem Weg zum Wochenendgrundstück, als sich ihnen diese schräge Szene bot: eine Reminiszenz an die Filmkomödie "Das verflixte siebte Jahr" mit Marilyn Monroe im leichten weißen Kleid, das von der Abluft der New Yorker U-Bahn aufgewirbelt wird. Hier in Trossin, Sachsen: von einem Laubbläser (siehe Fotostrecke).

30 Jahre Übergang: Unterwegs im wilden Osten
Wie der Leipziger Fotograf erfuhr, drehte der örtliche Karnevalsverein gerade einen Film. Handlung: In Trossin war ein Außerirdischer gelandet, der eigentlich nach Los Angeles wollte. Die Trossiner beweisen ihm, dass es die Filmstars auch bei ihnen gibt. Der Laubbläser sollte später im Film natürlich nicht zu sehen sein.
Das Making-of aus der ostdeutschen Provinz findet sich in Cramers neuem Bildband "ÜbergangsGesellschaft". Mit Aufnahmen aus mehr als 30 Jahren porträtiert der 49-Jährige die Lebenslagen seiner ostdeutschen Mitmenschen - vom Ende der DDR, in der Zeit nach der Wende und in der Gegenwart. Er kommt dabei fast ohne Worte aus, dafür erzählen seine Bilder ganze Geschichten: von Optimismus und Niederlage, Orientierungslosigkeit und Neuanfang.
Übergang als Lebensgefühl
Schon mit neun Jahren hatte Cramer zu fotografieren begonnen. Die frühesten Aufnahmen im Buch stammen aus der Mitte der Achtzigerjahre. Da war er gerade 15 und in einem Alter, "in dem man eine Aufbruchstimmung in sich spürt. Man reflektiert sehr viel und kritisiert sein ganzes Umfeld, seine Eltern, seine Lehrer und ist in einer stetigen Antihaltung". Er habe damals "keine großen politischen Statements" abliefern wollen, sondern einfach nach Bildern gesucht, "die in mir etwas bewegen", erzählt Cramer.
Die ganze Tragweite wurde ihm oft erst bewusst, wenn er die Fotos in der Dunkelkammer sah. Wie das des Jungen, der bei einer Weihnachtsfeier 1985 singend vor einem Lenin-Plakat steht - mit einer Kopf- und Körperhaltung, die ihn zum Imitator des Sowjetrevolutionärs macht.
Geradezu prophetisch: das Porträt seiner Mutter von 1992, einer Frau, die aufrecht, aber auch etwas müde an einem aufgeräumten Schreibtisch sitzt.

Das fast leere Büro lässt den Betrachter unweigerlich an die Abwicklung ostdeutscher Betriebe denken. In diesem Fall aber war es anders, erklärt Cramer und beschreibt die Situation als ganz positiv: Entstanden sei die Aufnahme unmittelbar nach der Privatisierung des Unternehmens, für das seine Mutter arbeitete. Erst Jahre später musste die Firma wegen unerfüllbarer Auflagen der Treuhandanstalt tatsächlich schließen.
"Das Bild von 1992 zeigt für mich irgendwie alles", sagt Cramer, "den Status meiner Mutter, die eigentlich immer nur Geschäftsfrau war und sich für diesen Betrieb aufgeopfert hat - bis zu dessen Auflösung, was allerdings erst fünf, sechs Jahre später passierte."
Cramers Bilder illustrieren das "Übergangs"-Lebensgefühl auf verschiedenste Weise: eine Frau, die sich unsicheren Schrittes festhalten muss, während sie einen Fahrstuhl betritt. Ein Gerüst, das ein Haus andeutet, aber keines ist. Demonstranten pro Legida und dagegen. Eine aufgerissene Straße; unbeschriftete Haltestellenschilder; eine Neueröffnung hinter verrotteter Fassade. Aufbruch, Rückschläge, Identitätssuche. Auch Sprachlosigkeit wie bei dem schweigsamen Paar mit Baby, das er zufällig in einem Café beobachtete.
Übergangsgesellschaft: Fotografien von Bernd Cramer 1985-2019
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Nicht immer aber ist die Situation so, wie sie dem Betrachter auf den ersten Blick erscheint: Die Bäuerinnen, die Cramer 1989 auf Kartoffelkisten sitzend an einem Feldrand bei Delitzsch ablichtete, wirken ob ihrer gesenkten Köpfe bedrückt. Mit der schweren Arbeit oder einer ungewissen Zukunft habe das aber nichts zu tun, versichert der Fotograf: "Die sechs Frauen waren eigentlich gut drauf und haben rumgealbert, als ich ihnen sagte, dass ich gern ein Bild von ihnen machen wollte. Sie waren einverstanden. Doch kaum hatte ich die Kamera am Auge, schwupp, guckten sie alle nach unten." Vielleicht aus Scham, vermutet Cramer, "fotografiert worden wären sie sicher lieber ohne Kopftuch, frisch frisiert und nicht in Gummistiefeln".
Zum Mauerfall im Knast
Das Miteinander ist sein Thema. Besonders als Fotograf sei ihm aufgefallen, dass das Leben nicht mehr wie früher draußen stattfinde. "Um Menschen kennenzulernen, muss man mittlerweile offensiv auf sie zugehen oder auch an den Häusern klingeln."
Stets war er nah dran an den Menschen, fotografierte im Herbst 1989 die Montagsdemos "und demonstrierte selbst mit". Nur eine Phase fehlt in seiner - auch persönlichen - Geschichte der Ostdeutschen: der Mauerfall.
Cramer hatte sich gegen den "Dienst an der Waffe" bei der Nationalen Volksarmee entschieden, meldete sich stattdessen als Bausoldat. Ende Oktober 1989 kam der Einberufungsbefehl. Für die nächsten Wochen war er kaserniert, vorübergehend sogar inhaftiert, als er den Dienst verweigerte.
Die Bilder, auf denen die anderen auf der Mauer tanzten, in den Westen fuhren und ihr Begrüßungsgeld abholten - er kennt sie nur aus dem Fernsehen: "Ich hätte damals gern fotografiert oder wäre mit den anderen Fotografen, als die Mauer fiel, in die Stasizentralen und Gefängnisse reingegangen, aber da saß ich selber im Knast."
Vom Gedanken, je studieren zu dürfen, hatte sich Cramer mit seiner Entscheidung für die NVA-Baueinheiten bereits verabschiedet. Es kam anders: Schon mit seiner ersten Bewerbung für die Fotografenklasse der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst hatte er Erfolg, absolvierte sein Studium und lebt heute freischaffend in seiner Heimatstadt.