
Fotograf Boris Mikhailow: "Du siehst nur, dass alles zerfällt"
Fotograf Boris Mikhailow "Du siehst nur, dass alles zerfällt"
Ohne das "Weltexperiment", wie er es nennt, wäre alles ganz anders gelaufen für ihn. Boris Mikhailow würde nicht hier leben, in dieser Altbauwohnung in Berlin-Wilmersdorf, an deren Wänden großflächige Bilder des Experiments hängen, das die Sowjetunion für ihn war. "Und sicher wäre ich heute kein Fotograf", sagt Mikhailow.
Der 73-jährige Ukrainer ist ein weltberühmter Fotokünstler, dessen Arbeiten für mehrere tausend Euro gehandelt werden. Im Jahr 2000 wurde er mit dem renommierten Hasselblad Award ausgezeichnet, einer Art Nobelpreis für Fotografie. Und es gehört zu den paradoxen Wendungen seines Lebens, dass er seine Karriere letztlich dem Regime verdankt, unter dem er lange zu leiden hatte.
Mikhailow hat über Jahrzehnte das sozialistische System mit seiner Kamera festgehalten. Er fotografierte Umweltverschmutzung, er dokumentierte gleichgültige Teilnehmer von Massenkundgebungen. Er bannte Dinge auf seine Filme, die es eigentlich nicht geben durfte im roten Riesenreich. Den "einflussreichsten Fotografen der ehemaligen Sowjetunion" nennen ihn Kunstkritiker deshalb.
Diese Sowjetunion musste vor 20 Jahren krachend einstürzen, damit Mikhailows Bilder ihren Weg überhaupt an die Öffentlichkeit finden konnten. Niemand hatte die Aufnahmen zuvor zu Gesicht bekommen dürfen, die den Sozialismus in all seiner oft bedrückenden Banalität zeigten. Und auch der Fotograf, der sie geknipst hatte, blieb im Verborgenen. Die Geschichte des Boris Mikhailow ist auch die eines Doppellebens.
Geschlechtslose Idealfiguren
Als Sowjetbürger sei er zur Welt gekommen, sagt der Mann mit den klaren Augen und dem dezenten Schnauzer über sich selbst. 1938 war das, in Charkow, damals eine anonyme Provinzstadt in den Weiten des riesigen Sowjetreiches. Die gesamte Jugend sowie einen Großteil seines Erwachsenenlebens hat er dort verbracht.
Die fünfziger und sechziger Jahre prägten ihn dauerhaft, gaben ihm eine Richtung: "Als Chruschtschow öffentlich erklärte, Stalin sei schlecht gewesen, wirkte das auf viele von uns wie ein Weckruf", erinnert sich Mikhailow. "Plötzlich war der Eindruck da, alles müsse sich zum Besseren wenden." Daraus sei eine kritische Haltung entstanden, die angehalten habe - auch wenn die Phase der politischen Liberalisierung, das "Tauwetter", nur von kurzer Dauer war.
Boris Mikhailow griff zur Kamera, um seine Sicht der Dinge festzuhalten. Eine seiner Arbeiten aus dieser Anfangszeit zeigt das sinnliche Porträt einer Frau, die eine halbgerauchte Zigarette zwischen den Fingern hält. Das Bild, nach heutigen Maßstäben kaum skandalös, stellte einen klaren Bruch mit den Normen sowjetischer Fotografie dar, die Frauen und Männer meist als geschlechtslose Idealfiguren abbildeten. "Was diesem Bild nicht entsprach, wurde ganz einfach nicht gezeigt", erklärt Mikhailow. "Die Zensur", sagt er, "war überall." Es gab wenig, das ihr entging.
Zeigen, was offiziell nicht existierte
So entging ihr auch nicht, dass der junge Ingenieur Mikhailow bald eine Art fotografisches Doppelleben führte: Als ihn sein Arbeitgeber 1966 beauftragte, einen kurzen Film über das Werk zu drehen, in dem er damals beschäftigt war, nutzte er die Gelegenheit, um die Linse insgeheim auch auf andere Motive zu richten. Er fertigte eine Serie von Aktfotos an, unter anderem von seiner Frau. Als der KGB bei einer Routinekontrolle die Negative im Labor entdeckte, kostete es ihn den Job. Die Bilder wurden beschlagnahmt.
Oft heißt es, dies sei der Punkt gewesen, an dem er beschlossen habe, sich ganz der Fotografie zu widmen. Tatsache ist, dass Mikhailow sie fortan wichtiger nahm: "Ich fühlte, dass ich hier die Chance hatte, etwas zu sagen. Etwas, was mir als Ingenieur nicht möglich war."
Und so stellte er sich selbst eine ehrgeizige Aufgabe: aufzunehmen, worüber es in der Sowjetunion keine offiziellen Dokumente gab. In den folgenden Jahren fotografierte er alles, was ihm bezeichnend dafür schien, wie die herrschende Ideologie den Alltag der Menschen bestimmte: gleichgültige Teilnehmer einer Volksparade, Straßenszenen, Badende am Ufer eines Sees, wo gigantische Rohre den Schmutz naher Fabriken ins Wasser leiteten. Das Leben eben, in all seinen Facetten: den traurigen und hässlichen - aber auch den witzigen, verrückten und bizarren.
"An ein Ende haben wir nicht gedacht"
Dabei musste diese Tätigkeit stets im Verborgenen ausgeführt werden. Während all der Jahre gab es keine Veröffentlichungen, keine Ausstellungen, kein Publikum für diese Art der Fotografie. Lediglich ein kleiner Kreis Interessierter traf sich zu sogenannten Kitchen Shows - illegalen Zusammenkünften, bei denen neue Arbeiten präsentiert wurden und man sich untereinander austauschen konnte. "In Charkow waren wir damals zu fünft. Dann gab es noch ein paar Leute in Litauen, ein paar in Moskau", erinnert sich Mikhailow, der sich seinen Lebensunterhalt damals als Bodenwischer verdiente.
Wann ihm klar gewesen sei, dass es mit der Sowjetunion zu Ende ging? Gar nicht, sagt er und lacht kurz. "Nein", erklärt er, "so haben wir damals nicht gedacht. Wir konnten uns ja gar nicht vorstellen, dass sie einmal aufhören würde zu existieren." Natürlich habe es Veränderungen gegeben, in den Achtzigern, unter Gorbatschow. Ein Zusammenbruch des gesamten gesellschaftlichen Systems, wie er 1991 eintrat, sei aber jenseits dessen gewesen, was man sich ausgemalt habe.
Und doch sollte es dann schnell gehen: Am 19. August 1991, einen Tag bevor Gorbatschow und einige der Staatenführer der Republiken einen neuen Unionsvertrag abschließen wollten, griff in Moskau eine Gruppe hoher Parteifunktionäre nach der Macht. Der Putschversuch scheiterte am Widerstand der Bevölkerung und Boris Jelzins. Dennoch war damit klar, dass das Sowjetimperium am Ende war - auch wenn die offizielle Auflösung erst im Dezember vor 20 Jahren vollzogen wurde.
Internationale Anerkennung
Im Westen habe man schnell gesagt, der Wandel danach habe etwas Gutes in Gang gebracht, sagt Mikhailow mit Blick auf die folgenden Monate und Jahre des Umbruchs. Die, die ihn vor Ort miterlebten, empfanden die Situation jedoch ganz anders: "Du siehst nicht, dass es besser wird. Du siehst nur, dass alles zerfällt, zusammenbricht. Alles, was gut war, landet auf der Straße."
Für Mikhailow selbst allerdings war es auch eine Zeit großer persönlicher Erfolge. Man begann, sich international für seine Arbeit zu interessieren: Ausstellungen, Preise, Publikationen folgten. Mit einem Stipendium kam Mikhailow 1996 das erste Mal nach Berlin. Es wird erzählt, er habe damals eine Kiste Fotos mitgebracht und am Checkpoint Charlie herumgezeigt. "Stimmt nicht", widerspricht er, und seine Augen blitzen vergnügt. So etwas habe er nicht gemacht.
Er hatte diese PR in eigener Sache wohl auch nicht mehr nötig. Anfang der Neunziger seien seine Arbeiten wirklich gut aufgenommen worden, erinnert sich Mikhailow. "Im Westen wie im Osten." Die Leute hätten verstanden, dass dies ein neues Leben war. Dass es um das Leid eines ganzen Volkes ging. Probleme seien erst später aufgetaucht, erklärt der Künstler - und meint damit die Serie "Case History".
Charkower Obdachlose
Diese Serie, mit der Mikhailows Name bis heute vor allem verbunden ist und mit der er ab 1999 im Kreuzfeuer der Kritik stand, handelte von denen, die beim Zusammenbruch des Systems auf der Strecke geblieben waren: Menschen jeden Alters, die der Zerfall der Mittelschicht auf die Straße gespült hatte. Mehr als 400 Bilder umfasst die Serie. Sie zeigen geschundene Körper, Narben, zerstörte Gesichter.
Viele Kritiker fanden, er habe das Unglück der Menschen ausgenutzt. Auch von Vaterlandsverrat war die Rede, vom Verkauf der Heimat. Insbesondere, dass er die Obdachlosen gebeten hatte, sich auszuziehen, stieß auf Unverständnis. "Man weiß nicht, worüber man mehr bestürzt sein soll", schrieb die Zeitung "Kommersant", "über diese von Ausschlag und Narben bedeckten Körper, die schmutzige Manipulierung oder die hohen Preise, die die fertigen Produkte auf dem Kunstmarkt erzielen." Ein russischer Beamter soll damals gar gedroht haben, "diesen Mikhailov eigenhändig zu erwürgen".
Er habe damals die Obdachlosen sichtbar machen wollen, sagt dagegen Mikhailow. Diese ganz normalen Leute, denen nichts geblieben war als die bloße Existenz.
Gleich zwei von Mikhailows Serien aus den achtziger und neunziger Jahren werden im Januar in Paris zu sehen sein.
Zum Weiterlesen:
Boris Mikhailov: "Tea, Coffee, Cappuccino". Verlag Walther König, 2011, 238 Seiten.