
DDR-Fotograf: Der reale Sozialismus
Fotograf in der DDR "Was machen Sie denn da?"

Siegfried Wittenburg (Jahrgang 1952) ist in Rostock aufgewachsen. Er hat das Leben in der Zeit der Diktatur kritisch beobachtet, tiefgründig dokumentiert und damit gleichzeitig auf subtile Weise auch visuell kommentiert. Sein gesellschaftspolitisches Engagement in Bild, Wort und Tat gilt der jüngsten Geschichte sowie der Gestaltung der deutschen Einheit und der Europäischen Union in Freiheit und Demokratie. Er ist als Künstler und Referent weltweit aktiv und als Autor regelmäßig für SPIEGEL ONLINE tätig. Seit 2014 berichtet Wittenburg in Zeitzeugengesprächen mit Schülern vom Leben in der DDR.
Mehr Fotos von Siegfried Wittenburg zeigt die Ausstellung "Grüße aus der DDR oder Der Alltag in einem verschwundenen Staat" Informationen und aktuelle Termine finden Sie hier .
"Fotografiere das", sagte meine innere Stimme, als mein Blick durch das Fenster unserer neuen Wohnung auf die frischerrichtete, mustergültige Rostocker Großwohnsiedlung Lichtenhagen fiel. "Das ist so verrückt, das musst du festhalten. Tu es! Jetzt!" Es war verrückt, ich tat es.
Kurz zuvor, im Frühjahr 1981, war ich der Arbeitsgemeinschaft Fotografie des VEB Warnowwerft Warnemünde beigetreten. Unser junges "Volkskunstkollektiv" bereitete sich gerade auf die Bezirksfotoschau Rostock vor, die alle zwei Jahre vom Kulturbund veranstaltet wurde. "Hast du was, was du da mit einreichen kannst?", wollten die Kollegen von mir wissen. Ich hatte zumindest eine Idee: Ich würde typische Situationen fotografieren, die mir auf meinem täglichen Weg zur Arbeit begegneten.
Die Motive entwickelte und vergrößerte ich selbst im Badezimmer unserer Wohnung. Das Ergebnis fand ich technisch und gestalterisch einwandfrei - und zeigte die Bilder meiner Schwiegermutter: "Um Gottes Willen", war ihre Reaktion, "willst du dir dein Leben verderben?" Ich verstand nicht, was sie meinte.
"Unansehnlich"
Also reichte ich die Bilder ein - und bekam prompt eine Einladung zur Ausstellungseröffnung. Als Fotograf war ich damals noch unbekannt und deshalb umso überraschter, als die Bezirkschefin des Kulturbundes aufgeregt auf mich zukam, kaum dass ich meinen Namen gesagt hatte: "Herr Wittenburg, Herr Wittenburg, über Ihre Bilder haben wir so viel diskutiert", - ich fühlte mich schon fast geschmeichelt, als sie fortfuhr - "ob die denn nun veröffentlicht werden dürfen oder nicht."
Da verstand ich. Meine Fotos hatten die Genossen in ihren Ansichten zur sozialistischen Realität tief gespalten: Während einige der Ausstellungsbesucher anerkennend feststellten, dass die moddrigen Trampelpfade zwischen den gewaltigen Betonblöcken ihrem eigenen Weg zur Arbeit verblüffend ähnelten, vermuteten andere in der Abbildung von Modderpfützen eine unzulässige Kritik an fehlenden Straßen und Gehwegen. Die sozialistischen Errungenschaften im Wohnungsbau sahen sie durch derartige Aufnahmen offenbar in den Schmutz gezogen. Polarisierungen dieser Art sollten mir von da an noch öfter begegnen - die Befürworter und Gegner meiner Bilder fetzten sich über Jahre.
In meiner Stasi-Akte konnte ich später lesen, was etwa IM "Quartier" - ein mir vorgesetzter Kollege - über mein damaliges Hobby dachte: "Wittenburg versucht offenbar," so gab der Spitzel zu Protokoll, "mit bestimmten Bildern seine kritische Grundhaltung zu verdeutlichen (Darstellung von unansehnlichen Anblicken in Neubaugebieten), wobei aber dafür keine generelle Aussage getroffen werden kann." Genau das schien für die SED-Macht und ihrer Stasi überhaupt ein Problem zu sein - und mein Glück: Texte waren eindeutig. Aber Fotos? Gezeigt wurden die Modderbilder danach trotzdem nicht wieder.
Von der DDR lernen
Wirkung entfalteten die Fotos dennoch. Nach der Veröffentlichung kamen viele junge Leute in unseren Warnemünder Fotoclub "Konkret", zwei Jahre später übernahm ich die Leitung der zeitweise mehr als 20 Mitglieder. Eines Tages, 1986, bat uns der Trägerbetrieb, eine Ausstellung für einen "Freundschaftsbus" zusammenzustellen, der in unsere polnische Partnerstadt Gdynia fahren sollte. Polen war damals ein heikles Thema. Seit einigen Jahren galt dort das Kriegsrecht. Auf die Streikbewegung von 1980 und Solidarnosc reagierte die DDR-Führung mit einer plumpen, aber funktionierenden Hetzkampagne: Weil die "Polacken" nicht arbeiten wollten, müsse ihnen nun die sozialistische DDR zeigen, wie Kultur auszusehen habe.

DDR-Fotograf: Der reale Sozialismus
Nach der Bitte um diese Ausstellung hörten wir monatelang nichts mehr vom geplanten Kulturaustausch, bis auf einmal das Kommando kam: "Stellt eure Sachen zusammen - der Freundschaftsbus fährt in drei Tagen." Bis dahin hatte ich geglaubt, wir würden ebenfalls in diesem Bus sitzen. Tatsächlich aber sollten nur unsere Fotos mit. Ein Funktionär schaute vorbei - und sortierte den schönsten Teil unserer Auswahl gleich wieder aus: allem voran die außergewöhnlichen und subtilen Frauenakte eines befreundeten Fotografen. Ich empfand den Eingriff, noch dazu weil er ohne Begründung erfolgte, als Zensur. Es war unerträglich.
Unsere Ausstellung war damit praktisch zerstört. Wie sollte ich als Clubleiter meinem Freund erklären, dass seine Aktbilder aussortiert worden seien? Ich sah überhaupt nicht ein, mich auf die Seite der Zensoren zu schlagen. Stattdessen lud ich kompetente Leute ein, Mitglieder aus dem Künstlerverband, namhafte Fotografen, damit sie ein gutes Wort für uns einlegten.
Als das nicht half, rahmte ich alle Bilder wieder aus, legte sie in eine Mappe und nahm sie mit nach Hause. Noch in der Nacht verfasste ich einen mehrseitigen Schreibmaschinenbericht an den Chef des übergeordneten FDGB-Bezirksvorstand. Dort gab es in der Kulturabteilung eine junge Mitarbeiterin, mit der ich gut klarkam, weil sie nicht so verbohrt schien wie andere Funktionäre. Ich hoffte auf ihre Unterstützung und listete den Vorgang für sie auf.
Anruf von oben
Kaum hatte ich am nächsten Tag auf der Arbeit meinen Kittel an, klingelte in der Werkstatt das Telefon. Am Apparat war der Kulturhausleiter, Herr über alle kulturellen Aktivitäten des VEB Warnowwerft und somit auch unseres Fotozirkels: "Wo ist die Ausstellung?", fragte er. "Die gibt es nicht mehr", antwortete ich und ahnte, wie auf der anderen Seite eine Rakete startete. Was würde nun passieren? Was konnte passieren? Unsere Arbeitsgemeinschaft war in der DDR ziemlich bekannt, wir hatten Preise gewonnen, für gute Fotos - nicht für Linientreue - sogar eine Goldmedaille der Arbeiterfestspiele erhalten und sogar in Paris ausgestellt. Man würde uns nicht einfach unter den Tisch kehren können.
Der Kulturhausleiter hatte umdisponiert: Der Freundschaftsbus fuhr nun ohne unsere Bilder, dafür mit einem Chor und einer Tanzgruppe an Bord - und ich bekam Hausverbot. "Du hast schweren politischen Schaden angerichtet", so seine Begründung. Von allen weiteren Vorgängen erfuhr ich nur noch durch meine Freunde aus dem Fotozirkel, etwa, dass sie es abgelehnt hatten, an meiner Stelle den Club zu führen, und dass die junge Frau vom FDGB-Bezirksvorstand in der Zwischenzeit Berlin konsultiert hatte. Neun Monate später eine überraschende Nachricht: Der Kulturhausleiter war gefeuert worden. Am nächsten Tag bekam ich eine Einladung. Das Hausverbot sei aufgehoben, teilte man mir mit und fragte mich, ob ich nicht die Leitung des Fotoclubs fortführen möchte. Ich nahm an. Es sollte nicht die letzte Auseinandersetzung mit der Obrigkeit gewesen sein.
Richtig mulmig wurde mir aber erst, nachdem ich mich 1988 auf Rat von Freunden zum Kandidaten des DDR-Künstlerverbandes hatte küren lassen. Um meine Fähigkeiten als "Fotoschaffender" unter Beweis zu stellen, sollte ich eine weitere Bilderstrecke vorlegen, was mir einige Kopfschmerzen bereitete. Die wirklich aussagekräftigen Aufnahmen vom Zustand der DDR, die ich 1987 auf einer Rundreise angefertigt und zu denen mich eine Ausstellung des Fotografen Harald Hauswald in Berlin ermutigt hatte, zeigte ich nur mir sehr vertrauten Menschen. Ich entschied mich stattdessen, den Zustand von Rostocks ältestem Stadtteil zu dokumentieren.
"Mir wurde schlecht"
Es dauerte eine Weile, bis ich die Sache technisch im Griff hatte: Die Kiev 88 - eine schwere Mittelformatkamera aus sowjetischer Produktion - taugte dazu nicht. Als ich endlich die Kamera hatte, die ich brauchte, griff ich Stativ, Leiter und meine neue Pentacon Six, positionierte mich in der Altstadt, wartete auf den richtigen Moment und dachte: Wenn jetzt einer kommt und dich fragt, "was machen Sie da?" Was sag ich dem? Zu meiner eigenen Beruhigung legte ich mir die Antwort zurecht: Ich würde einfach sagen, dass ich hier fotografiere. Und dass man dazu doch wohl keine Genehmigung brauche
Aber es kam nicht einer, es kamen viele: eine Reisegruppe aus dem Westen. "Was machen Sie denn da?" - "Ich fotografiere die Altstadt." - "Welche Mission verfolgen Sie damit?" - "Ich mache es für die späteren Generationen. Damit sich irgendwann mal jemand daran erinnert, wie es im Mai 1989 hier ausgesehen hat."
Der Mann, der mich angesprochen hatte, guckte mich mit großen Augen an, dann griff er in seine Jackentasche und gab mir ein Buch: "Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus" von Rolf Henrich. "Hier", sagt er, "das schenke ich Ihnen."
Mir wurde schlecht. Wenn dich jetzt einer erwischt, dachte ich, und dann mit diesem Buch in der Hand - dann bist du geliefert.
Einige Monate später, Anfang Dezember 1989, kurz nach dem Mauerfall, waren meine Altstadt-Fotografien Teil der Bezirkskunstausstellung in Rostock. Das langfristig vorbereitete Protokoll der Veranstaltung sah vor, dass der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock die Exposition eröffnete. Er tat es - allerdings ohne wahrnehmbares Interesse, denn er war bereits einige Wochen zuvor öffentlich entmachtet worden. Von mir gab es in dieser Ausstellung noch eine zweite Fotoserie - ganz frisch. Ihr Titel: "Wir sind das Volk!" Ich war zufrieden.