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Kreuzberg: Zwischen Party und Protest

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Michael Hughes / Berlin Story Verlag

Kreuzberg in den Achtzigern Ein Engländer in Berlin

Alternativ, anarchisch, links - das war Kreuzberg. Der britische Fotograf Michael Hughes fühlte sich in den Achtzigern vom Berliner Chaos-Stadtteil angezogen. Er ging auf Demos, geriet in Straßenkämpfe und verliebte sich. Auf einestages zeigt er nun seine Sicht auf die wilden Zeiten.
Aufgezeichnet von Solveig Grothe

Ich war knapp 30 und bekam unerwartet Gelegenheit, noch einmal neu anzufangen. Meine Frau hatte mich verlassen. Wir mussten unsere Wohnung in London verkaufen. Und mit dem Ende meiner Ehe war auch mein Freundeskreis verschwunden.

Ich nahm es als Chance und gab meinen Beamtenjob auf. Künftig wollte ich mich ganz der Fotografie widmen. Die kleinbürgerliche Existenz war ohnehin nichts für mich, meine politische Einstellung seit jeher links. Meine neuen Freunde kamen aus der linken Szene. Sie waren Hausbesetzer. Also wurde auch ich ein Hausbesetzer und bezog 1981 ein leerstehendes Gebäude im Londoner Stadtteil Islington.

Im darauffolgenden Frühling stand ich eines Tages im Garten und plauderte mit meinem Nachbarn, einem Hausbesetzer wie ich. Er stammte aus Amsterdam und schwärmte für Berlin: "Da musst du hin!" Die Stadt sei toll, "und wenn Ronald Reagan kommt, wird es dort richtig abgehen", prognostizierte er. Der Besuch des US-Präsidenten war für den 11. Juni 1982 angekündigt. Angesagt hatte sich auch eine breite Front seiner Kritiker.

Kreuzberg, wir kommen!

Mit zwei Freunden machte ich mich also Anfang Juni auf den Weg nach Berlin. Wir kannten dort niemanden, hatten nur eine Nummer - die Telefonnummer des Freundes eines Freundes. Wir sollten Grüße bestellen, dann würde man uns schon helfen.

Kurz hinter Schöneberg kehrten wir das erste Mal in einer Kneipe ein. Weil ich tagsüber keinen Alkohol trinke, bestellte ich Coca-Cola. Das war ein Fehler. Der Barkeeper sah mich erbost an, dann stieß er unmissverständlich hervor: "Wir. Führen. Keine. Ami-Pisse!" Ich war ein bisschen erschrocken.

Als wir mit dem Auto die Yorckstraße entlangfuhren, winkten uns Polizisten heraus. Am Straßenrand kurbelten wir die Fenster des kleinen Renaults runter. Die Beamten sahen uns an, sahen ins Auto und verlangten unsere Pässe. Ihr Blick fiel auf die Tasche, die ich bei mir hatte. Plötzlich wurde es um das Auto herum ganz still. Ich ahnte, was die Polizisten dachten: Aus meiner Tasche ragte ein Griff, der verblüffend dem einer Uzi ähnelte.

Mir schoss durch den Kopf, was ich zuvor gehört hatte: In Italien waren Mitglieder der kommunistischen Brigate Rosse bei einer Polizeikontrolle durch die geschlossene Autotür erschossen worden, weil jemand eine verdächtige Handbewegung gemacht hatte. Linke Gewalt lag in diesen Tagen in der Luft, und ich war ein junger Mann, der eine schwarze Lederjacke trug und sich als cooler Revolutionär wähnte - und aus dessen Tasche etwas ragte, das aussah wie der Teil einer Maschinenpistole.

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Kreuzberg: Zwischen Party und Protest

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Michael Hughes / Berlin Story Verlag

Ich bewegte mich sehr bedächtig, umfasste den hervorlugenden Griff und zog ganz langsam meine Nizo Super 8 Kamera aus der Tasche. Kurz darauf entspannte sich die Situation. Die Polizisten lachten. Wir lachten. Es war dann eigentlich ganz nett.

Wir sind unschuldig!

Die Telefonnummer, die man uns gegeben hatte, gehörte zu einer WG an der Oranienstraße. Einer der Bewohner war ein Gründungsmitglied der Alternativen Liste in Kreuzberg, Westberlins Vorläufer der Grünen, die anderen waren dessen Ex-Frau und eine Aktivistin. Sie nahmen uns bei sich auf, und so erlebten wir den Tag, an dem Reagan kam, direkt vor unserer Haustür in Kreuzberg. Es war das erste Mal, dass ich in einen Straßenkampf geriet.

Und mein erstes Mal in Tränengas. Ich fand das alles total spannend. Natürlich hatte ich auch schon in Großbritannien große Demonstrationen erlebt. Doch diese hier hatte eine andere Qualität.

Ich entdeckte plötzlich, wie unser Auto gerade dabei war, Teil einer Barrikade zu werden, und versuchte, die Leute davon abzubringen. Ich bat sie, dies nicht zu tun - weil wir doch Engländer seien und unschuldig. Sie gaben schließlich nach. Ich durfte den Wagen wegfahren.

Autos anzuzünden und Steine zu schmeißen, war eigentlich nicht mein Ding. Dennoch fand ich die Entschlossenheit und Furchtlosigkeit, mit der die Demonstranten gegenüber der Staatsmacht auftraten, sehr beeindruckend. So etwas hatte ich noch nicht erlebt.

Ich mag Deutschland!

Meine Bewunderung wuchs. Auch dafür, wie die Szene ihre besetzten Wohnungen verteidigte, die zum Abriss freigegeben waren und einer Autobahn weichen sollten. Die Besetzer waren davon überzeugt, dass ihre Sache richtig war - und die des Staates nicht. Sie waren bereit, dafür gegen Gesetze zu verstoßen und notfalls auch in den Knast zu gehen.

Mein eigenes politisches Engagement erschien mir dagegen zaghaft und unbestimmt. Es basierte im Wesentlichen auf der Lektüre von Karl Marx, Louis Althusser und Roland Barthes. Die Zivilcourage imponierte mir.

In Berlin gab es noch ein paar mehr Dinge, die so ganz anders waren als in London. Eine Sache war uns gleich aufgefallen, als wir am ersten Tag am Tiergarten vorbeikamen. Wir waren eine Gruppe von Engländern, die von sich selbst meinte, nicht prüde zu sein: Die vielen Nackten, die sich dort in der Sonne aalten, überraschten uns dann doch.

Ich habe später darüber nachgedacht, woher diese liberale Haltung wohl kommt. Warum die Menschen in Berlin - jedenfalls die meisten, die ich traf - so tolerant und offen waren. Ich habe mich gefragt, ob es vielleicht damit zusammenhing, dass Deutschland die einzige Nation war, die sich tatsächlich mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt hatte und dies noch immer tut. Ob dies ein Grund für diese emotionale Reife war.

In Kreuzberg allerdings stand ich mit meinem positiven Deutschlandbild ziemlich allein da. In Gesprächen war ich oft der Einzige, der etwas Gutes über dieses Land zu sagen wusste.

Verliebt in Berlin

Eine Woche nach unserer Ankunft fuhren meine Freunde zurück nach London. Ich blieb noch. Denn ich hatte mich verliebt - in meine Mitbewohnerin, die Aktivistin.

Eine Zeitlang pendelte ich zwischen London und Berlin hin und her, dann sagte ich mein geplantes Studium am renommierten Goldsmiths-College ab und zog dauerhaft nach Berlin.

Ich fotografierte für den "Südost Express", eine linke, bürgernahe, monatlich erscheinende Kreuzberger Stadtteilzeitung. Die konnte mich zwar nicht bezahlen, dafür brachte sie mich in Situationen, die ich ohne diese Aufträge nie erlebt hätte. So wurde ich förmlich hineinkatapultiert in die Bevölkerung - und lernte innerhalb nur eines Jahres auf der Straße Deutsch. Nun hatte ich auch endlich das Gefühl, richtig dazuzugehören. Kreuzberg war jetzt mein Leben!

Mitte der achtziger Jahre allerdings kühlte diese Begeisterung merklich ab. Die Szene hatte sich gespalten: Auf der einen Seite gab es nun Verhandler, auf der anderen den Schwarzen Block. Die Zeit der bunten Demos, zu denen die Leute ihre Kinder mitbrachten, war vorbei. Die Bewegung hatte sich radikalisiert, bis hin zu faschistischen Tendenzen. Wer nicht sagte, was die Anführer hören wollten, dem drohte Prügel. Im "Südost Express" hatten wir eines Tages eine Versammlung von Leuten mit Baseballschlägern. Sie forderten uns auf, unsere Berichterstattung zu ändern, sonst würden sie das Büro zerschlagen.

Für mich war es Zeit, etwas Neues zu beginnen. Ich wollte mehr von der Welt sehen und mit meiner Fotografie vorankommen. So stellte ich mich bei verschiedenen Magazinen vor, die mir fortan meinen Lebensunterhalt sicherten.

Heute lebe ich noch immer in Berlin - auf Wunsch meiner Frau allerdings im sonnigen Zehlendorf. Kreuzberg vergessen habe ich aber nie. Gelegentlich bin ich dort, treffe alte Bekannte, auch wenn es nicht mehr viele sind. Im Kiez leben heute noch immer die verschiedensten Kulturen nebeneinander. Es ist ein sehr lebendiges Viertel, und es gibt bezahlbaren Wohnraum. Es macht mich froh, weil ich glaube, dass dies aus dem Selbstbewusstsein und der Hartnäckigkeit resultiert, mit der die früheren Bewohner darauf bestanden hatten, dass dies ein Ort für die verrücktesten Lebensweisen bleiben musste.

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