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Schriftstellerin Mary Shelley: Skandale und Liebe

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»Frankenstein«-Autorin Shelley Marys Monster und Dämonen

Eine schillernde Dichter-Clique, Sex auf Mutters Grab, das Herz des toten Liebsten in der Schublade: Die Schriftstellerin Mary Shelley gilt als exzentrische »Queen of Goths«. Ihr Leben lässt jeden Schauerroman verblassen.

Wann immer der Name Mary Shelley fällt, drängt sich Boris Karloff ins Gedächtnis – der Hüne mit den traurigen Bernhardineraugen und der mächtigen, quadratischen Stirn, an der Ponyfransen kleben. Karloff ist der filmische Archetyp der »Kreatur« aus Shelleys erfolgreichstem Roman »Frankenstein oder Der moderne Prometheus« aus dem Jahr 1818.

Etlichen Filmen diente der Klassiker als Vorlage für Horrorvisionen eines im Labor geschaffenen Menschen. Der 2,40 Meter große, hoffnungslos hässliche »Dämon«, den die Autorin im Alter von 19 Jahren erschuf, warf einen gigantischen Schatten auf ihr weiteres Werk. Weil er verletzlich war wie ein Kind, grausam wie ein Raubtier und grüblerisch wie Hamlet. Ein mutterloses Monster, das »Die Leiden des jungen Werthers« las. Eine zutiefst einsame Kreatur, die zum Mehrfachmörder wurde und sich selbst ebenso hasste wie ihr Schöpfer.

Boris Karloff in der »Frankenstein«-Verfilmung von 1935

Boris Karloff in der »Frankenstein«-Verfilmung von 1935

Foto: Colin Slater / Hollywood Photo Archive / imago images

Der gottgleiche Gelehrte Viktor Frankenstein nennt seinen Dämon ein »ekelhaftes Scheusal«, einen »verfluchten Satan«, den er am liebsten eliminieren würde: »Komm her, und ich will den Funken zertreten, den ich in so leichtfertiger Weise angefacht.«

Sommersause mit Schauergeschichten

Die Entstehungsgeschichte des Romans ist legendär: Mary Shelley hatte sich mit ihrem späteren Ehemann Percy, dem skandalerprobten Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori in eine Villa am Genfer See zurückgezogen. Mit von der Partie war auch Marys Stiefschwester Claire Clairmont – schwanger vom Dichterfürst Byron, dem eine Ex-Geliebte einst das Etikett »verrückt, schlecht und gefährlich« verpasst hatte.

Der Sommer 1816 war verregnet, die britische Dichter-Clique vertrieb sich die Zeit mit Genussgiften und Fabulieren. Jeder solle eine Schauergeschichte schreiben, beschlossen sie. Ken Russell hat den ikonischen Moment in seinem Film »Gothic« 1986 als Horrortrip inszeniert; auch ein aktueller Gruselschocker  widmet sich dieser Episode.

Als Vorlage dienten Polidoris Tagebuchnotizen . Der Arzt verewigte Percy Shelley als halluzinierenden Paranoiker, der plötzlich aufschreit, aus dem Raum rennt und dann beim Gedanken an eine Frau mit »Augen anstelle von Brustwarzen« fast den Verstand verliert.

Am Genfer See kam Mary Shelley die zündende Idee zu ihrem »Frankenstein«-Roman. Damit sollte sie ein neues Genre begründen – Science-Fiction. Shelley kannte die berühmten Froschschenkelversuche des italienischen Arztes Luigi Galvani, der schon 1780 die Muskeln toter Amphibien unter Strom gesetzt und so zum Zucken gebracht hatte. 1803 rief man dieselbe Reaktion am Leichnam eines in London hingerichteten Doppelmörders hervor. Warum sollte nicht in Zukunft menschliche Materie auf diese Weise »wiedererweckt« werden?

»Frankenstein« ist vor allem ein Schauerroman. Shelley durchbricht aber das gängige Gut-böse-Muster, indem sie das Monster als ursprünglich unschuldig und den Wissenschaftler Frankenstein als wahren Urheber der Verbrechen zeichnet. Die eigene Vermessenheit stürzt den Fortschrittsgläubigen und sein Umfeld ins Verderben. Weil er Gott und die Natur mit seinem Experiment herausgefordert hat.

Die bis heute andauernde Faszination für das Ehepaar Shelley hat viel mit der unerhörten Freizügigkeit zu tun, die sich beide in ihrem vertrauten Zirkel gönnten. Percy Bysshe Shelley entstammte einer wohlhabenden Aristokratenfamilie, besuchte das Eton College und die Universität Oxford. Er war rebellisch, unbequem, Republikaner, Vegetarier, überzeugter Atheist. Idealistisch, introspektiv und naturvernarrt wie alle romantischen Dichter – aber auch politisch.

»Glaube ist demnach eine Leidenschaft, deren Stärke wie bei jeder anderen Leidenschaft in exakter Proportion zu dem Grad der Aufregung steht. Gott ist eine Hypothese, und als solche bedarf er eines Beweises.«

Percy Bysshe Shelley, »Die Notwendigkeit von Atheismus« (1811)

Mary Godwin profitierte vom intellektuellen Erbe ihrer früh verstorbenen Mutter Mary Wollstonecraft Godwin, einer radikalen Feministin. Marys Vater war der Sozialphilosoph William Godwin, Begründer des politischen Anarchismus und laut eigenem Bekunden  ein soziophober, zurückhaltender, analytisch denkender Mensch – die Inkarnation des calvinistischen Aufklärers.

Er förderte seine Tochter, fütterte sie mit Büchern und Bildung. Sie dankte es ihm mit einer »romantischen und exzessiven« Liebe, wie sie selbst schrieb. Allerdings war Godwin dauerhaft in finanziellen Schwierigkeiten und ging Percy Shelley immer wieder um Geld an, den die Eltern indes kurzhielten.

Für das Schriftstellerpaar Shelley waren Beziehungen politisch, sie mussten frei sein wie die Kunst. Illustre Freunde, Partys, Reisen, Drogen, Promiskuität und gleichgeschlechtliche Liebe – das war die schillernde Hülle dieses Duos. Im Alltag rang es mit durchaus unglamourösen Problemen.

Vom Schicksal verprügelt

Der Kampf gegen die Konventionen war hart, für die Gesellschaft waren sie Aussätzige. Exzentrik musste man sich leisten können – doch diesem Paar mangelte es permanent an Geld und Rückhalt. Die Eltern hatten wenig Verständnis dafür, dass Mary im Alter von 16 mit dem verheirateten Percy Shelley und ihrer Stiefschwester Claire nach Frankreich türmte.

Kurz darauf ließ eine erschütternde Zahl von Katastrophen Mary Shelleys Leben implodieren. Wie sie es schaffte, trotz allem zu schreiben und sich immer wieder aus Schock und Depressionen zu lösen, ist der wirklich spannende Teil ihrer Biografie.

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Schriftstellerin Mary Shelley: Skandale und Liebe

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Binnen wenigen Jahren verlor die nahezu dauerschwangere Mary etliche Menschen aus ihrem engsten Umfeld: Drei ihrer Kinder starben, Percy Shelley kam bei einem Sturm auf See um, sie selbst entging nur knapp dem Tod durch eine Fehlgeburt. Ihre depressive Halbschwester beging Suizid, ebenso Shelleys unglückliche Ex-Frau sowie Byrons Leibarzt Polidori.

Marys Briefe aus dieser Zeit sprechen von Verzweiflung, Entfremdung und Todessehnsucht. Monströs ist etwa die Vater-Tochter-Beziehung in »Mathilda«: Die Novelle entstand zwischen 1819 und 1820, kurz nach dem Tod der Kinder. Veröffentlicht wurde sie erst 139 Jahre später – Shelleys Vater weigerte sich, die Erzählung freizugeben, und nannte die inzestuöse Leidenschaft des Protagonisten »widerlich und verabscheuenswert«.

Literaturkritiker lasen viel Autobiografisches aus Mary Shelleys Werken heraus. Sie stritt Ähnlichkeiten ihrer Figuren mit realen Personen auch gar nicht ab. So standen im dystopischen Roman »The Last Man« Lord Byron und Percy Shelley Modell für die Protagonisten.

Übermächtige Mutterfigur

Mary Shelley gilt vielen noch heute als »Queen of Goths« , weil kolportiert wurde, sie habe über die Grabinschrift ihrer Mutter das Lesen gelernt und eben dort ihre Unschuld an Percy verloren. Wohlige Schauer erzeugt das Gerücht, sie habe einen Teil von Shelleys Herz in seine Gedichte gewickelt und mit Haarlocken ihrer toten Kinder in einer Schreibtischschublade verwahrt.

Tatsächlich pflasterten Leichen den Weg der Schriftstellerin – doch romantisch war daran nichts. Ihre Realität war verlustreicher und gruseliger als jede Fiktion. Sie versank in schweren Depressionen, wurde krank, quälte sich als »Überlebende« mit Schuldgefühlen.

Mary Shelley und der Tod

Februar 1815: Nach einer Frühgeburt lebt Marys Tochter Clara nur wenige Tage.

Oktober 1816: Marys Halbschwester Fanny Imlay nimmt sich mit einer Überdosis Laudanum das Leben.

Ende 1816: Percy Shelleys erste Ehefrau Harriet Westbrook ertränkt sich in einem See im Londoner Hyde Park.

September 1818: Marys zweite, ebenfalls Clara genannte Tochter stirbt in Venedig.

Juni 1819: Marys dreijähriger Sohn William stirbt in Rom an einem Fieber.

August 1821: Byrons Leibarzt John Polidori begeht Suizid, mutmaßlich mit Blausäure.

April 1822: Allegra, Tochter von Lord Byron und Marys Stiefschwester Claire Clairmont, stirbt an Typhus oder Malaria.

Juni 1822: Mary verliert bei einer Fehlgeburt so viel Blut, dass sie fast stirbt. Percy soll sie gerettet haben, indem er sie in ein Eisbad setzte.

Juli 1822: Percy Bysshe Shelley kommt im Sturm bei einem Segelausflug in der Bucht von La Spezia ums Leben.

April 1824: Lord Byron, der sich dem griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Herrschaft des Osmanen angeschlossen hat, stirbt an einem Fieber.

Die Biografin Charlotte Gordon  geht davon aus, dass schon der Kindbett-Tod der Mutter den Grundstein für Shelleys Gewissenskonflikte legte. Sie hatte der berühmten, von allen geliebten Mary Wollstonecraft Godwin durch ihre Geburt das Leben genommen.

Die Philosophin Wollstonecraft war eine mutige Frau, stark geworden unter einer ungerechten Mutter und einem trinkenden, prügelnden Vater. Ihre erste, uneheliche Tochter Fanny zog sie allein auf, fuhr nach Paris und sah schockiert mit an, wie die Französische Revolution  in eine blutige Tyrannei mündete.

Mit der »Verteidigung der Rechte der Frau«  verfasste sie 1792 ein aufrüttelndes Manifest – klug, provozierend, revolutionär. Woolstonecraft versuchte, den pseudobiologistischen Blick auf das angeblich unvollkommene weibliche Geschlecht zu entkräften. Sie forderte nicht weniger, als dass beide Geschlechter im Namen der Freiheit und des Verstandes ihre Rollen überdenken und neu definieren sollten.

»Es ist Zeit, das weibliche Verhalten zu revolutionieren – Zeit, ihnen die Würde zurückzugeben, die sie verloren haben – und sie als Teil der menschlichen Spezies dazu zu bringen, daran zu arbeiten, sich selbst zu reformieren, um die Welt zu erneuern.«

Mary Wollstonecraft Godwin, »Vindication of the Rights of Woman« (1792)

Der Aufruf trug ihr Bewunderung ein, aber ebenso Ärger und Hohn. Weil sie es wagte, den Schriftsteller und Philosophen Jean-Jacques Rousseau für seine gönnerhaft-unaufgeklärte Haltung gegenüber Frauen zu rügen, wandten sich selbst Liberale von Woolstonecraft ab. Dennoch beharrte sie auf dem Anspruch, Frauen müssten ihre Rolle als abhängige Sklavinnen der Männer überwinden, Bildung einfordern und ihren Platz in der Gesellschaft finden.

Wollstonecraft war eine mächtige Mutterfigur, ihr hoher Anspruch vermutlich noch aus dem Jenseits heraus für Mary Shelley spürbar. »Ich habe niemals geschrieben, um die Rechte der Frauen zu verteidigen, aber ich habe mich immer Frauen angenommen, wenn sie unterdrückt wurden«, schrieb Mary, die Jüngere, als wolle sie sich rechtfertigen.

Hatte sie die Ideale der Mutter verraten? Sich kleinmachen lassen von den beiden raumgreifenden literarischen »Genies« Byron und Shelley, vom armen Vater und dem geizigen Schwiegervater? Hatte sie sich doch einsperren lassen in den bürgerlichen Frauenkörper, der nur zum Kinderkriegen da war?

Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde Shelley weniger als eigenständige Künstlerin denn als Anhängsel ihres berühmten Mannes gesehen. Dabei war sie zu Lebzeiten literarisch erfolgreicher als Percy Shelley. Erst die feministische Literaturwissenschaft sollte dieses Bild spät korrigieren.

Dämonen der Vergangenheit

In den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts kehrte Shelley nach Italien zurück, mit ihrem 1819 geborenen Sohn Percy Florence, der als einziges Kind überlebt hatte. Sie berichtete über Restauration und Widerstand noch vor den Unabhängigkeitskriegen gegen das Kaisertum Österreich. Und über die Dämonen der Vergangenheit.

»Dort habe ich die sterblichen Überreste meiner Lieben zurückgelassen – meinen Ehemann und meine Kinder, deren Verlust meine gesamte Existenz verändert hat«, schrieb sie. Auf Liebe und Glück folgten »Jahre trostloser Einsamkeit und ein harter Kampf mit der Welt«.

Mit der Zeit gelang es Mary Shelley wohl, ihre Dämonen in Schach zu halten. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts schrieb sie Kurzgeschichten und Biografien, die sich teils besser verkauften als ihre Romane. Die Lebensgeschichte ihres berühmten Gatten zu verfassen, untersagte ihr dessen Familie aus Angst vor Skandalen ausdrücklich. Stattdessen gab sie Teile seines Werks mit Anmerkungen heraus und ordnete seinen literarischen Nachlass.

Eine so überragende Figur wie Percy sollte es in ihrem Leben nicht mehr geben, sie heiratete auch nie wieder. Am 1. Februar 1851 starb Mary Shelley im Alter von 53 Jahren, vermutlich an einem Gehirntumor.

Wie existenzielle Einsamkeit sich anfühlt, hat kaum jemand so schnörkellos und anrührend formuliert wie ihre »Frankenstein«-Figur, das Monster: »Es war finster, als ich erwachte. Ich fror und hatte ein drückendes Gefühl des Alleinseins.«

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