
Frauenstreik 1975 Als die Roten Socken Island lahmlegten

Die hungrigen Kinder quengelten, die Restaurants waren geschlossen, die Frauen unterwegs. Tausende isländische Väter waren aufgeschmissen. Was nur sollten sie dem Nachwuchs zum Mittagessen servieren?
In der Notlage kam vielen Vätern offenbar derselbe Gedanke für ein Menü, das leicht zuzubereiten ist und Kindern schmeckt: Süßigkeiten und Hotdogs. In den wenigen geöffneten Läden und Tankstellen waren die Würstchen bald ausverkauft.
Am 24. Oktober 1975 erlebten die isländischen Männer, wie abhängig sie von ihren Frauen waren. Denn an diesem Tag weigerten sich die Isländerinnen zu arbeiten, zu kochen und die Kinder zu hüten: Sie traten in einen großflächigen Frauenstreik. Es sollte der entscheidende Anstoß für Islands Aufstieg zum Musterland der Gleichstellung werden.
Wie fast überall auf der Welt wurden die Frauen in Island über Jahrhunderte benachteiligt. Manche mittelalterliche Saga handelt zwar von Heldinnen, die kurzzeitig die Macht in ihrem Clan übernehmen oder sich mit ihren Ehemännern oder Vätern anlegen.
Doch spielen diese Geschichten in einer Gesellschaft, in der Frauen normalerweise nichts erbten und von ihren Vätern verheiratet wurden. Verheiratete Männer durften eine Geliebte haben, Ehebrecherinnen wurden bestraft.
Die Heldinnen werden in Sagas zudem als hinterhältig und manipulativ dargestellt, sorgen für Gewalt unter den Clans und bringen die Gesellschaft durcheinander, so die dänische Mittelalterforscherin Jenny Jochens. Die meisten dieser Geschichten enden damit, dass die aufmüpfigen Frauen sich und ihre Familien in den Abgrund reißen.
Später sollten Literaten die starken Wikingerfrauen verklären, doch mit der Realität hatte das wenig zu tun. Noch Ende des 18. Jahrhunderts lebten 99 Prozent der Familien in kleinen Bauerndörfern. Weil sich die Frauen rund um die Uhr um Kinder und Vieh kümmern mussten, waren sie vom öffentlichen Leben quasi ausgeschlossen.
Die Geschlechterverhältnisse verschoben sich erst im 19. Jahrhundert, als Island seine Fischindustrie ausbaute und die Bevölkerung in die Hafenstädte zog. Während die Männer teils wochenlang zur See fuhren, arbeiteten viele Frauen in Fischfabriken.
Dort tauschten sich die Frauen aus und gründeten Gruppen, etwa um gemeinsam für Nähmaschinen zu sparen. Bald aber erwuchs in manchen Gruppen ein feministisches Bewusstsein. Die Lehrerin Bríet Bjarnhéðinsdóttir wurde Kopf der Bewegung und vernetzte sich mit Feministinnen aus der ganzen Welt, darunter auch die deutsche Juristin Anita Augspurg.
Die Bewegung erstritt, dass Island 1915 als eines der ersten Länder das Frauenwahlrecht einführte. Frauen konnten auch für das Parlament kandidieren - doch die Chefs der großen Parteien sperrten sich dagegen, weibliche Kandidatinnen auf aussichtsreiche Listenplätze zu setzen.
Aktivistinnen stellten eine Frauenliste auf, klebten Plakate an Hauswände und klopften an Türen, um Wählerinnen und Wähler von sich zu überzeugen. Bei der Wahl 1922 holte die Liste ein Fünftel der Stimmen, Ingibjörg Bjarnason zog als erste Frau ins Parlament ein.
Und doch stießen Vorkämpferinnen wie Bjarnhéðinsdóttir und Bjarnason in Island nur ein zartes Umdenken an, gleichgestellt waren die Frauen noch lange nicht. 1975 lag die Frauenquote im Parlament bei nur fünf Prozent - selbst in Deutschland war der Anteil etwas höher, in Schweden sogar vier Mal so hoch.
Isländische Frauen wurden zudem deutlich schlechter bezahlt als Männer, die denselben Beruf ausübten - im Einzelhandel etwa verdienten sie 25 Prozent weniger. Neben dem Beruf mussten sie sich weiter um Hausarbeit und Kindererziehung kümmern.
Gegen diese Benachteiligung kämpften in den Siebzigerjahren die "Roten Socken", der isländische Ableger einer revolutionär-feministischen Gruppe, die in New York gegründet worden war. Um sich Gehör zu verschaffen, setzten sie auf provokante Aktionen. "Einmal haben wir eine Hausfrauenpuppe öffentlich an einem Weihnachtsbaum gekreuzigt", erinnert sich eine Aktivistin in einem Dokumentarfilm. "Alte und junge Männer kamen und drohten uns Schläge an."
Die Rotstrümpfe waren es auch, die schon 1970 einen Streik forderten. Für einen wirksamen Aufstand aber brauchten sie die Unterstützung der gemäßigteren Frauenverbände. Die blockten zunächst ab - das Wort "Streik" klang ihnen zu sehr nach Klassenkampf und Kommunismus. Zudem wäre ein Streik illegal gewesen.
Der Durchbruch gelang Streikbefürworterinnen auf einem Kongress der Frauenverbände im Sommer 1975. Mit dabei war damals Gerður Steinþórsdóttir, eine 31-jährige Lehrerin und zweifache Mutter, die den Rotstrümpfen nahestand. Sie hatte die Idee, Kampftag nicht als Streik zu bezeichnen, sondern "Kvennafrídagurinn", also "Frauenruhetag": ein Begriff, der für die moderateren Gruppen annehmbar war.
Steinþórsdóttir ließ Zehntausende Flugblätter drucken und schaltete Radioansagen. "Die Arbeitgeber haben erst angekündigt, dass sie Frauen feuern, die nicht zu Arbeit kommen", sagt Steinþórsdóttir im Telefongespräch mit einestages, "dann haben sie gemerkt, wie groß die Bewegung ist - und nachgegeben."
Am 24. Oktober war es soweit. Bis auf Krankenschwestern und Ärztinnen traten fast alle werktätigen Frauen in den Streik: Die Quote lag laut isländischen Zeitungen bei 90 Prozent. Kitas, Schulen, Milchgeschäfte, Fischfabriken und Kinos blieben geschlossen. Die Hausfrauen gingen einfach und ließen ihre Männer mit den Kindern zurück.
Viele Väter hatten die Streikaufrufe zuvor belächelt, jetzt mussten sie damit umgehen. Manche blieben zu Hause - andere nahmen ihren Nachwuchs mit zur Arbeit. Im Studio des öffentlichen Rundfunks etwa spielten Kinder und unterbrachen die Nachrichtensprecher bei ihren Ansagen.
Die Frauen sammelten sich unterdessen in der Hauptstadt Reykjavík. Zuerst kochten und aßen sie gemeinsam in Frauenhäusern - Steinþórsdóttir verzehrte einen Hotdog. "Das hat die Versorgungslage für die Männer zusätzlich verschärft", scherzt sie 44 Jahre später.
Am Nachmittag begann die Demonstration. Eine Blaskapelle spielte Arbeiterweisen und die Frauen stimmten gemeinsam Lieder an, als sie zum zentralen Platz in Reykjavik gingen. Dutzende Männer schlossen sich dem Zug an, darunter auch der Gatte von Steinþórsdóttir.
"Es war wunderbar. Wie die Arme eines Flusses strömten die Frauen herbei und vereinigten sich auf dem Lækjartorg-Platz", sagt Steinþórsdóttir, die damals auf der Bühne stand. Insgesamt kamen 20.000 bis 25.000 Menschen - es war die bis dahin größte Demonstration des Landes mit damals etwa 220.000 Einwohnern. Steinþórsdóttir feierte bis fünf Uhr morgens.
Einigen wenigen Isländern missfiel der Ruhetag, konservative Männer sahen darin das Ende der Ehe. Die breite Öffentlichkeit aber unterstützte den Streik. Das "Dagblaðið" schrieb: "20.000 Frauen klatschten gemeinsam". Die linke Zeitung "Þjóðviljinn" titelte: "Wir stehen vereint".
Doch am Montag danach war vom Enthusiasmus nicht mehr viel zu spüren. Die Hausfrauen kehrten an den Herd zurück, die Arbeiterinnen in ihre schlechtbezahlten Jobs. Eine Frau von den Roten Socken sah den Streik als verpasste Chance für eine Revolution: Die Demonstration sei eine "nette Party" gewesen, die aber nichts ändern werde. Sie sollte sich täuschen.
Denn durch den Streik lernten junge Frauen, wie viel sie erreichen können, wenn sie sich organisieren. Und die Männer erkannten, wie anstrengend Hausarbeit und Kindererziehung sind - einige Väter sollten ihre Feuertaufe als Hausmänner noch Jahrzehnte später "der lange Freitag" nennen.
"Dieser Sinneswandel sickerte ganz allmählich in die Politik", sagt Steinþórsdóttir. Ein Jahr nach dem Streik verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Gleichstellung. 1980 wählte die Bevölkerung als erstes Land der Welt ein weibliches Staatsoberhaupt: die geschiedene und alleinerziehende Theaterdirektorin Vigdís Finnbogadóttir - auch sie hatte fünf Jahre zuvor gestreikt. Wenig später zog eine feministische Partei ins Parlament ein.
So stieg Island zum Musterland der Gleichstellung auf. 2009 erreichte die Inselnation den ersten Platz im Gleichstellungsranking des World Economic Forum und führt die Liste seither an. Steinþórsdóttir mahnt: "Das Ranking zeigt doch nur, wie schlimm die Situation in den anderen Ländern ist."
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Feministischer Aufbruch: Am 24. Oktober 1975 traten die Isländerinnen in einen
Allein unter Männern: Der Streik knüpfte an eine feministische Tradition im Land an. Schon 1915 hatten die Isländerinnen das Frauenwahlrecht erstritten. Wenig später zog Ingibjörg Bjarnason (unten, 5.v.l.) als erste weibliche Kandidatin ins Parlament ein. Das Foto entstand 1924.
Abwesend: An der Rollenverteilung in den isländischen Haushalten änderte das Wahlrecht allerdings kaum etwas. Viele Männer fuhren wochenlang zur See, wie diese Fischer (Foto um 1900). Die Frauen blieben zu Hause.
Hausarbeit: Viele Frauen mussten sich um die Kinder und den Hof kümmern. Das Foto entstand in den Sechzigerjahren und zeigt zwei Isländerinnen in traditioneller Tracht mit ihren Kindern.
Arbeiterinnen: Andere Frauen schufteten in den Fischfabriken, wo sie oft weniger als ihre männlichen Kollegen verdienten (Foto von 1971).
Organisierter Widerstand: Gegen diese Benachteiligung wollten die isländischen Frauenverbände ein Zeichen setzen. Das Wort "Streik" war vielen zu radikal - also nannten sie den Ausstand "Frauenruhetag". Im Bild präsentiert das Streik-Komitee um einestages-Interviewpartnerin Gerður Steinþórsdóttir (3.v.r.) die Plakatkampagne.
Antike Aktivistinnen: Vorbilder für einen Frauenstreik hatten die Isländerinnen genug. In der Komödie "Lysistrata" von Aristophanes etwa verweigern Ehegattinnen den Sex, um ihre Männer zum Frieden zu bewegen (Foto einer Aufführung von 1920 im Schauspielhaus Berlin).
Gegen den 14-Stunden-Tag: Auch in der moderneren Geschichte gab es Leitbilder. 1888 streikten mehr als tausend teilweise jugendliche Arbeiterinnen zweier Londoner Streichholzfabriken für kürzere Arbeitszeiten.
Durchsetzungsstark: In Österreich streikten 1893 die Textil-Arbeiterinnen mehrere Wochen lang. Angeführt von den Sozialdemokratinnen Adelheid Popp (rechts hinten) und Amalie Seidl (mittig vorne) erzwangen sie bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten.
Aufstand der Massen: Den bis dahin wohl größten Frauenstreik organisierte eine Gewerkschaft 1909 in New York - 20.000 meist jüdische Näherinnen gingen auf die Straße.
Gleiche Arbeit, gleiche Löhne: Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs traten in Großbritannien Tausende Tram-, Bus- und U-Bahnfahrerinnen in einen wilden Streik. So erstritten sie, dass sie den gleichen Kriegsbonus bekamen wie ihre männlichen Kollegen: pro Woche fünf Shilling.
Besetzt: 1937 streikten in Detroit 180 Verkäuferinnen des Kaufhauses Woolworth. Sie kündigten an, im Laden zu bleiben, bis ihre Bedingungen erfüllt werden: 40-Stunden-Woche und Lohnerhöhungen. Die Besetzung dauerte eine Woche, dann gab die Geschäftsleitung nach.
Streik für Frieden: Nicht immer ging es den Frauen nur um Löhne oder Arbeitsbedingungen. 1961, als sich der Kalte Krieg in einen scharfen Atomkrieg zu wandeln drohte, streikten Pazifistinnen in Dutzenden US-Städten. Das Foto zeigt Demonstrantinnen, die den Senator John A. Carroll in Denver konfrontieren. "Ich kann ihnen versichern, dass ich auch für Frieden bin und den Krieg hasse", beteuerte Carroll damals. Auch andernorts gingen Frauen auf die Straßen, etwa in...
...New York, wo die Teilnehmerinnen des "Strike for Peace" vor dem Gebäude des sowjetischen UN-Gesandten Arkadi Sobolew protestierten. Das Plakat mit der weißen Milchflasche (Aufschrift: "Death - Disease - Deformity") ist vermutlich eine Anspielung auf die Tatsache, dass nukleare Strahlung sich in Milch ansammelt.
Niedergezwungen: 1968 streikten die Näherinnen einer Ford-Fabrik in London, weil sie deutlich weniger verdienten als ihre männlichen Kollegen. Nach drei Wochen setzten sie ihre Forderung durch - zwei Jahre später verabschiedete das britische Parlament ein Gesetz zur Gleichstellung bei der Bezahlung.
Jubiläum: Zum 50. Jahrestag der Einführung des Frauenwahlrechts in den USA kamen 1970 bei einem Streik in New York mehr als 50.000 Demonstrantinnen zusammen. Ihre Forderungen: Gratis-Kinderbetreung, Gratis-Abtreibungen und gleiche Chancen im Berufsleben.
Die ganze Insel: Trotz all dieser Vorläufer war der Frauenruhetag in Island 1975 etwas Besonders. Es war das erste Mal, dass die große Mehrheit der Frauen eines Landes die Arbeit niederlegte - Zeitungen meldeten Streikquoten von 90 Prozent (Bild von der Kundgebung).
Mobilisiert: Auch die Demonstration war in dem kleinen Land einzigartig. Je nach Schätzung kamen 20.000 bis 25.000 Frauen in die Hauptstadt Reykjavík, etwa ein Zehntel der damaligen Bevölkerung.
Resonanz: Alle isländischen Zeitungen berichteten ausgiebig über den Streik. Das auflagenstarke "Morgunblaðið" (Morgenblatt) titelte nüchtern: "Zusammenkunft der Frauen auf dem Lækjartorg-Platz: 20 - 25 Tausend Leute".
Staatsoberhaupt: Der Streik veränderte, wie Isländerinnen und Isländer über Gleichstellung und die Rollen von Frauen dachten. 1980 wählte die Inselnation als erstes Land der Welt eine Frau zur Präsidentin: die geschiedene und alleinerziehende Theaterdirektorin Vigdís Finnbogadóttir.
Solidarität: Doch auch nach dem Streik der Isländerinnen gab es wichtige Frauenaufstände in aller Welt. So etwa 1977 in London: In einem Fotolabor der Stadt arbeiteten Frauen vor allem asiatischer Herkunft unter schlechten Bedingungen. Als 1976 eine von ihnen entlassen wurde, begannen die Arbeiterinnen zu streiken (Foto von 1977). Andere Gruppen solidarisierten sich, auch weiße Männer aus der Arbeiterklasse. Der Protest aber wurde von der Polizei zerschlagen.
Auf der Leinwand: Der britische Regisseur Nigel Cole drehte einen Film über den Streik der Londoner Ford-Näherinnen von 1968. Im Original heißt der Film "Made in Dagenham", nach dem Vorort, in dem die Fabrik stand. In die deutschen Kinos kam der Streifen 2011 unter einem anderen Namen: "We want Sex".
Gegen Frauenmorde: 2016 riefen argentinische Aktivistinnen zu einem Frauenstreik auf. Unter der Parole "Ni una menos" (nicht eine weniger) prangerten sie in Buenos Aires Gewalt gegen Frauen an. Auf anderen Teilen der Welt solidarisierten sich Aktivistinnen und streikten in den Folgejahren am 8. März, dem Internationalen Frauentag.
Schwarzer Protest: In Polen demonstrierten im Jahr 2016 Zehntausende Frauen in dunklen Kleidern gegen das Abtreibungsverbot. Das Bild zeigt Demonstrantinnen in Krakau.
Weltweiter Protest: Am 8. März 2017 organisierten Aktivistinnen in mehr als 30 Städten einen transnationalen Frauenstreik - das Bild zeigt eine Kundgebung in der US-Stadt Philadelphia. Im Folgejahr weitete sich die Bewegung auf 177 Länder aus - allein in Spanien nahmen fünf Millionen Menschen teil.
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