
«Stüüre zahle, aber au ad Wahle!« Wie die Schweizerinnen ihr Recht erstritten
Ursula Düren / dpa
50 Jahre Schweizer Frauenwahlrecht Warum Männer sich so lange gegen die Demokratie stemmten
»Die Wiege aller europäischen Freiheit und Gleichheit, die Schweiz, hält ihre Töchter enteigneter und geknechteter als keine der sie umringenden Monarchien; das mündigste Volk Europas betrachtet und behandelt seinen weiblichen Bestandtheil als das unmündigste Kind.«
Mit diesen Worten geißelte die Berner Feministin Julie von May von Rued schon 1872 die rechtliche Diskriminierung der Frauen in der Schweiz. Doch erst am 7. Februar 1971 erhielten auch die Schweizerinnen das Stimmrecht auf Bundesebene – 78 Jahre nach Neuseeland, 41 Jahre nach der Türkei, 26 Jahre nach Togo. In Europa waren nur Portugal (1974) und Liechtenstein (1984) noch später dran.
SPIEGEL: Die Schweiz nimmt gern für sich in Anspruch, die »älteste Demokratie der Welt« zu sein. Wieso war ausgerechnet diese Urdemokratie so lange undemokratisch und schloss die halbe Bevölkerung von Wahlen aus?
Rohner: Ganz einfach: Weil die Männer es so wollten! Um das Frauenwahlrecht einzuführen, war eine Volksabstimmung zur Änderung der Schweizer Bundesverfassung nötig. Die Männer wurden befragt – und stimmten noch 1959 mit »Nein«. Ob die Männer in Deutschland 1918 fürs Frauenwahlrecht votiert hätten, wenn man sie gefragt hätte?
SPIEGEL: Wohl kaum. Also ist die direkte Demokratie schuld an der enormen Verspätung?
Rohner: Sie hat sicher dazu beigetragen, dass Schweizerinnen bis 1971 politisch rechtlos waren. Bis vor 50 Jahren machten Männer die Gesetze – Frauen hatten sich zu unterwerfen. Erst 1988 kam es in der Schweiz zur zivilrechtlichen Gleichberechtigung. Davor war die Ehe eine Art Leibeigenschaft: Ohne Zustimmung des Ehemannes durften verheiratete Frauen weder arbeiten noch größere Anschaffungen tätigen oder über ihren Wohnort entscheiden.
SPIEGEL: Im 20. Jahrhundert fehlten in der Schweiz die politischen Brüche, die eine neue gesellschaftliche Ordnung etabliert hätten.
Rohner: Anderswo, etwa in Deutschland, Italien oder Frankreich, brachten Kriege oder Revolutionen den Frauen das Wahlrecht, in der Schweiz gab es diese Zäsuren nicht. Obwohl Schweizer Feministinnen politische Partizipation bereits seit den 1860er-Jahren eingefordert hatten, etwa Marie Goegg oder Emilie Kempin-Spyri...
SPIEGEL: ...die als erste Juristin Europas gilt. Wieso durften Frauen in der Schweiz so früh studieren und so spät wählen?
Rohner: Weil das ein lukrativer Markt für die Unis war (lacht)! Aus ganz Europa strömten ab den 1860er-Jahren die intellektuellen Töchter reicher Familien in die Schweiz. Lou-Andreas Salomé etwa, viele spätere Ärztinnen, Frauenrechtlerinnen wie Anita Augspurg und Käthe Schirmacher. Schweizerinnen indes musste man mit der Lupe suchen, weil Mädchen nicht den gleichen Zugang zur Bildung hatten wie Jungen. Noch in den 1960er-Jahren war es alles andere als selbstverständlich, dass ein Mädchen aufs Gymnasium geht.
SPIEGEL: Die Geschlechterforscherin Andrea Maihofer bezeichnet die Schweiz als »›Männerstaat‹ mit einem zutiefst männerbündischen Verständnis von Staat und Demokratie«. Warum?
Rohner: Das Selbstbild der Schweiz als wehrhafter Staat ist Teil unseres kulturellen Gedächtnisses und basiert auf dem Gründungsmythos, dem Rütlischwur. 1291, so die Legende, trafen sich die drei Eidgenossen auf der Rütli-Bergwiese, um sich gegen die tyrannischen Vögte der Habsburger zu verbünden. Einfache Bauern standen auf und sagten: Wir kämpfen! Wir verteidigen unsere Familien! Der Mann ist in diesem Narrativ fürs öffentliche Leben, die Politik, das »Außen« zuständig – die Frau hat in der Scheune zu warten und sich um die Kinder zu kümmern. Diese Dualität ist in der sehr ländlich geprägten Schweiz stark ausgeprägt.
SPIEGEL: Die Schweiz ist ein sehr heterogenes Gebilde aus drei Regionen mit vier Sprachen. Führt auch das zu Strukturkonservativismus?
Rohner: Möglich. Aber gerade, weil wir uns rein sprachlich schon nach Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland orientieren, hätte die Schweiz auch viel progressiver sein und das Wahlrecht deutlich früher einführen können.

Demo 1964 in Lausanne: Die Frauen verloren die Geduld und wurden offensiver
Foto: RDB / ullstein bildSPIEGEL: Bei der ersten Abstimmung am 1. Februar 1959 votierten zwei Drittel gegen das Frauenwahlrecht. Wovor fürchteten sich die Männer?
Rohner: Sie hatten Angst, Macht abzugeben, die Kontrolle zu verlieren. Und beschworen die angeblich drohende Vermännlichung der Frauen. Nehmen Sie das berühmte Anti-Wahlrechts-Plakat vom Nuggi (Schnuller, die Redaktion), über den eine Biene krabbelt. Die Botschaft: »Seht her, unsere Kinder geraten in Gefahr, die Gesellschaft verwahrlost, wenn wir den Frauen das Wahlrecht geben!« Die ganze Schweiz war tapeziert mit diesen Nuggis und anderen stark emotionalisierten, frauenfeindlichen Bildern.
SPIEGEL: 1959 entstand der antifeministische »Bund der Schweizerinnen«. Was hatten ausgerechnet diese vielfach überdurchschnittlich gebildeten Damen gegen das Wahlrecht?
Rohner: Antifeminismus ist eine Antwort auf Feminismus. Es gab und gibt Unterstützer des Patriarchats in allen Ländern dieser Welt, das ist nicht typisch schweizerisch. Und auch nicht typisch männlich: Frauen sind ja nicht per se klüger als Männer.
SPIEGEL: Die Mutter des Schweizer Schriftstellers Adolph Muschg soll das Frauenwahlrecht damals mit den Worten kommentiert haben: »Jetzt müssen wir den Männern das auch noch abnehmen!«

«Stüüre zahle, aber au ad Wahle!« Wie die Schweizerinnen ihr Recht erstritten
Ursula Düren / dpa
Rohner: Ja, ja. Immer wieder wird auf einzelne Schweizerinnen verwiesen, die das Wahlrecht gar nicht wollten, statt die vielen zu erwähnen, die ihr Leben lang dafür gekämpft haben. Aber: Wir sollten nicht überbewerten, was die Martha aus Urnäsch so sagt. Das Wahlrecht ist ein demokratisches Grundrecht und steht darum allen Bürgerinnen und Bürgern zu – ob sie es dann auch alle nutzen, ist eine andere Frage.
SPIEGEL: Bei der zweiten Volksabstimmung am 7. Februar 1971 sprachen sich zwei Drittel der Männer pro Wahlrecht aus. Warum knickten sie ein?
Rohner: Ab 1959 war einiges in Gang gekommen. Viele Kantone, vor allem in der Westschweiz, gewährten den Frauen das Wahlrecht auf Kantonsebene, was gut funktionierte. Zudem hatte sich die Frauenbewegung fundamental gewandelt.
SPIEGEL: Bis in die Sechzigerjahre traten Schweizer Feministinnen eher brav auf.
Rohner: Auch da unterscheidet sich die Schweiz nicht so sehr von Deutschland. Man hat mit Vernunft agiert, Petitionen eingebracht und dann gut erzogen die Reaktion abgewartet. Ob es was gebracht hätte, wenn wir schon im frühen 20. Jahrhundert militant aufgetreten wären und einen Scheiterhaufen vor dem Bundeshaus angezündet hätten? Wohl eher nicht.
SPIEGEL: Der Druck wuchs, die Schweizerinnen gingen auf die Straße, organisierten 1969 den Marsch auf Bern.
Rohner: Da war Schluss mit lustig, die Frauen erhoben sich. Die Männer merkten: Die meinen das wirklich ernst. Zudem drohte ein erheblicher Reputationsschaden: Die Schweiz wollte 1968 nur mit Vorbehalt die schon 1950 vom Europarat verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention unterschreiben. Warum? Weil sie das Frauenwahlrecht enthielt! Die Männer gaben 1971 auch nach, um diese außenpolitische Blamage abzuwenden.
SPIEGEL: Bis alle Schweizerinnen auch auf Kantonsebene wählen konnten, vergingen zwei weitere Jahrzehnte. Wie kann es sein, dass ein Bürger von Appenzell-Innerrhoden noch 1990 der Presse erklärte: »Nur faule Weiber, die den ganzen Tag im Café sitzen und fünf vor zwölf eine Raviolibüchse öffnen, wollen das Stimmrecht«?
Rohner: Das ist wirklich schwer zu verstehen (lacht). Zumal es rein juristisch Unrecht war: Grundrecht auf Bundesebene schlägt Grundrecht auf Landesebene. Der Kanton Appenzell-Ausserrhoden kriegte 1988 gerade noch die Kurve, der Nachbar Innerrhoden schaltete auf stur und weigerte sich bis zuletzt. Dass die Appenzeller verfassungswidrig handelten, musste schließlich das Bundesgericht feststellen.
SPIEGEL: Um wie viele Menschen ging es?
Rohner: Appenzell-Innerrhoden ist ein stark ländlich geprägter Mini-Kanton in den Bergen mit rund 16.000 Einwohnern. Die letzte Bastion der Männlichkeit war also sehr klein, hat aber einen denkbar großen Schaden für die Schweizer Demokratie angerichtet. Es ist dem harten Kampf einer Frau zu verdanken, Theresia Rohner, dass die Frauen dort heute wählen dürfen.
SPIEGEL: Theresia Rohner, mit Ihnen nicht verwandt, legte 1989 Beschwerde beim Bundesgericht ein.
Rohner: Weil sie es überhaupt nicht einsah, zwar Steuern zahlen zu müssen, aber nicht mitbestimmen zu dürfen. Das Gericht spielte den Ball an Appenzell-Innerrhoden zurück. Die Landsgemeinde lehnte am 28. April 1990 das Frauenwahlrecht abermals ab – nur 28 Sekunden dauerte die Abstimmung, man kann sie sich auf YouTube ansehen . Erst jetzt, nach diesem Skandal, solidarisierten sich andere Frauen und Männer mit Rohner und legten ebenfalls Beschwerde ein. Ende November 1990 entschied das Bundesgericht: Ab sofort dürfen auch die Appenzell-Innerrhoderinnen wählen – gegen den Willen der Männer.
SPIEGEL: Die »Heldin von Appenzell« hat sich komplett zurückgezogen, ein Gespräch mit uns abgelehnt.
Rohner: Für Theresia Rohner war es eine traumatische Zeit, das müssen Sie verstehen. Sie wurde bedroht und stand unter Polizeischutz, Beamte eskortierten ihre Kinder auf dem Schulweg. Das geht an niemandem spurlos vorüber. Sie hat Appenzell verlassen und ein neues Leben angefangen.
SPIEGEL: Die Schweizerinnen haben bei der politischen Teilhabe mächtig aufgeholt. Können sie sich zufrieden zurücklehnen?
Als die Zeit stillzustehen schien: Ausschnitte aus dem Film »Die göttliche Ordnung« über den Kampf der Schweizer Frauen
Rohner: Auf keinen Fall! Im Nationalrat halten Frauen zwar aktuell 42 Prozent der Sitze, im Deutschen Bundestag sind es nur 31 Prozent. Aber es gibt noch immer Kantone mit reiner Männerregierung. Auch wirtschaftlich bleibt Luft nach oben: Der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern beträgt acht Prozent, zu wenige Frauen sitzen in Führungspositionen. Und: Die Schweiz hat weiter eine hohe Rate gut ausgebildeter Frauen, die nicht berufstätig und somit ökonomisch abhängig sind. Die Care-Arbeit ist noch viel zu ungleich verteilt.
SPIEGEL: Zum Wahlrechtsjubiläum sagte Andrée Valentin, Ikone des Schweizer Feminismus, der »NZZ« in einer vernichtenden Bilanz , die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern seien immer noch wie 1971.
Rohner: Wir haben viel erreicht, aber 1971 ist für die Gleichberechtigung in der Schweiz in vielen Punkten der Anfang, nicht das Ende. Zudem fehlt es an Aufarbeitung dieses Teils der Schweizer Geschichte: Das verspätete Frauenwahlrecht ist ein bis heute verdrängter Skandal. Ich fordere die Schweizer Regierung auf, dass der Bundesrat diese Schuld anerkennt – und sich offiziell entschuldigt.