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Interview mit Michael Stich: "Zweite Plätze gehen nicht in die Geschichte ein"

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Michael Stich in Paris 1996 "Fast perfektes Tennis"

Erst wollte er gar nicht antreten, dann stand Michael Stich 1996 plötzlich im Finale. Hier erinnert er sich, wie er den weltbesten Sandplatzspieler zur Verzweiflung trieb - um danach an sich selbst zu verzweifeln.

einestages: Herr Stich, 1991 haben Sie Wimbledon gewonnen. Noch heute fast ebenso präsent ist das Finale der French Open von 1996, das Sie als erster und bis heute einziger deutscher Herrenprofi der Nachkriegszeit erreichten. Welcher Moment ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Stich: Hängen geblieben ist vor allem, dass ich es heute bedauere, dieses Finale gegen Jewgeni Kafelnikow verloren zu haben. Ich hatte alle Chancen, aber irgendwie habe ich nicht genug an mich geglaubt.

einestages: Sie hätten in Paris gewinnen können - oder müssen?

Stich: Müssen. Es lag allein an mir, dass ich es nicht geschafft habe. Ich habe im ersten Satz mit Break geführt, im zweiten Satz mit zwei Breaks geführt, im dritten Satz ebenfalls mit einem Break geführt. Das sollte reichen, um so ein Match für sich zu entscheiden.

einestages: Stattdessen haben Sie dreimal die Führung aus der Hand gegeben und alle drei Sätze äußerst knapp verloren. Was lief schief?

Stich: Es lief schief, dass ich im Finale zum ersten Mal während des gesamten Turniers darüber nachgedacht habe, dass ich ja die French Open gewinnen könnte. Und diese 30 Sekunden des Nachdenkens haben mir genau die Lockerheit und Unbekümmertheit genommen, die mich in den Spielen zuvor ausgezeichnet hatten. Das hat dazu beigetragen, dass ich verkrampfte.

Zur Person
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Michael Stich, geboren 1968, begann seine Profi-Karriere erst mit 20, startete dann aber schnell durch. 1991 bezwang er in Wimbledon die gesamte Weltelite und schlug im Finale Boris Becker. Zwei Jahre später gewann er die ATP-Weltmeisterschaft. Noch während seiner Karriere gründete er die Michael Stich Stiftung, die sich für HIV-infizierte und an Aids erkrankte Kinder einsetzt. Bis heute leitet er das Turnier am Hamburger Rothenbaum.

einestages: Ihr Finaleinzug war dennoch die Sensation des Turniers. Ende 1995 hatten Sie sich in Wien schwer am Knöchel verletzt. Ihr Fuß knickte dabei so schlimm weg, dass man sich die Bilder im Fernsehen kaum ansehen konnte.

Stich: Es tat einfach nur höllisch weh. Diese Bilder kann ich mir bis heute kaum anschauen.

einestages: Das Außenband war gerissen, die Kapsel im Sprunggelenk beschädigt - trotzdem gewannen Sie nach Ihrer Rückkehr gleich ein Turnier in Antwerpen...

Stich: …...und bin gleich wieder dämlich mit demselben Fuß umgeknickt. Erneut war ich drei Monate verletzt und habe danach in Rom in der zweiten Runde verloren. Ich war schlecht drauf, es hat nicht wirklich Spaß gemacht. Deshalb wollte ich die French Open eigentlich gar nicht spielen, sondern mich lieber früh auf Wimbledon vorbereiten.

einestages: Warum sind Sie dennoch angetreten?

Stich: Mein Coach hat mich überredet. Er hat gesagt: Komm Michael, jedes Match ist besser als Training. Erst eine Woche vor Turnierbeginn habe ich entschieden, Paris tatsächlich zu spielen.

einestages: Niemand rechnete mit Ihnen. Wuchsen Sie deshalb über sich hinaus?

Stich: Vielleicht. Ich habe ohne Erwartungshaltung gespielt. Dadurch war ich sehr locker und spürte keinen Druck. Das Schöne war, dass ich von Runde zu Runde mit Spaß und Freude gespielt habe und mich immer mehr steigern konnte. Der absolute Höhepunkt war das Achtelfinale gegen Thomas Muster. Es war besonders befriedigend, den Titelverteidiger und besten Sandplatzspieler der Welt gerade in Paris schlagen zu können.

einestages: Der Österreicher Muster hatte 1995 und bis Mai 1996 schon insgesamt 17 Turniere gewonnen, fast alle auf Sandplätzen. Er war also in Top-Form und galt auf dem langsamen Sandbelag als fast unschlagbar. Sie ahnten, was auf Sie zukommt….

Stich: Ich wusste, das wird eine Riesenherausforderung, ein extrem kampfbetontes Spiel. Es war klar, ich würde nichts geschenkt bekommen. Thomas würde laufen, bis er umfällt. Trotzdem habe ich immer gern gegen ihn gespielt. Sein Spiel lag mir - und mein Spiel ihm nicht wirklich.

einestages: Inwiefern?

Stich: Mein variables Spiel mit aggressivem Serve-and-Volley, viel Slice und Stopps mochte er nicht besonders. Und ich hatte einen klaren Matchplan, der gut funktioniert hat: Ich wollte ihm keinen Rhythmus geben und mich nicht auf lange Grundlinienduelle einlassen. Da wäre er sicher besser gewesen.

einestages: Sie spielten reihenweise gefühlvolle Weltklassestopps. Muster reagierte zunehmend frustriert und trat vor Wut gegen den Netzpfosten.

Stich: Die Stopps haben ihn richtig genervt. Das war eben ein taktisches Mittel, ihn nicht in den Rhythmus kommen zu lassen und ans Netz zu locken. Dort hat er sich nie besonders wohl gefühlt. Das hat wunderbar geklappt.

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Interview mit Michael Stich: "Zweite Plätze gehen nicht in die Geschichte ein"

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einestages: Die französische Presse jubelte danach über Ihr "himmlisches Tennis". Berühmte Sportskollegen wie Jim Courier hatten schon früher gesagt: Wenn jemand talentiert genug sei für perfektes Tennis, dann wohl Sie. Haben Sie gegen Muster perfektes Tennis gespielt?

Stich: Es war natürlich nicht perfekt, weil ich immer noch Fehler gemacht habe. Aber es war eines meiner wenigen Matches, die fast perfekt waren.

einestages: War es womöglich sogar das beste Spiel Ihrer Karriere?

Stich: Es steht zumindest in meiner Rangliste weit oben, zusammen mit dem gewonnenen Finale bei der Weltmeisterschaft 1993 gegen Pete Sampras.

einestages: Nach Muster gewannen Sie die folgenden Spiele relativ problemlos, auch gegen Lokalmatador Cédric Pioline. Dann standen Sie im Endspiel - und hätten Geschichte schreiben können.

Stich: Darüber habe ich damals als Spieler nicht nachgedacht. Ich wollte einfach nur den Titel holen. Aber klar: Zweite Plätze gehen nicht in die Geschichtsbücher ein. Für mich wäre der Sieg etwas sehr Außergewöhnliches gewesen - nur ganz wenige Spieler haben nach Wimbledon auf Rasen auch das wichtigste Sandplatzturnier gewonnen.

einestages: War die Niederlage damit ähnlich deprimierend wie Ihr legendäres Davis-Cup-Match ein Jahr zuvor gegen den Russen Andrei Tschesnokow, als Sie gleich neun Matchbälle verspielten?

Stich: Das ist bis heute unfassbar für mich. Aber in diesem Spiel ging es weniger um mich als darum, dass wir die historische Chance verpassten, als Mannschaft zu Hause gegen Pete Sampras und Andre Agassi ein Jahrhundertfinale im Daviscup zu spielen. Das war das Enttäuschendste für mich.

einestages: Die Franzosen haben Sie nach der Niederlage in Paris berührt, als Sie Ihre Dankesrede auf Französisch hielten. Wie kamen Sie darauf?

Stich: Die Franzosen sind ein stolzes Volk. Ich sprach ein wenig Französisch und habe mir das spontan überlegt. Es kam vom Herzen.

einestages: Was haben Sie gesagt?

Stich: Der zentrale Satz war: J'ai perdu un match, mais j'ai retrouvé l'amour pour le sport. Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass ich zwar ein Finale verloren habe, aber in diesem Turnier meine Liebe und Leidenschaft zum Tennis wiederentdeckt habe.

einestages: Und danach? Tosender Applaus?

Stich: Die Franzosen haben sich auf jeden Fall gefreut. Ich war wohl der erste Ausländer, der so etwas gemacht hat.

einestages: Seit 20 Jahren hat nun kein Deutscher mehr in Paris im Finale gestanden. Wie lange hält Ihr Rekord noch?

Stich: Ich wünsche mir, dass er sofort eingestellt wird. Aber das deutsche Herrentennis hat derzeit keinen so grandiosen Ausblick, wenn man von Alexander Zverev absieht, der extrem viel Potenzial hat und die Chance hat, in Zukunft auch in Paris sehr, sehr weit zu kommen.

einestages: Jetzt enden die French Open, bald beginnt Wimbledon, Ort Ihres größten Triumphs. Wenn Sie die Spiele im Fernsehen verfolgen, werden Sie dann manchmal schwermütig, dass Ihre aktive Zeit als Profi vorbei ist?

Stich: Nein, auf keinen Fall. Das war eine tolle Zeit, aber ich möchte es nicht noch mal machen.

einestages: Warum?

Stich: Weil es nie wieder so schön wird, wie es einmal war: die ganzen emotionalen Erlebnisse, das lässt sich nicht einfach wiederholen. Natürlich hätte ich gern mehr Grand-Slam-Turniere gewonnen. Aber dann hätte ich mich noch stärker allein auf das Tennis fokussieren müssen und wäre wohl nicht der Mensch geworden, der ich heute bin.

einestages: Spielen Sie noch privat?

Stich: Ich habe kürzlich ein paar Mannschaftsspiele in der Regionalliga für den UHC gemacht, meinen alten Hamburger Heimatklub. Das macht Spaß, weil ich die Mannschaft seit ewigen Zeiten kenne.

einestages: Und, wie ist Ihre Bilanz?

Stich: Ein Einzel gewonnen, eins verloren und meine beiden Doppel gewonnen. Doppel, das geht in meinem Alter also immer noch.

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