

Lässig sitzt der große Dichter da, das linke Bein über das rechte geschlagen, den rechten Arm auf der Lehne des Holzstuhls. Die Szene um ihn herum ist malerisch: Der Stuhl steht auf braunem Waldboden, mächtige Baumstämme bilden den Hintergrund. Nur der Blick Leo Tolstois wirkt grimmig - ganz so, als lasse er sich an diesem Frühlingstag nur widerwillig ablichten.
Das Bild wurde am 22. Mai 1908 auf Tolstois Anwesen Jasnaja Poljana aufgenommen, zwei Jahre vor seinem Tod. Das Foto, das den größten russischen Schriftsteller in grauem Hemd und Stiefeln zeigt, ist historisch bedeutend: Das Porträt ist das einzige farbige Foto, das von Tolstoi existiert.
Der Mann, der damals hinter der Kamera stand, könnte heute in Russland genauso bekannt sein wie der Mann, den er fotografiert hatte. Doch Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorskij, Chemiker, Entwickler und Fotograf, wurde vergessen. Die Kommunisten tilgten Prokudin-Gorskijs Namen aus dem sowjetischen Gedächtnis, weil dessen Auftraggeber für alle Zeiten geächtet war: Zar Nikolaus II.
Ein Grundgesetz der Physik
Noch heute kennen wenige Russen den Mann, der zwischen 1909 und 1914 fast alle Winkel des Riesenreichs bereist und auf Tausenden Farbfotos festgehalten hatte. Ausgestattet mit einer Vollmacht des Zaren und einem Sonderzug war Prokudin-Gorski bis nach Zentralasien vorgedrungen, hatte Menschen, Städte und Landschaften fotografiert und so einen wahren Bilderschatz angehäuft. Der sollte eigentlich dem Landeskundeunterricht im zaristischen Russland dienen, doch die Bilder landeten beim Klassenfeind. Prokudin-Gorskij flüchtete 1918 während der russischen Revolution nach Frankreich und nahm die Negative mit. Seine Söhne verkauften den Fotoschatz des Vaters 1948 für 5000 Dollar an die National Library in den USA.
Die Aufnahmen sind nicht nur historisch einmalige Dokumente des vorrevolutionären Russlands, sondern auch Zeugen der ersten Blütezeit der Dreifarbenfotografie. Prokudin-Gorskij war vor mehr als hundert Jahren einer der Pioniere der bunten Bilder, die nach einem einfachen Grundprinzip der Physik entstanden: Alle Farben der Natur lassen sich durch Lichtmischung aus den drei Grundfarben Rot, Grün und Blau darstellen. Für Fotografen wie Prokudin-Gorskij bedeutete das: Sie konnten mit Hilfe von Filtern die drei Grundfarben separieren und damit eine Fotoplatte belichten. Es entstanden drei Negative, die - übereinander projiziert - ein Farbbild ergaben.
Möglich geworden waren Prokudin-Gorskijs Bilder erst durch die Erfindung zweier Deutscher: Adolf Miethe, selbst Chemiker, hatte 1903 eine Wechselschlittenkamera entworfen, die der Kameratischler Wilhelm Bermpohl dann baute. "Auch Prokudin-Gorskij benutzte eine solche Wechselschlittenkamera", sagt der Fotohistoriker Gert Koshofer. Hinter dem Gehäuse der Spezialkamera befanden sich ein länglicher Holzschlitten und darin eine Fotoplatte, neun Zentimeter breit und 24 Zentimeter lang. "Diese wurde in drei Positionen senkrecht bewegt, um die drei Aufnahmen für Rot, Grün und Blau hintereinander zu machen", erklärt Koshofer.
Bitte nicht bewegen
Fast 2000 Bilder machte Prokudin-Gorskij auf diese Weise in den fünf Jahren seiner Reise. Dank des ministeriellen Schreibens aus St. Petersburg konnte er sich nahezu ohne Beschränkungen durch das Riesenreich bewegen, nur die Technik sorgte für Hindernisse. Die langen Belichtungszeiten waren insbesondere für Personen, die fotografiert wurden, mühsam. Diese mussten sekundenlang in der exakt gleichen Position verharren, denn nur drei deckungsgleiche Negative ergaben später ein Farbbild ohne Verwischungen. Bewegte Objekte konnten überhaupt nicht fotografiert werden.
In seinem Buch "Dreifarbenphotographie nach der Natur" von 1908 gab Kamera-Erfinder Miethe die Belichtungszeiten für die unterschiedlichen Filter an. Demnach betrugen sie für die Blau- und Grünaufnahmen "bei hellem Sommerlicht und mittlerer Blende 9 jeweils 1/2 Sekunde und für die Rotaufnahme 1 1/4 Sekunde". Im Herbst waren die Belichtungszeiten bei "gutem Licht", also Sonnenschein, doppelt so lang wie im Sommer. "Zwischen der ersten und zweiten sowie der zweiten und dritten Aufnahme auf der Fotoplatte kamen mindestens je eine Sekunde Wechselzeit der Plattenposition hinzu", sagt Fotohistoriker Koshofer. Kein Wunder, dass viele der Menschen auf Prokudin-Gorskijs Bildern angespannt wirken.
Elitärer Kreis
So faszinierend die Dreifarbenfotografie aus heutiger Sicht wirkt, so wenig hatte sie mit der Jedermann-Fotografie von heute gemein. Der Kreis derer, die sich mit den bunten Bildern beschäftigen konnten, war elitär und überschaubar. Prokudin-Gorskij war der Protegé des Zars, Miethe projizierte Farbbilder für Kaiser Wilhelm. In den USA beschäftigte sich der Erfinder Frederik Ives mit dem Bau von Chromoskop-Betrachtern, in denen potentielle Kunden Ives' Dreifarbenfotos in 3D anschauen sollten. Doch die Geräte waren einfach zu teuer, um für die Masse erschwinglich zu sein. Ives, der das große Beben von San Francisco in Farbe festhielt, scheiterte mit seinem Businessmodell.
Adolf Miethe zog es wie Prokudin-Gorskij in die Ferne, der Deutsche schaffte es mit seiner Wechselschlittenkamera sogar bis nach Ägypten oder die Arktis. Von dem Berliner Geheimrat stammen zudem laut Fotohistoriker Koshofer die ersten farbigen Luftbilder aus Berlin. Seine Ägypten-Fotos wurden in einem Kinderbuch gedruckt, bunte Reisemotive Miethes erschienen in den legendären Stollwerck-Sammelalben.
Prokudin-Gorskijs Bilder dagegen verschwanden in der Versenkung der National Library und wurden erst Ende der Siebziger zufällig entdeckt. Ein Rätsel des russischen Farbfotopioniers ist immer noch ungelöst. Der Herausgeber des Prokudin-Buchs "Fotos für den Zaren", Robert Allshouse, sagte dem SPIEGEL 1980, Prokudin-Gorskij habe vor seiner Flucht die Negative von zehn Zarenaufnahmen "irgendwo in Russland versteckt". Sie sind noch nicht wieder aufgetaucht.
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Mohammed Alim Khan (1880-1944), Emir von Buchara. Als Prokudin-Gorskij 1911 das Bild vom Emir machte, war Buchara noch ein islamischer Staat auf dem Gebiet des heutigen Usbekistan. Doch die russische Revolution machte auf vor dem Emirat keinen Halt - der Emir wurde ins afghanische Exil vertrieben und Buchara 1925 zur Sowjetrepublik Usbekistan.
Prokudin-Gorskij porträtierte sich 1912 an einem Bach selbst. Während der russischen Revolution musste der Fotograf mit seiner Familie flüchten und eröffnete in Nizza mit seinen Söhnen Michail und Dmitrij ein Fotolabor.
Im Mai 1908 lichtete Prokudin-Gorskij den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi auf dessen Landgut Jasnaja Poljana, rund 220 Kilometer südlich von Moskau, ab. Die berühmte Aufnahme ist die erste Farbfotografie aus Russland - und die einzige, die in Farbe von Tolstoi existiert. Der Dichter starb zwei Jahre nach dem Besuch Prokudin-Gorskijs.
Ein schlafender Hund am Lindozero-See in Russland, aufgenommen 1910 von Sergej Prokudin-Gorskij. Der Russe war Chemiker und hatte zeitweise an der Technischen Hochschule in Berlin "über Spektralanalyse und Fotochemie" gelesen, schrieb der SPIEGEL 1980. Dort hatte Prokudin-Gorskij auch den deutschen Fotopionier Adolph Miete kennengelernt, dessen Wechselschlittenkamera er auf seiner Reise durch Russland benutzte.
Eine Bäuerin genießt am Fluss Sim, der im Ural entspringt, einen Moment der Stille. Die Prokudin-Gorskij-Aufnahme stammt von 1910.
Ein Künstler modelliert in einer Werkstatt im Ural-Gebirge ein Gussstück. Die Aufnahme machte Sergej Prokudin-Gorskij 1910.
Eine Kapelle in der Oblast Wologda, Nordwestrussland. Die kleine Holzkirche steht an dem Ort, wo im Altertum die Stadt Belosersk entstanden war. Prokudin machte diese Aufnahme 1909, im ersten Jahr seiner Reise durch Russland.
Prokudin-Gorskij, vorne rechts, unternahm 1910 eine Fahrt mit einer Draisine auf der Eisenbahnstrecke entlang des Onega-Sees in der Oblast Murmansk, hier bei Petrozawodsk - bei dem Ausflug entstand dieses frühe Farbbild. Die Schienen der transsibirischen Eisenbahn dienten dem Farbfotopionier als Straße durch die russischen Weiten, die er mit einem vom Zar gestellten Sonderzug durchquerte. Auch ein Schiff durfte Prokudin-Gorskij benutzen.
Die Ortschaft Mezhewaja Utka an der Tschussowaja, ein Nebenfluss der Kama im Ural. Sergej Prokudin-Gorskij hatte lange Zeit vergeblich versucht, den Zaren von seiner Idee einer enzyklopädischen Fotodokumentation Russlands zu überzeugen. Ein Diavortrag in der Sommerresidenz Nikolaus' brach dann das Eis.
Ein kirgisischer Nomade mit seiner Familie in der Golodnaja-Steppe im heutigen Usbekistan. Die Aufnahme stammt von etwa 1910. Wegen der langen Belichtungszeiten für die separaten Grün-, Blau- und Rotaufnahmen mussten die von Prokudin-Gorskij fotografierten Personen mehrere Sekunden absolut stillsitzen. Bei der kleinsten Positionsänderung wären hinterher die Negative beim Projizieren nicht mehr deckungsgleich gewesen.
Ein Mann und eine Frau posieren circa 1910 für Prokudin-Gorskiji. Das frühe Farbbild entstand in der russischen Republik Dagestan - der Name bedeutet "Bergland". Insgesamt schuf der russische Fotopionier fast 2000 solcher Farbaufnahmen.
Diese frühe Farbfotografie von 1892 wurde mit dem additiven Verfahren hergestellt, bei dem die Farben durch drei übereinander projizierte rote, grüne und blaue Diapositive wiedergegeben werden. Die Aufnahme wurde mit dem Dye Transfer Process, einem von Kodak entwickelten Kopierverfahren, reproduziert und nach den Originalpositiven vergrößert.
Auf dieser Aufnahme sind vermutlich die Frau und das Kind des Fotografen Henry Essenhigh Corke zu sehen. Das Autochrom wurde 1912 auf der Ausstellung der Royal Photographic Society gezeigt.
An einer Ruine in Frankreich steht der Graffiti "Gott Strafe England! 1914/15". Das Autochrom, ein frühes Farbbild, entstand 1917.
Gleich mehrfach porträtierte der Fotograf Charles C. Zoller den britischen Komiker und Schauspieler Charlie Chaplin als "Tramp": mit übergroßer Hose und zu kleiner Jacke, Melone und alten Schuhen. Dieses Farbfoto entstand etwa 1917.
Die Wechselschlittenkamera, erdacht von Adolf Miethe und gebaut vom Kameratischler Wilhelm Bermpohl, wurde zum ersten Mal 1903 öffentlich präsentiert: Miethe führte seine Erfindung an der Königlich Technischen Hochschule in Berlin vor, an der auch Sergej Prokudin-Gorskij las. Die Kamera, mit der die Herstellung von Dreifarbenfotografien möglich war, hatte für alle Farben empfindliche Fotoplatten - aber laut dem Fotohistoriker Gert Koshofer auch einen Nachteil: Schnell bewegte Objekte konnten nicht fotografiert werden, sonst entstanden farbige Ränder.
Das Autochrom von circa 1917 zeigt zwei Frauen, die für Kodak-Apparate werben - pünktlich zum Beginn der Osterferien. Kodak stellte schon ab 1888 Rollfilme und Kameras her. Das erste grundlegende Patent für Mehrschichtenfarbfilme hatte 1911 der Deutsche Rudolf Fischer angemeldet - doch es waren Kodak und die deutsche Agfa, die diese Filme später realisierten.
Das frühe Farbfotochrom, um 1900 entstanden, von William Henry Jackson zeigt eine kleine Straße in Kubas Hauptstadt Havanna.
Dieses Photochrom wurde bereits zwischen 1890 und 1900 hergestellt - mit Hilfe eines komplizierten Flachdruckverfahrens, mit dem Schwarzweißaufnahmen in Farbbilder umgewandelt werden können. 1983 später wurde das Mausoleum in Agra im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen.
Frühe Farbfotografie von Prokudin-Gorskij. Das Bild zeigt die russische Stadt Rschew an der Wolga.
Eine Sart-Frau trägt einen Parda, ein Burka-artiges Gewand. Bis zur Russischen Revolution von 1917 wurden Usbeken, die in Kasachstan lebten, "Sart" genannt. Das Farbfoto, etwa von 1910, nahm Sergej Prokudin-Gorskij in der usbekischen Stadt Samarkand auf, wo er auch...
...dieses Foto aufnahm: Ein Lehrer unterrichtet eine Gruppe jüdischer Kinder.
Eine Armenierin posiert circa 1910 für Prokudin-Gorskij im traditionellen Gewand. Die Aufname entstand am Rande der türkischen Stadt Artvin, die im Pontischen Gebirge liegt.
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