
Raus!: Wenn der Schiri rot sieht
Fußballgeschichte Die Erfindung der Arschkarte
Die Szene hat etwas von David gegen Goliath: Es lief das Viertelfinale bei der WM 1966, England gegen Argentinien. Zweimal hatte der Stuttgarter Schiedsrichter Rudolf Kreitlein den Argentinier Antonio Rattín bereits verwarnt, in der 17. und in der 32. Minute. "One more you go out", rief er Rattín in der 34. Minute nach erneutem Foulspiel zu. In der 37. Minute platzte dem schwäbischen Schiri dann der Kragen: In der Geste eines Burgtheaterschauspielers verwies der nur 1,68 Meter große Schneidermeister den argentinischen Hünen des Platzes.
Sein beherztes Eingreifen brachte Kreitlein, der sich sein schwarzes WM-Dress selbst entworfen und genäht hatte, den liebevoll-spöttischen Spitznamen "das tapfere Schneiderlein" ein. Bis heute zählt Kreitlein weltweit zu den berühmtesten Schiedsrichtern im Fußball. "Der Argentinier war ein baumlanger Spieler. Davon lebt die Szene", beschreibt Rainer Schimpf den legendären Platzverweis.
Der Historiker und Fußballfan Schimpf hat eine Ausstellung zur WM konzipiert, die das Haus der Geschichte Baden-Württemberg ab 28. März im Stuttgarter Kunsthaus zeigt. "Das war feinstes Theater", beschreibt Schimpf die Auseinandersetzung zwischen Schiri und Spieler. Ganz nach der Manier südländischer Fußballstars bediente Rattín das ganze Repertoire an Unschuldsgesten und tat, als ob er Kreitlein nicht verstanden hätte.
Tumultartige Szenen auf dem Rasen
Sieben Minuten verfolgten die Zuschauer im Londoner Wembley-Stadion die tumultartigen Szenen auf dem Rasen. Das Problem: Kreitlein hatte zwar eine Karte im Trikot, auf der er alle Verwarnungen notierte. Doch die Karte war weiß. "Mit der weißen Karte konnte Kreitlein nichts anfangen", sagt Schimpf. Erst die Polizisten konnten Rattín vom Platz schaffen. Die Partie war verloren, und die argentinischen Fans kochten. Auf dem Weg zur Umkleide rächte sich einer von ihnen an Kreitlein - mit einem Tritt vors Schienbein.
Was danach kam, ist nicht weniger als eine Revolution im Fußball. Im Stau auf dem Rückweg ins Londoner Hotel kam Kreitleins englischem Schiedsrichterbetreuer Ken Aston ein Geistesblitz. Inspiriert von den zahlreichen Verkehrsampeln schlug Aston gelbe und rote Karten als weltweit verständliche Symbole vor. "Ich fand diese Idee großartig und habe sie umgehend den Fifa-Gremien vorgelegt", sagt Kreitlein knapp 50 Jahre später.

Raus!: Wenn der Schiri rot sieht
Bereits bei der Weltpremiere des farbigen Kartons bei der WM 1970 musste der Mannheimer Schiedsrichter Kurt Tschenscher hart durchgreifen. In der 31. Minute des Eröffnungsspiels UdSSR gegen Mexiko zeigte er erstmals in der Fußballgeschichte Gelb. Der sowjetische Spieler Kakhi Asatiani hatte den Mexikaner Javier Valdivia zu hart angegangen und wurde dafür verwarnt. Bereits vier Minuten später sah auch Evgeni Lovchev Gelb, nachdem er den alleine auf das Tor zulaufenden Mexikaner durch einen Tritt gestoppt hatte.
Vier Rote Karten in einem Spiel - für einen Spieler
Die erste Rote Karte bei einer WM sah der Chilene Caszely nach einem Revanche-Foul an Berti Vogts im Spiel gegen Deutschland 1974. Damals fiel der Einsatz der Gelben und Roten Karte offensichtlich noch vergleichsweise verhalten aus. Bei der WM 2006 ging es schon ganz anders zur Sache: In der Partie Portugal gegen die Niederlande zeigte der Schiedsrichter drei Mal Rot und ein Mal Gelb-Rot. Auch bei den Gelben Karten halten die beiden Teams mit diesem Spiel einen einsamen WM-Rekord: Insgesamt zückte der Unparteiische 16 Mal die Gelbe Karte.
Den Rekord für die meisten Roten Karten in einem Spiel hielt übrigens über mehrere Jahre der schottische Zweitligaspieler Andy McLaren. Er bekam im Dezember 2006 für ein Foulspiel, eine Tätlichkeit gegen einen Spieler und eine Sachbeschädigung in der Schiedsrichterkabine drei Rote Karten. Vor wenigen Wochen allerdings hat ihn Ricky Broadley überholt. Der Offensivmann des walisischen Fünftligisten Mountain Rangers aus Rhosgadfan sah in einem Pokalspiel vier Mal den roten Karton. Als Broadley einen auf dem Boden liegenden Gegner ins Gesicht stiefelte, zeigte ihm der Schiedsrichter glatt Rot. Der Übeltäter fand das reichlich übertrieben und kassierte wegen Maulens wieder Rot. Nach der Spielniederlage nahm der Rotsünder sich den Schiri erneut zur Brust, was ihm die dritte Rote Karte einbrachte. Broadley ließ sich davon jedoch nicht einschüchtern, duschte den Schiedsrichter mit einem Eimer Wasser und sah zum vierten Mal Rot. Besonders reumütig gibt sich der Spieler nicht: Gegen eine der vier Rot-Sperren will Broadley auf jeden Fall Berufung einlegen.
Den Rekord für die schnellste Rote Karte hält der siebtklassige englische Amateurspieler David Pratt. Bereits drei Sekunden nach dem Anpfiff musste der Installateur den Rasen wieder verlassen. Für Walter Boyd vom walisischen Klub Swansea City war der Einsatz dagegen schon wieder vorbei, bevor er überhaupt begonnen hatte. Bei seiner Einwechslung rammte Boyd im Vorbeitraben einem Gegenspieler seinen Ellenbogen ins Gesicht und sah dafür Rot - noch bevor der Schiedsrichter das Spiel wieder angepfiffen hatte.
Aussprache unerwünscht
40 Jahre nach ihrer Einführung sind nun die erste Gelbe und Rote Karte in der Stuttgarter Ausstellung zusammen mit Kreitleins selbstgeschneidertem Schiri-Dress zu sehen. Bis heute ist die WM 1966 in England der Höhepunkt in Kreitleins Laufbahn. Er war sogar für das Finale als Schiedsrichter vorgesehen, durfte die Partie dann allerdings nicht pfeifen, weil Deutschland im Finale stand. Ein Jahr später beendete der Schwabe seine Schiedsrichterkarriere.
Die Szene aus dem legendären WM-Spiel 1966 verfolgt Kreitlein bis heute. Als Bundespräsident Horst Köhler im November dem rüstigen 90-Jährigen bei einem Empfang zu dessen Geburtstag persönlich für seine historische Erfindung dankt, ist der Sportler sichtlich stolz. "Die Entscheidung hat ihn ein Leben lang beschäftigt", glaubt Ausstellungsmacher Schimpf. Es sei Kreitleins großer Wunsch, den Argentiner Rattín noch einmal zu treffen.
Der argentinische Generalkonsul persönlich hatte sogar seine Hilfe für das Wiedersehen zugesagt. "Ich glaube nicht, dass Kreitlein sich entschuldigen will", sagt Schimpf über Kreitleins Absicht. "Vielleicht will er die Sache noch mal klarstellen." Zu einer Begegnung ist es 44 Jahre nach dem Platzverweis offenbar noch nicht gekommen. Vielleicht ist das auch besser so. Der Argentinier Rattín ist angeblich bis heute von seiner Unschuld überzeugt. Im Nachhinein hatte sich herausgestellt, dass er beim Maulen auf dem Spielfeld einen Dolmetscher verlangt hatte.