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Massenmord im Schützengraben: Qualvoll erstickt

Gaseinsatz im Ersten Weltkrieg "Die Feinde vergiften wie die Ratten"

Grausamer kann der Tod kaum sein. Im April 1915 setzten die Deutschen als erste Nation Giftgas ein, mehr als tausend Soldaten starben qualvoll. Das Kriegsverbrechen läutete die Ära der modernen Massenvernichtungswaffen ein. Historische Filmaufnahmen dokumentieren den Wahnsinn von damals.

Grün-gelbe Wolken krochen am Abend des 22. April 1915 aus den deutschen Schützengräben langsam auf die gegnerischen Linien zu. Als sie sich wieder verzogen hatten, war das gesamte Gebiet in stumpfes, dumpfes, totes Grau getaucht und alles Leben zugrundegegangen.

Aus der trostlosen Einöde stachen einzig die blutroten Blüten des Klatschmohns hervor - stumme Zeugen des ersten Giftgasangriffs der Kriegsgeschichte. Bei Ypern im belgischen Nordwesten hatte die deutsche Heeresleitung den schutzlosen Gegner mit der neuen, hinterhältigen Waffe attackiert. Den organisierten Massenmord in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs hatte sie damit schlagartig um eine völlig neue Dimension erweitert - und der Welt mit der ersten modernen Massenvernichtungswaffe eine Geißel beschert, die die Menschheit bis heute plagt.

Spätestens seit dem Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg im Herbst 1914 erwogen die kriegführenden Parteien den Einsatz von Chemikalien, um den Gegner zu schwächen - auch nach damals geltendem Kriegs- und Völkerrecht ein klares Kriegsverbrechen: Die Haager Konvention von 1907 verbot ausdrücklich "die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen". So wagten die Generäle zunächst nicht, sich eines solch perfiden Mittels zu bedienen. Doch als sich die Armeen festgefahren hatte und ein deutscher Durchbruch nicht in Sicht war, änderte der deutsche Generalstabschef Erich von Falkenhayn seine Meinung.

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Auch wenn noch manche zauderten: "Ich muss gestehen, dass die Aufgabe, die Feinde vergiften zu sollen wie die Ratten, mir innerlich gegen den Strich ging", schrieb der Kommandierende General des VI. Armeekorps, Bertold von Deimling, später in seinen Memoiren. Doch ließ er sich von der Aussicht auf die Einnahme der umkämpften Stadt Ypern in Belgien blenden: "Vor solch hohem Ziel mussten alle Bedenken schweigen", notierte er. Und gab grünes Licht für den grausamen Gasangriff.

Stinkbomben und Gewehrpatronen mit Tränengas

Möglich gemacht hatte diese im fürchterlichsten Sinne unkonventionelle Art der Kriegführung die weltweit unangefochtene Spitzenstellung der deutschen Chemie. Seit Kriegsbeginn hatte der renommierte Chemiker Fritz Haber, der 1919 für die von ihm entdeckte Ammoniak-Synthese den Nobelpreis erhalten sollte, an der Entwicklung chemischer Kampfstoffe gearbeitet. Die Substanz Chlor bot sich als C-Waffe hervorragend an, handelte es sich doch nicht nur um ein billiges Abfallprodukt der chemischen Industrie, das sich aufgrund seiner höheren Dichte in Bodennähe konzentriert, sondern auch um ein hochtoxisches Gift. Es reizt die Schleimhäute, führt zu Atemnot, Husten, starker Schleim- und Wasserabsonderung - und schließlich zum Tod durch Ersticken.

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Massenmord im Schützengraben: Qualvoll erstickt

Zwar arbeiteten auch die Briten an "Stinkbomben", mit denen der Feind aus seinem Unterstand gezwungen werden sollte und setzten die Franzosen im Januar 1915 Gewehrpatronen ein, die mit einem Tränengas (Bromessigsäureethylester) gefüllt waren - beide Waffen erzielten jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Anders beim Chlorgas.

Ein schmerzhafter Selbstversuch auf dem deutschen Truppenübungsplatz Beverloo in Belgien hatte die letzten Zweifel ausgeräumt. Am 2. April 1915 stürzten sich Chemiker Haber und Oberst Max Bauer auf Pferden in die selbst fabrizierte gelbgrüne Giftwolke. Schlagartig packte sie ein krampfartiger Husten, mit letzter Kraft retteten sie sich aus den Schwaden. Die anwesenden Offiziere waren überzeugt. Knapp drei Wochen später machte die deutsche Heeresleitung an der Westfront ernst.

Sprachlos vor Todesangst

Auf rund sieben Kilometern Frontlänge ließ sie nördlich von Ypern in vorderster Stellung tausende von Stahlflaschen mit dem tödlichen Gas eingraben. Am 22. April um 18 Uhr, als der Wind aus der richtigen Richtung wehte, öffneten die Deutschen die Hähne und ließen 150 Tonnen Giftgas entweichen. Was nun folgt, hat ein britischer Militärgeistlicher so beschrieben: "Da sahen wir plötzlich etwas, was unsere Herzen aufhören ließ zu schlagen. 'Die Franzosen fliehen', riefen wir aus. Eine graugrüne Wolke war auf sie zugekommen und hatte alles, was sie berührte, zerstört und den ganzen Pflanzenwuchs vernichtet. Dann taumelten die französischen Soldaten in unsere Mitte. Sie waren blind, sie husteten, sie keuchten, ihre Gesichter waren tiefrot, vor Todesangst waren sie sprachlos, und hinter ihnen, in den gasgefüllten Gräben stellten wir fest, dass sie Hunderte von toten und sterbenden Kameraden zurückgelassen hatten."

Rund 1200 Soldaten starben, 3000 kamen schwer verätzt mit dem Leben davon. Die Geburtsstunde der modernen Massenvernichtungswaffen hatte geschlagen - ihren Vorteil konnten die Deutschen jedoch nicht nutzen. Selbst überrascht vom verheerenden Erfolg ihres Giftgaseinsatzes, waren die Soldaten nicht in der Lage, einen strategischen Durchbruch zu erzielen, außer kleinen Geländegewinnen und einer Frontbegradigung hatten sie nichts erreicht.

Für den Giftgaserfinder Fritz Haber sollte der Tag dennoch zu einem der erfolgreichsten gehören: Stante pede wurde er zum Hauptmann ernannt, eine Ehre, ob derer der Chemiker "Tränen des Glücks" vergossen haben soll. Keine zwei Wochen später jedoch holte den umstrittenen Wissenschaftler selbst der Schrecken des Todes ein: Seine Frau Clara erschoss sich in der Nacht auf den 2. Mai. Gut möglich, dass sie dies aus Verzweiflung über das fatale Wirken ihres Ehemannes im Krieg getan hat. Der jedoch kehrte bereits einen Tag nach dem Selbstmord wieder an die Front zurück - wo ihm der rote Klatschmohn ins Auge stach.

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