
Gaucks DDR-Zeit: Pragmatiker im Pfarramt
Gaucks DDR-Zeit Pragmatiker im Pfarramt
Dieser Text aus dem einestages-Archiv erschien im Februar 2012 zum Amtsantritt von Joachim Gauck als Bundespräsident.
Ein DDR-Pastor als Sonderbeauftragter für die Stasi-Akten? Bei vielen Linken weckte diese Vorstellung Assoziationen an einen Großinquisitor. Oder einen Racheengel. "Es ist nicht nur Persönliches", sagte Joachim Gauck, kurz nachdem er im Oktober 1990 den Job übernommen hatte, die einst mächtigste und gefährlichste Institution des SED-Regimes abzuwickeln.
Lieber sprach Gauck, als er nach dem Warum gefragt wurde, intellektuell leicht verschwurbelt von einer "historischen Reminiszenz", zog Parallelen zur deutschen Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu dieser Zeit konnte er noch nicht wissen, welche Herausforderungen das neue Amt bringen würde - und wen er sich dabei alles zum Feind machen sollte. Einer musste den Job schließlich machen. Es ist der gleiche Mann, der nach der friedlichen Revolution im Herbst 1989 eigentlich keine dauerhafte politische Verantwortung übernehmen, lieber ein Pfarr- als ein Rathaus beziehen wollte.
Der Rückzug in die vertraute persönliche Welt wäre kein ungewöhnlicher Weg gewesen. Die kirchliche Opposition hatte den Umsturz in der DDR zwar maßgeblich vorangetrieben, doch nach der Wiedervereinigung waren die Namen der meisten Aktivisten wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Anders Gauck. Was hielt ihn dann doch in der Politik? Was prädestinierte ihn zum obersten Stasi-Abwickler? Warum tat er sich das überhaupt an? Zweifellos muss da in der Vergangenheit etwas Persönliches gewesen sein.
"Für das Studium nicht empfohlen"
Das Verhältnis zwischen dem protestantischen Pfarrer und der sozialistischen Spitzelbehörde war stets erwartbar angespannt gewesen. Allerdings, so schreibt Gaucks Biograf Norbert Robers, habe die Stasi "erst ziemlich spät" auf den Regimekritiker reagiert - 1983, da war Gauck bereits seit 16 Jahren Pastor im Raum Rostock. Dessen Groll gegen das Regime und den Sicherheitsapparat aber resultierte schon aus Kindheitstagen.
Als Elfjähriger hatte er mit ansehen müssen, wie im Juni 1951 zwei Männer unter einem Vorwand seinen Vater in Wustrow bei Rostock abholten. Als die Mutter nachforschte, legte ihr das Ministerium für Staatsicherheit (MfS) nahe, sie könne "ihrem Mann das Schicksal erleichtern", wenn sie kooperiere. Von da an wusste die Familie, in wessen Händen sich der Vater befand - denen der Sowjets. Erst 1955 sollte er aus einem sibirischen Arbeitslager zu seiner Familie zurückkehren.
Die Auswirkungen dieses Traumas auf den Jungen blieben dem Schulleiter nicht verborgen: In einer politischen Beurteilung spekulierte er darüber, dass "die Internierung des Vaters dazu beigetragen haben" dürfte, dass sich Schüler Joachim "im Stadium kritischer Auseinandersetzung mit der Umwelt" befinde. Eine Einschätzung, die sich auch auf Gaucks Berufswunsch auswirken sollte: Er träumte davon, Germanistik zu studieren und Dichter zu werden. Das folgenschwere Urteil des Schulleiters über den 18-Jährigen: "Auf Beschluss der Vorauswahlkommission wird er für das Studium nicht empfohlen."
Pastor wider Willen
Obwohl die Zukunftschancen des jungen Mannes in der DDR damit 1958 verbaut schienen, kam es für ihn nicht in Frage, nach Westdeutschland überzusiedeln. Er habe "immer mal wieder" über die Vorzüge nachgedacht, so Gauck, sich dann aber für den Verbleib in Mecklenburg entschieden. "Schließlich war ich hier doch zu Hause. Die Russen als die unerwünschten Eroberer, davon war ich überzeugt, würden schon irgendwann verschwinden."
Dessen ungeachtet versuchte er, die familiäre Stigmatisierung wettzumachen. Zwar hatten ihn seine Eltern von politischen Massenorganisationen wie der FDJ ferngehalten, in einem selbstgeschriebenen Lebenslauf betonte er indes, er habe "stets aktiv am gesellschaftlichen Leben, sei es durch Betätigung im Chor der Goethe-Schule oder durch Beteiligung an allen sozialistischen Arbeitseinsätzen teilgenommen". An der Absage für die Hochschule konnte dies allerdings nichts ändern. So blieb ihm schließlich nur eine Möglichkeit: ein Theologie-Studium.
Es war eine pragmatische Entscheidung. An die Ausübung des Pastorenberufs habe er damals gar nicht gedacht. "Irgendwie war ich nicht der Typ eines Pastors. Schließlich sah ich so schlecht nicht aus, ging gerne aus, war dem weiblichen Geschlecht zugetan und trieb viel Sport." Eher unmotiviert blätterte er durch die Bücher der Kirchengeschichte, heiratete bald und wurde Vater. Das Studium rückte in den Hintergrund.
Mit "genügend" schloss Gauck 1965 schließlich doch noch ab, trat zwei Jahre später seine erste Pastorenstelle an - in einer 800 Einwohner zählenden Gemeinde in Mecklenburg, weit weg von den Zentren der politischen Diskussionen jener Zeit.
"Antisozialistisch-feindliche Inspirierung"
Den Alltag des Landpfarrers bestimmten nun Beerdigungen, Taufen, Gottesdienste und Konfirmandenunterricht. Und obwohl der Pastor Gauck besonders in der Jugendarbeit als sehr engagiert galt, drängte es die junge Familie in die Stadt. 1971 endlich bekam sie eine Wohnung in Rostock - und Gauck dort eine Pfarrstelle. Es sollten noch Jahre vergehen, bis die Stasi im Vorfeld des Rostocker Kirchentages 1983 auf den eloquenten und wenig ängstlichen Prediger aufmerksam wurde.
Dafür trafen den Pastor die Sanktionen dann mit Wucht. Gauck nutze "legale Möglichkeiten wie Stadtjugendabende und Gottesdienste vor allem zur antisozialistischen-feindlichen Inspirierung der kirchlich orientierten Jugendlichen", notierte ein Informant über ihn. Gauck sollte bearbeitet werden, man nahm Kontakt auf, untersagte ihm eine geplante Dienstreise nach Schweden, verhängte Einreisesperren gegen westliche Bekannte und Verwandte der Familie.
Einschüchtern ließ er sich davon nicht. Im Gegenteil: Während eines Friedensgottesdienstes in der Heiligen-Geist-Kirche vor rund 250 Jugendlichen verglich Gauck die "gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR mit denen des faschistischen Deutschlands". Die politischen Auseinandersetzungen hatten mittlerweile auch seine eigene Familie erfasst. Beide Söhne bemühten sich um die Ausreise, nachdem ihnen das Regime - wie fast allen Pastorenkindern - den Zugang zur Erweiterten Oberschule untersagt hatte. Die Mutter befürwortete das Vorhaben, doch Gauck selbst war anderer Ansicht: "Ich sah meine Aufgabe in der DDR, und ich sah auch die Möglichkeit einer Veränderung von innen heraus."
"Wie ein Stück Seife"
Gauck blieb Pragmatiker, seine Haltung hatte taktische Gründe: 1988 sollte er die Möglichkeit haben, als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses den nächsten Rostocker Kirchentag zu organisieren - mit erwarteten 40.000 Zuhörern. Und während er den Offiziellen sein "ehrliches Bemühen" vermittelte, "den Kirchentag im Einvernehmen mit den staatlichen Gegebenheiten" durchzuführen, sprach er vor Publikum von "stalinistischen Tendenzen im Staatsapparat".
"Wie ein Stück Seife", urteilt Biograf Robers, sei Gauck "seinen Häschern" entglitten. Die Taktik ging auf: Gauck war mittlerweile zu prominent, um ihn für solche Äußerungen zu sanktionieren. Ende November 1988 stellte die Stasi schließlich ihre Versuche einer "operativen Bearbeitung" von Gauck ein. Sie glaubte, "einen maßgeblichen Beitrag zur Disziplinierung" erreicht zu haben, erwog zeitweise sogar, ihn als IM anzuwerben.
Ein Jahr später sollte sie schließlich noch einmal von dem Rostocker Pfarrer hören, als Gauck am 19. Oktober - einen Tag nach dem Rücktritt von Staatschef Erich Honecker - zum ersten Mal an einer Demonstration gegen das SED-Regime teilnahm, sich mit einer Predigt unter dem Motto "Selbstgerechtigkeit tötet - Gerechtigkeit rettet" Gehör verschaffte und sich schließlich im Kreis der Bürgerrechtler um das Neue Forum engagierte. Über einen Listenplatz zog Gauck im März 1990 in das erste und einzige frei gewählte DDR-Parlament ein.
Als konsequenter Befürworter der Wiedervereinigung hätte er gern im Ausschuss Deutsche Einheit mitgearbeitet, musste jedoch mit einem Platz im Innenausschuss vorlieb nehmen. Dessen zentrales Thema: das MfS - die Stasi. Gauck biss sich daran fest, auch dies wohl eine eher pragmatische Entscheidung. Im Oktober 1990 übernahm er das Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.
Den Gefallen, sich als Racheengel zu gerieren, tat er seinen Kritikern nicht. Gauck agierte nüchtern, taktisch klug, unbeeinflusst. Er erwarb sich Anerkennung und Respekt in beiden Teilen Deutschlands. Vielleicht spielte er darauf an, als er von sich selbst sagte, er spreche "westdeutsch". Er hatte die Politik verstanden. Wie er schon 1990 versucht hatte, seine persönliche Betroffenheit zu relativieren, so ähnlich distanziert äußerte er sich im Jahr 2000 hinsichtlich möglicher Ambitionen aufs Bundespräsidentenamt. "Weltenfern" sei ein solches Ziel für ihn. Doch wenn der Pragmatiker Joachim Gauck eine Notwendigkeit erkennt, ist "weltenfern" bisweilen offenbar sehr nah - wie in diesem Jahr.
Zum Weiterlesen:
Joachim Gauck: "Winter im Sommer - Frühling im Herbst". Siedler Verlag, 2009, 352 Seiten.
Norbert Robers: "Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution". Henschel Verlag, 2000, 239 Seiten.