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Geiselnahme in London: "Man weiß nie, wann die Angst wieder zuschlägt"

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Geiselnahme in London "Man weiß nie, wann die Angst wieder zuschlägt"

Eine Botschaft wurde gestürmt und ganz England schaute live im Fernsehen zu: Gewaltsam beendeten britische Elitesoldaten 1980 die Belagerung der Iranischen Vertretung in London. Ex-Geisel Mustafa Karkuti erinnert sich an den Horror, der ihm um ein Haar erspart geblieben wäre.

Zwei dunkelhäutige Männer in Camouflage-Jacken, die vor der Royal Albert Hall herumlungerten - Mustafa Karkuti fand den Anblick zwar ungewöhnlich, dachte sich jedoch nichts dabei. Nach einem Streit mit seiner schwangeren Frau war der syrische Journalist viel zu spät dran an jenem verregneten Mittwochmorgen. Der Presseattaché der iranischen Botschaft wartete schon auf ihn. Eilig manövrierte Karkuti sein Auto in eine winzige Parklücke, hastete zum Botschaftseingang - und tappte in die Falle.

Nur wenige Minuten später sollte er sie wiedersehen, die beiden Kerle mit ihren Camouflage-Jacken. Kurz nachdem Mustafa die iranische Botschaft betreten hatte, stürmten sie mit vier weiteren Männern das Gebäude am Londoner Prince's Gate und nahmen die 26 Anwesenden als Geiseln. Ein sechs Tage währendes Belagerungsdrama begann, das am 5. Mai 1980 mit dem Tod von zwei Geiseln und fünf Geiselnehmern endete - und eine ganze Nation mit Stolz erfüllte.

"Victory!", jubelte der "Daily Express" am Tag nach der gewaltsamen Beendigung der Geiselnahme durch die bis dato nahezu unbekannte Elitekampftruppe Special Air Service (SAS). Von wirtschaftlichem Niedergang, Inflation, IRA-Terror und Streikchaos gebeutelt, genossen die Briten nach langer Zeit endlich wieder ein Erfolgserlebnis. Die Geiseln indes erlitten ein Trauma, das sie ein Leben lang verfolgen sollte. Noch heute schreckt Mustafa Karkuti nachts aus dem Schlaf auf und kämpft gegen die Schreckensbilder - die ihm um ein Haar erspart geblieben wären.

"Dilettantische Bubis"

"Vier Minuten später, und ich hätte die Geiselnahme verpasst", sagt der 65-Jährige, der heute den Pressestab der Technischen Hochschule in Abu Dhabi leitet. Seine Besprechung mit dem Presseattaché über eine anstehende Recherchereise nach Iran hatte gerade begonnen, da knatterte um 11.26 Uhr eine Maschinengewehrsalve im Erdgeschoss los. Gemeinsam mit anderen Botschaftsmitgliedern verbarrikadierte sich Mustafa in einem Bürozimmer, doch die Terroristen traten die Tür ein.

Wie Vieh trieben sie alle Anwesenden in einem Raum im Erdgeschoss zusammen, "Iraner in eine Ecke, Nicht-Iraner in die andere", erinnert sich Mustafa. Die Belagerung begann. Dass sie sechs Tage dauern sollte, war niemandem klar, am wenigsten den Terroristen selbst. "Dilettantische Bubis" nennt Mustafa die damals blutjungen Geiselnehmer im Rückblick. Die Mitglieder der arabischen Minderheit in Iran, die sich selbst "Demokratische Revolutionäre Bewegung für die Befreiung Arabistans" nannten, wollten mit ihrer Aktion die Unabhängigkeit der mehrheitlich von Arabern bewohnten Erdöl-Provinz Khuzestan im Süden Irans erpressen. Zudem forderten sie die Freilassung von 91 inhaftierten Separatisten aus iranischen Gefängnissen.

Tatsächlich jedoch hatten sie keine Ahnung vom Terroristenbusiness. Der Irak hatte sie miserabel ausgebildet, mit Waffen versorgt und nach Europa geschickt, um den Erzrivalen Iran vor aller Welt zu demütigen: ein Himmelfahrtskommando, dessen tödlichen Ausgang der neue irakische Regierungschef Saddam Hussein mit einkalkuliert hatte. Als einziger, der sowohl Arabisch als auch Englisch sprechen konnte, übernahm Mustafa die Rolle des Vermittlers zwischen den Terroristen und der Polizei, die vor dem Gebäude Position bezogen hatte.

Beinahe-Massaker an Tag vier

"Ich stand die meiste Zeit am Fenster, mit einem Maschinengewehr am Kopf", erinnert er sich. Ein zerrüttender Job, war doch bald klar, dass die britische Regierung nicht mit den Geiselnehmern verhandeln wollte. Premier Margaret Thatcher, deren enger Vertrauter Airey Neave von der IRA in die Luft gesprengt worden war, ging es darum, im Kampf gegen den Terrorismus ein Zeichen der Härte zu setzen. Nur zehn Tage zuvor hatten die Amerikaner ein historisches Debakel erlitten bei dem Versuch, die Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran zu beenden. Nun musste der Westen sich behaupten - um jeden Preis.

Die Amateurterroristen in der iranischen Botschaft wussten nichts von alldem, zunehmend verängstigt trieben sie ihre Geiseln von Raum zu Raum. "Die Situation war unerträglich", sagt Mustafa, "mal waren die Männer zu Scherzen aufgelegt und erzählten mir von ihrer Kindheit, mal drohten sie, uns alle sofort zu erschießen."

Die Spannung entlud sich am vierten Tag der Belagerung. Nachdem zwei der Geiselnehmer Anti-Chomeini-Slogans an die Wände geschmiert hatten, flippte der iranische Presseattaché Abbas Lavasani aus. Er beschimpfte die Terroristen so wüst, dass einer von ihnen eine Handgranate zückte, worauf die Geiseln in Todesangst durcheinander schrien.

"Auf allen Vieren verließ ich die Botschaft"

"Ich warf mich auf Lavasani, schlug ihm ins Gesicht und brüllte ihn an, endlich aufzuhören", sagt Mustafa. Doch Lavasani hörte nicht auf. Immer wieder bot er sich als Märtyrer für Ajatollah Chomeini an und forderte die Terroristen auf, ihn zu erschießen. Schließlich streikte Mustafas Körper: An Tag fünf der Belagerung, einem Sonntag, brach er vor Erschöpfung zusammen, ausgehungert, übermüdet, vor Angst krank. Die Terroristen ließen ihn spätabends ziehen - wie bereits vier Geiseln vor ihm.

"Auf allen Vieren verließ ich die Botschaft, die Polizisten zogen mich aus der Schusslinie und brachten mich ins Spital", so Mustafa. Von seinem Krankenhausbett aus verfolgte der Journalist gemeinsam mit Millionen von Briten im Fernsehen live das gewaltsame Ende der Belagerung am 5. Mai. Die Bilder sollten sich im kollektiven Gedächtnis einprägen wie einst Neils Armstrongs erste Schritte auf dem Mond oder die Ermordung Kennedys.

Mit Mustafa hatten die Terroristen ihren Vermittler verloren; als sie dann noch einen Riss in der Wand entdeckten, der auf eine Erstürmung der Botschaft von außen hindeutete, verloren sie vollends die Nerven. Mit drei Schüssen ermordeten die Geiselnehmer Abbas Lavasani, um punkt 19 Uhr warfen sie seinen toten Körper aus dem Botschaftseingang. Mustafa erkannte den von der BBC gefilmten Toten sofort an dessen gelbem Pullover.

"Wir wurden darauf gedrillt zu töten"

Sein Tod galt den längst in Stellung gegangenen SAS-Soldaten als Startschuss für die "Operation Nimrod". Von jetzt an übernahm das Militär: Um 19.23 Uhr seilten sich die vermummten Elite-Kämpfer vom Dach ab, sprengten die schusssicheren Fenster, warfen Rauchgranaten und Schockbomben ins Gebäude und stürmten die Botschaft durch das obere Stockwerk. 17 Minuten später war der ganze Spuk vorbei. Die Bilanz: eine weitere tote Geisel, erschossen durch die in Panik geratenen Terroristen, sowie fünf tote Geiselnehmer.

Der sechste, Fowzi Badavi Nejad, überlebte die "Operation Nimrod", weil er sich unter die aus dem Gebäude laufenden Geiseln mischte. Als die SAS-Männer ihn erkannten, führten sie ihn zurück in die Botschaft, vermutlich, um auch ihn zu erschießen - was nur durch die massive Medienpräsenz verhindert wurde. "Wir wurden darauf gedrillt zu töten. Wenn das SAS in Aktion tritt, muss man sich damit abfinden, dass es Tote gibt", gab Robin Horsfall, einer der Elitesoldaten, später zu Protokoll.

Mit einem Schlag wurde die 1941 gegründete, von offizieller Seite stets geheim gehaltene Elitekampftruppe weltberühmt. Während die britische Regierung ihre SAS-Soldaten als Helden feierte, wich die Euphorie in der Bevölkerung bald einer kritischen Haltung.

28 Jahre Haft für den überlebenden Terroristen

Hätte das Geiseldrama nicht auch friedlich gelöst werden können? Warum wurden die - laut Geiseln zur Aufgabe bereiten und alle bis auf einen unbewaffneten - Terroristen ohne Prozess getötet? Lag ein genereller Schießbefehl vor? Der britische Geheimdienst konfiszierte den Großteil des während der Befreiung entstandenen Film- und Fotomaterials, viele Fragen bleiben bis heute ohne Antwort.

Mustafa Karkuti enthält sich einer Bewertung. "Traurig" nennt der 65-Jährige im Rückblick den Ausgang der Belagerung, zumal er damals gemeinsam mit den Terroristen einen Plan zur friedlichen Beilegung des Konflikts ausgearbeitet hatte: "Die Geiselnehmer hätten die Möglichkeit bekommen, vor der internationalen Presse ihre Forderungen zu verkünden, dann hätten sie sich gestellt und wären mit einer Gefängnisstrafe davongekommen", so Mustafa.

Es kam anders. Von den sechs Terroristen wanderte nur einer hinter Gitter, für 28 Jahre. Ende 2008 kam Fowzi Badavi Nejad wieder frei: eine juristische Entscheidung, die Mustafa befürwortet. "Der Mann hat seine Strafe abgesessen", sagt er. Verziehen hat er ihm deshalb nicht. Immer wieder schnürt ihm die Panik den Hals zu, beim Autofahren, beim Lesen, beim Schlafen: "Man weiß nie, wann die Angst wieder zuschlägt", sagt Mustafa.

Noch immer pflegt der 65-Jährige regen Kontakt zu einigen der Ex-Geiseln, darunter den damaligen BBC-Mitarbeitern Simeon Harris und Chris Cramer. Am 5. Mai wird er ein Diner für sie geben, in seinem Haus in London. Mustafa freut sich darauf. Auch wenn er Angst hat vor den Schreckensbildern, die dann wieder lebendig werden.

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