
Gemini: "Kosmisches Ballett"
Rendezvous im All Die knuddelnden Kapseln
Plötzlich leuchten da diese Lichter in der dunklen Einsamkeit des Weltraums. Ein anderes Raumschiff! An Bord der US-Raumkapsel "Gemini VI" steigt die Aufregung.
"Schau dir mal das helle Licht an!", ruft Pilot Thomas Stafford seinem Kommandanten Walter Schirra zu. "Da ist es. Wartet einfach auf uns." Kurz danach verkündet er stolz: "Wir sind direkt unter ihnen."
Fünf Stunden und 53 Minuten sind die beiden Piloten seit ihrem Start am 15. Dezember 1965 allein an Bord der "Gemini VI" geflogen. Jetzt nähert sich ihre Mission dem Höhepunkt: einem Treffen mit "Gemini VII". Im Schwesterschiff sind ihre Landsleute Frank Bormann und Jim Lovell schon seit gut 260 Stunden im All, so lange wie niemand zuvor. Jetzt sollen sich die beiden Raumschiffe bei rasenden 28.000 Stundenkilometern bis auf ein paar Meter nähern - und damit einen weiteren Rekord aufstellen.
Ungewohnt blumig spricht die Nasa von einem "Rendezvous im All". Doch das riskante Manöver, gebannt verfolgt von Millionen auf der Erde, dient wenig romantischen Zwecken: Mitten im Kalten Krieg wollen die in der Raumfahrt gedemütigten Amerikaner endlich wieder gegenüber Moskau punkten. Ein erfolgreiches Treffen im All wäre ein großer Schritt zur Mondfahrt: Ohne das Andocken zweier Raumschiffe hält die Nasa eine Mondlandung für undurchführbar.
Erster Start: Desaster nach 1,17 Sekunden
Doch das erste Rendezvous verläuft, wie oft im echten Leben, ziemlich kompliziert - Schirra und Stafford kommen zu spät. Sie wollten eigentlich schon drei Tage vorher von der Erde starten, aber 1,17 Sekunden nach dem Countdown schalteten sich die Triebwerke ihrer "Titan 2"-Rakete plötzlich wieder ab. Mehr als glühend roter Rauch stieg an diesem 12. Dezember in Cape Canaveral nicht in die Luft; es lag an einer vergessenen, nicht abgezogenen Staubschutzkappe.
Nach dem Debakel wissen Bormann und Lovell: Das zähe Warten geht weiter, mit dem eintönigen Astronautenessen, das sie längst leid sind. Erst am 15. Dezember gelingt den Kollegen Schirra und Stafford ein Bilderbuchstart.
Jetzt versucht Bormann, endlich Funkkontakt zum trichterförmigen Zwillingsschiff aufzunehmen. Nicht gerade einfallsreich fragt er: "Na, habt ihr Spaß?" Ein paar Sekunden Schweigen, dann antwortet Schirra aus "Gemini VI" ebenso unoriginell: "Hallo ihr!"
Wie bei einem richtigen Date geht es auch im All um Äußerlichkeiten: "Gemini VI" meldet, dass "Gemini VII" ein Kabel oder ein großes Seil "aus dem Rücken" hänge, das dort nicht hingehöre. "Genau so was hast du dort auch!", antwortet Bormann prompt."Wie wäre es, wenn du mal rüberkommst und bei mir draufschaust?" "Gern", gibt Stafford zurück. Von Beunruhigung keine Spur.
Was nach einem Spaziergang klingt, ist eine technische und navigatorische Meisterleistung. Neue Radargeräte kommen zum Einsatz, die komplizierten Manöver werden von einem bordeigenen Steuercomputer berechnet - so modern, dass er in der Presse noch als "elektronische Datenverarbeitungsmaschine" erklärt werden muss. Die Herausforderung für die Raumschiffe: Sie können sich im All nicht einfach einholen wie zwei Autos, indem das eine Fahrzeug schneller als das andere fährt.
Nasa-Video: Kosmisches Ballett - das Treffen der "Gemini"-Raumschiffe
Himmelsmechanik funktioniert nach anderen Gesetzen: Bewegen sich beide Raumschiffe auf derselben Umlaufbahn, führt ein Zünden des Triebwerks nur zu einem noch größeren Abstand - denn dann steigt das Raumschiff in eine höhere Erdumlaufbahn und bewegt sich dort im Verhältnis langsamer als sein Ziel. Treffen können sich die Raumschiffe also nur, wenn eines aus einer niedrigen Umlaufbahn im genau richtigen Moment beschleunigt und so in eine höhere Umlaufbahn aufsteigt.
An genau dieser Herausforderung waren sowjetische Kosmonauten zuletzt 1962 und 1963 gescheitert. Ihre "Wostok"-Raumschiffe hatten sich nur auf fünf Kilometer angenähert. Über Funk sangen die Piloten gemeinsam ein paar Lieder, das war's - von einem Rendezvous konnte keine Rede sein.
Im Herbst 1965 sah es so aus, als würden die Amerikaner noch grandioser scheitern als ihre kommunistischen Erzrivalen. Denn ursprünglich wollte die Nasa die obere Stufe einer unbemannten Rakete im All mit der "Gemini VI" zusammenkoppeln. Erst sollte die "Atlas Agena"-Rakete starten, 101 Minuten später "Gemini VI".
"Nase an Nase"
Doch schon Minuten nach dem Start hatte die Nasa den Kontakt zur "Agena" verloren. Von Florida über die Bermudas, von Nigeria bis nach Australien - keine Bodenstation konnte die Rakete orten. Vermutlich war sie nach dem Start in den Atlantik gestürzt. Wie versteinert teilte der Nasa-Chef mit, dieses Manöver werde "nicht wiederholt". Die Nasa ging einen Schritt zurück, verzichtete auf ein Andocken - und plante stattdessen das Rendezvous der "Gemini"-Schiffe.
Umso verständlicher, dass in der Flugleitzentrale am 16. Dezember frühmorgens nach Ortszeit frenetischer Jubel ausbricht, als "Gemini VI" 36 Meter ans Schwesterschiff heranrückt. Intern hatte man die Chance dafür auf höchstens 50 Prozent geschätzt. Und Schirra und Stafford übertreffen die kühnsten Erwartungen: Sie fliegen noch dichter an "Gemini VII" heran: neun Meter, sechs Meter, drei Meter - dann 1,80 Meter. Von einem "kosmischen Ballett" schreibt die US-Presse später begeistert.
Das Eis ist gebrochen, auch zwischen den vier Astronauten, die in 296 Kilometer Höhe über den Marianen-Inseln schweben - "Nase an Nase", wie sie der Kontrollstation melden. Die Männer sehen sich nun durch die verrußten Raumschifffenster, fotografieren sich gegenseitig. Zwischen nüchternen technischen Anweisungen blödeln sie herum wie Teenager.
"Ganz schön viel Verkehr hier oben", scherzt Stafford; die Bodenstation rät ihm, er solle doch die Polizei rufen. "Kannst du Franks Bart sehen?", fragt Lovell aus "Gemini VII" Schirra aus "Gemini VI" - schließlich haben sich Frank Bormann und Jim Lovell seit elf Tagen nicht rasieren können. "Ja, aber ich sehe deinen Bart sogar besser", antwortet Schirra. Sein Begleiter Stafford will wissen: "Jim, wischt du dir eigentlich den Mund ab, wenn du gegessen hast? Du musst dir gerade erst den Mund abgewischt haben, stimmt's?" "Richtig", antwortet Lovell kurz. Ein paar Minuten später wünscht Schirra seinen Kollegen schon mal frohe Weihnachten, während Lovell bedauert, keinen guten Tropfen dabeizuhaben.
"Jingle Bells" im All
Wie es sich für ein erstes Date gehört, kehren die beiden Raumschiffe danach brav getrennt zurück. Schirra und Stafford landen noch am 16. Dezember wohlbehalten im Atlantik, nicht ohne zuvor ihre Freunde in "Gemini VII" zu verulken: Sie hätten ein unbekanntes Flugobjekt gesichtet, funken sie. Es reise in einer "sehr tiefen Umlaufbahn" und steige ungewöhnlich steil auf; sie würden nun versuchen, "das Ding einzufangen".
Dann erklingt die Melodie von "Jingle Bells" über den Sprechfunk. Schirra und Stafford hatten eine Mundharmonika und eine Glöckchenschelle an Bord genommen, um den Eindruck zu erwecken, das vermeintliche Ufo werde vom Weihnachtsmann persönlich geflogen. "Das war live, 'VII', nicht aufgenommen", fügt Schirra stolz hinzu. "Ihr seid einfach zu stark!", mischt sich das Kontrollzentrum ein.
Für die Nasa ist der Erfolg tatsächlich ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. "Eine weitere Stufe auf der Treppe zum Mond", jubelt US-Präsident Lyndon Johnson. Selbst Moskauer Zeitungen sprechen von einem "großen Sieg".
Thomas Stafford wird schon dreieinhalb Jahre später wieder Geschichte schreiben, als Kommandant der "Apollo 10"-Mission: Mit einer Mondfähre näherte er sich als erster Mensch dem Mond auf 15 Kilometer - und kehrt problemlos zum Mutterschiff zurück.