23. Mai – Tag des Grundgesetzes »Der Staat soll nicht alles tun können«

Konrad Adenauer unterzeichnet am 23. Mai 1949 das Grundgesetz
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Am 11. Januar 1949 wurde jener Satz geboren, der in der Coronapandemie zum Credo der deutschen Politik werden sollte. An diesem Tag vor mehr als 70 Jahren einigten sich ein Dutzend Abgeordnete des Parlamentarischen Rates in Bonn darauf, für das künftige Grundgesetz einen neuen Artikel vorzuschlagen: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.«
Das waren neun eminent wichtige Worte. Und ein Novum der deutschen Verfassungsgeschichte, das sich »sogar sprachlich ganz gut« lese, wie es im Protokoll damals zufrieden hieß.
Vorausgegangen waren stundenlange Diskussionen um Details der Formulierung, alternative Vorschläge und ungeklärte Fragen. Vom Impfen war schon die Rede, auch von der Zwangsimpfung. War beides mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit überhaupt vereinbar? Selbst die Frage, ob Schönheitsoperationen – »das Aufsetzen einer neuen Nase« etwa – weiter zulässig seien, wurde munter diskutiert.

Feierliche Eröffnungssitzung des Parlamentarischen Rates in Bonn, 1948
Foto: HDG Bonn / ullstein bildZeitweise verhakte sich die Debatte in grotesken und reichlich konstruierten Problemstellungen. Fast satirisch wurde es bei der Frage, ob es nach dem neuen Artikel möglich wäre, dass sich ein Bürger im »Interesse der Selbstverstümmelung« ein Bein oder gar den Kopf abschneiden ließe. Und ob solch ein Bürger fortan Heilbehandlungen verweigern dürfe – mit der Folge, dass er womöglich berufsunfähig werde und damit der Rentenkasse zur Last falle.
Wegen solcher Szenarien stand kurzzeitig sogar der ganze Artikel zur Disposition. In dieser Situation ermahnte eine der beiden an der Diskussion beteiligten Frauen, die Lehrerin und frühere Reichstagsabgeordnete Helene Weber (CDU), ihre Kollegen eindringlich, zur Sache zurückzukehren: »Es sind so schreckliche Dinge in den Konzentrationslagern vorgekommen und wir haben heute ein anderes Verantwortungsgefühl dafür, daß der Körper weitgehend unverletzlich sein soll, daß unsere Zeit verpflichtet ist, hierüber doch etwas in der Verfassung zu bringen.«
Damit traf Weber einen Nerv: Manche der Anwesenden hatten während der NS-Zeit selbst unter Berufsverboten gelitten. Einige waren sogar inhaftiert gewesen. Andere wiederum hatten sich als »Mitläufer« mit der NS-Diktatur arrangiert.
Am Ende stand der Satz, so wie wir ihn heute kennen, im Entwurf des Grundgesetzes, der am 8. Mai 1949 beschlossen wurde und schließlich nach der Billigung der Alliierten und der Zustimmung aller westdeutschen Landtage (mit Ausnahme Bayerns) am 23. Mai 1949 in Kraft trat. Seitdem wird der 23. Mai als Tag des Grundgesetzes gefeiert und die Grundrechte werden mitunter poetisch gewürdigt: »Würde das Grundgesetz als Organismus beschrieben, dann schlüge sein Herz in den Grundrechten«, schrieb 2009 Autor Christian Bommarius in seinem Buch »Das Grundgesetz. Eine Biographie«.
Historische Vorbilder
Die Formulierung dieser Grundrechte ist überwiegend zwei Frauen und zehn Männern der CDU, CSU, SPD, FDP und der nationalkonservativen Deutschen Partei zu verdanken. 1948 und 1949 diskutierten sie im Ausschuss für Grundsatzfragen in 36 Sitzungen mehr als 77 Stunden lang über den genauen Wortlaut der Artikel 1 bis 19. Der Ausschuss war einer von sechs Fachausschüssen, die sich der Parlamentarische Rat gegeben hatte, um die Arbeit am Entwurf für ein Grundgesetz inhaltlich aufzuteilen.

Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes
Foto: Reiner Zensen / imago imagesAus den Sitzungsprotokollen des besonders wichtigen Grundsatzausschusses geht hervor, wie ernsthaft und respektvoll seine Mitglieder, zu denen auch der später zum ersten Bundespräsidenten gewählte FDP-Politiker Theodor Heuss gehörte , um jedes Wort der Grundrechte rangen. Und das über die Parteigrenzen hinweg.
Auch wenn die Debatte über das »Recht auf Unversehrtheit« zeitweise schräge Züge annahm, herrschte im Ausschuss meist die Atmosphäre eines »akademisch-wissenschaftlichen Kolloquiums«, so der Verfassungshistoriker Michael F. Feldkamp. Ein Viertel der Ausschussmitglieder waren Professoren, die sich auf große historische Vorbilder beriefen: die englische »Magna Charta« von 1215, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische Menschenrechtsdeklaration von 1789.
Erst der Mensch, dann der Staat
Unstrittig war, dass die Grundrechte den Anfang des Grundgesetzes bilden sollten, bevor die Einzelheiten des Staatsaufbaus aufgeführt würden. Der Bürger sollte vor dem Staat selbst stehen. In der Weimarer Verfassung von 1919 war die Reihenfolge umgekehrt gewesen. Nach der Barbarei des Nationalsozialismus sollte aber fortan der Staat nie wieder über die »Wertigkeit« von Menschenleben urteilen dürfen oder gar »lebensunwertes Leben« definieren können.
Das »Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« war damit eine direkte Konsequenz aus dem staatlich organisierten Mord und der Willkür des »Dritten Reichs«. Frühere deutsche Verfassungen kannten ein solches Grundrecht nicht. Die Reichsverfassung von 1871 etwa enthielt gar keine Grundrechte.
Wie alle Grundrechte war auch Artikel 2 als Abwehrrecht gegen mögliche Übergriffe des Staates gedacht. Der Vorsitzende des Ausschusses für Grundsatzfragen, Hermann von Mangoldt (CDU), erklärte, dass mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit »die verfassungsrechtliche Grundlage« gelegt werde, dass »Maßnahmen, wie sie der Nationalsozialismus mit den Zwangssterilisationen eingeleitet hat, nicht mehr durchgeführt werden dürfen«. Auch Menschenexperimente, wie sie in den Konzentrationslagern durchgeführt worden waren, seien so ausgeschlossen.
»Die Grundrechte müssten das Grundgesetz regieren«
»Der Staat soll nicht alles tun können, was ihm gerade bequem ist, wenn er nur einen willfährigen Gesetzgeber findet«, fasste Carlo Schmid, SPD-Mitglied im Grundsatzausschuss, zusammen. »Der Mensch soll Rechte haben, über die auch der Staat nicht soll verfügen können. Die Grundrechte müssten das Grundgesetz regieren.«
Der spätere Artikel 2 vom »Recht auf Leben« war jedoch eine Spätgeburt. In den ersten Entwürfen zum Grundgesetz tauchte er noch nicht auf. Der Verfassungskonvent, der im August 1948 auf der Herreninsel im bayerischen Chiemsee tagte, um die erste Vorlage für eine vorläufige deutsche Verfassung auszuarbeiten, legte weder ein »Recht auf Leben« noch ein Verbot der Todesstrafe fest. Er schlug jedoch wegen der historischen Erfahrung aus der NS-Diktatur ein Folterverbot vor, das »Sicherheit vor körperlicher und seelischer Mißhandlung gewährleistet«.

Der Verfassungskonvent tagte abgeschieden im Schloss Herrenchiemsee auf der Herreninsel im bayerischen Chiemsee
Foto: dpaAls der Parlamentarische Rat einen Monat später in Bonn zusammentrat, wurden die Vorlagen vom Herrenchiemsee in den Grundgesetzentwürfen zunächst übernommen. Erst zum Jahreswechsel 1948/49 tauchte das »Recht auf Leben« als Artikel 2 in den Entwürfen auf. Es ging auf die im Dezember 1948 verabschiedete Uno-Menschenrechtserklärung zurück.
Zwei Ausschüsse im Widerstreit
Der allgemeine Redaktionsausschuss, der die unterschiedlichen Entwürfe der Fachausschüsse unter dem Vorsitz des späteren CDU-Bundesaußenministers Heinrich von Brentano auf sprachliche Fehler und inhaltliche Widersprüche prüfen und zu einem Gesamtentwurf zusammenführen sollte, riet jedoch ab, ein »Recht auf Leben« aufzunehmen. Dies sei nicht notwendig, weil dieses Recht an keiner Stelle des Grundgesetzes eingeschränkt sei.
Der Ausschuss bemängelte weiter, das Recht auf Leben gehöre »systematisch« nicht in die Freiheitsartikel. Außerdem wäre mit einem »Recht auf Leben« die Todesstrafe faktisch abgeschafft, obwohl sich eine große Mehrheit der Deutschen (74 Prozent) damals in einer Umfrage für deren Beibehaltung ausgesprochen hatte.
Der Redaktionsausschuss konnte sich jedoch nicht gegen den mächtigen Hauptausschuss unter dem Vorsitz von Carlo Schmid durchsetzen, der am »Recht auf Leben« festhielt. Allerdings konnte der Redaktionsausschuss erreichen, dass in Artikel 2 zuerst die allgemeine Handlungsfreiheit genannt werden sollte. Das Recht auf Leben folgte nachgeordnet im zweiten Absatz. Diese Abfolge war nicht nur symbolisch gemeint, sondern hatte eine wichtige politische Bedeutung: Der erstgenannten »freien Entfaltung der Persönlichkeit« sollte ein Vorrang vor dem »Recht auf Leben« eingeräumt werden.
Doch noch immer war keineswegs sicher, ob es der Satz am Ende ins Grundgesetz schaffen würde. Denn als einige SPD-Mitglieder des Parlamentarischen Rates Ende April 1949 einen eigenen »vereinfachten« Grundgesetz-Entwurf öffentlich vorstellten, fehlte darin nicht nur der berühmte Satz »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Sondern auch das »Recht auf Leben«.
Nie geändert, viel diskutiert
Der Vorschlag setzte sich aber nicht durch. Und während viele der 19 Grundrechtsartikel im Laufe der folgenden Jahrzehnte verändert oder ergänzt wurden, blieb der Wortlaut von Artikel 2 seit dem 23. Mai 1949 unangetastet. Er scheint wie in Stein gemeißelt. Doch wurde er immer wieder neu interpretiert, etwa während der Debatten über Abtreibung oder um Sterbehilfe.
1958 hieß es etwa in einem Grundgesetz-Kommentar, dass »der Sinn des Grundrechts auf Leben« vornehmlich darin liege, »den staatlich praktizierten, legalisierten oder geduldeten Mord abzuwehren«. Das Grundrecht könne aber »nicht schlechthin jedes lebensgefährliche Risiko aus dem menschlichen Zusammenleben« rechtlich verhindern. In der Coronapandemie wiederum musste der Artikel 2 zur Begründung für viele Einschränkungen herhalten: Ausgangssperren, Maskenpflicht, Schulschließungen, Berufs-, Versammlungs- und Beherbergungsverbote.

Museumsreif: Grundgesetz im Haus der Geschichte, Bonn
Foto: Oliver Berg / dpaEine Reform des Artikels wurde zuletzt nach der Wiedervereinigung diskutiert, als kurzzeitig eine neue gesamtdeutsche Verfassung zur Debatte stand. Damals kursierte ein Neuentwurf, der den Wesensgehalt von Artikel 2 zwar nicht angetastet, aber um wesentliche Aspekte erweitert hätte. Es sind jene Aspekte, über die in der Pandemie viel diskutiert wurde, denn der Vorschlag für die Neufassung lautete 1991: »Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, körperliche und seelische Unversehrtheit sowie auf Achtung seiner Würde im Sterben.«
War eine »seelische Unversehrtheit« bei geschlossenen Schulen und sozialen Einrichtungen nicht in Gefahr? Wie stand es um die »Würde im Sterben«, als Angehörigen der Besuch in Altersheimen und Krankenhäusern verweigert wurde? So scheint es lohnenswert, 30 Jahre später noch einmal ernsthaft über den damaligen Änderungsvorschlag nachzudenken.