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Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL

Neues von gestern – der Geschichte-Newsletter Buenos días, Messias

Liebe Leserin, lieber Leser,

Krisenzeiten bilden einen idealen Nährboden für messianische Gestalten, die sich im Besitz einzigartiger Wahrheiten wähnen und den Menschen weismachen, sie – und nur sie – könnten das Land von Not und Elend befreien. So war es vor hundert Jahren in der Weimarer Republik: In Sandalen und Büßergewand zog eine Riege von Wanderpredigern umher und nährte die Hoffnung auf Rettung.

Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren, das autoritätsfixierte Wertegefüge aus dem Kaiserreich war Vergangenheit, Extremisten gewannen an Boden. 1923 wurde zum deutschen Horrorjahr . Vor allem schwand die Zahlkraft der Währung: In der schlimmsten Phase der Hyperinflation kostete ein Kilo Roggenbrot 233 Milliarden Mark.

Der schrillste unter den »Inflationsheiligen« dieser Zeit hieß Ludwig Christian Haeusser. Dass er Erfolg hatte, lag sicher nicht an exzellenten Manieren: Mit Inbrunst beschimpfte Haeusser seine Anhänger (»Ihr seid Esel, Affen, Säue!«) und kotzte dem Publikum auch mal schwer betrunken vor die Füße. Trotzdem konnte er zahlreiche Verzweifelte und Mittellose um sich scharen, besonders Frauen.

Wie der zauselbärtige Winzersohn sich auch als Sex-Apostel in Szene setzte und verblüffend populär wurde , schildert Geschichte-Redakteurin Katja Iken – und ebenso seine kraftmeiernde Zerstörungsrhetorik mit völkisch-hasserfülltem Getöse. Denn Haeusser und die anderen Weltuntergangspropheten mögen zwar aus heutiger Perspektive clownesk wirken, waren aber keineswegs harmlos. Nachdem sie allmählich wieder verschwunden waren, bediente ein anderer die Sehnsucht nach einer Erlösergestalt: In »ihren Fußstapfen beginnend«, so der Historiker Ulrich Linse, nutzte Hitler ab 1929 die nächste große Krise für seine Zwecke.

Spionage als Friedensdienst

Von einer außergewöhnlichen Begegnung erzählt unser Geschichte-Kollege Christoph Gunkel: In Bayern besuchte er ein amerikanisches Ehepaar, das der Stasi zwölf Jahre lang Informationen aus dem Kanzleramt und aus Kernforschungszentren lieferte. Beatrice Altman-Schavitz und ihr Mann Jeffrey, Soziologe und Princeton-Absolvent, wurden 1977 aus voller Überzeugung Zuträger der HVA, des Auslandsnachrichtendienstes. Die DDR bewunderten sie als »sozialistisches Experiment« und antifaschistischen Staat, »für uns als Juden war das sehr wichtig«.

Spione im Ruhestand: Ehepaar Schevitz mit Hund Jazz

Spione im Ruhestand: Ehepaar Schevitz mit Hund Jazz

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Christoph Gunkel / DER SPIEGEL

Sich selbst beschreiben die beiden nicht als Spitzel, sondern als »Kundschafter des Friedens« mitten im Kalten Krieg – so sehen sie es bis heute. Ihr Dienst als Topspione der DDR endete erst, als die Mauer fiel. Längst wähnte sich das Ehepaar in Sicherheit, da fiel ein Datensatz mit HVA-Karteikarten der US-Regierung in die Hände, und die Tarnung flog 1994 doch noch auf. Vor Gericht behauptete Jeffrey Schevitz, tatsächlich habe er für die CIA spioniert: ein Märchen, das sich aber nicht widerlegen ließ. So kamen beide mit milden Strafen davon.

Heute leben die einstigen Agenten in einem Allgäuer Bergidyll bei Füssen und machen aus ihrer Vergangenheit kein Geheimnis. Christoph traf sie im Dorfgasthof und in ihrer Wohnung : »Am liebsten wäre das Ehepaar in der DDR alt geworden und blickt auf den längst untergegangenen Staat mit Nostalgie zurück«, sagt er, »dass sie nun ausgerechnet in einem bayerischen Dorf gelandet sind, kommt ihnen selbst wie eine sonderbare historische Kapriole vor.«

Auf keinen Fall verpassen sollten Sie unser Heft über »Die ersten Amerikaner« mit Geschichten über das wahre Leben der »Indianer«, weit jenseits aller Winnetou-Klischees. Zum Beispiel das Porträt von Deb Haaland , die nach einem harten Berufsleben zur ersten indigenen Ministerin der USA wurde und seitdem viel erreicht hat. Oder die echte Geschichte der legendären Prinzessin Pocahontas : ohne Happy End, ganz anders als im farbenfrohen Disney-Trickfilm. Das alles finden Sie digital hier oder auf Papier im Zeitschriftenhandel.

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Die Redaktion von SPIEGEL GESCHICHTE empfiehlt:

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Staatsarchiv Würzburg, Gestapostelle Würzburg 16015.

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