
Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL
Neues von gestern – der Geschichte-Newsletter Ist Putin ein Faschist?
Liebe Leserin, lieber Leser,
ein Jahr ist es am Freitag her, dass Russland die Ukraine angriff. Für eine historische Analyse des Angriffskrieges ist es zu früh, noch weiß niemand, wie die Sache ausgehen und was sich daraus entwickeln wird. Aber ist eine erste Einordnung aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive schon möglich? Das haben wir den Historiker Timothy Snyder gefragt, einen der besten und streitbarsten Kenner der ukrainischen Geschichte.
Seine Antwort war überraschend, in gewisser Weise auch überraschend optimistisch. Snyder sieht den Konflikt als einen Schritt Russlands bei der Transformation in einen, nun ja, normalen europäischen Staat: »Europäische Imperien müssen offenbar erst Kriege verlieren, um sich weiterzuentwickeln. So, wie Deutschland 1945 den Zweiten Weltkrieg verloren hat, Frankreich 1962 den Algerienkrieg, so wie Portugal und Spanien ihre afrikanischen Kolonien verloren haben. Russland muss in der Ukraine verlieren, um sich von einer Großmacht in etwas Neues zu verwandeln.«
Noch eine historische Vergleichsebene bringt Snyder ins Spiel: Er hält Putins Regime für faschistisch. Wir haben ihn gefragt, woran er das festmacht. Unter anderem daran, dass der Wille über der Vernunft stehe, sagt Snyder – der auch einen Ausblick wagt, wie der Krieg enden könnte. Das ganze Interview lesen Sie hier .

»Wir Deutschen hatten die geostrategische Rolle Russlands aus dem Blick verloren«, sagt Wolfgang Ischinger, lange Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, im Gespräch mit den Geschichte-Kollegen Felix Bohr und Martin Pfaffenzeller. Der Diplomat hat 1995 das Dayton-Abkommen mitverhandelt, das den Bosnienkrieg beendete, und er war 2014 nach der Annexion der Krim am Rande auch an den Vermittlungsversuchen zwischen Russland und der Ukraine beteiligt. Was man aus den Erfahrungen von damals lernen kann, warum er Verhandlungen für unverzichtbar hält und welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssten, erklärt Ischinger im Interview .
Das Ende der »Weißen Rose«
Einen weiteren traurigen Jahrestag gab es diese Woche: Vor 80 Jahren, am 22. Februar 1943, wurden Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst von den Nationalsozialisten ermordet. Schon bald nach Ende des NS-Regimes entstanden zahlreiche Mythen rund um die »Weiße Rose«. Etliche davon halten sich hartnäckig bis heute, etwa der von einer knapp gescheiterten Warnung oder einer letzten gemeinsamen Zigarette der drei zum Tode Verurteilten.
Der Hobbyforscher Martin Kalusche sammelt seit zwei Jahren alle Dokumente, die sich über die Widerstandsgruppe finden lassen, und kann dank der Quellen einige der überlieferten Erzählungen widerlegen. Er hat bei seinen Recherchen auch das wohl letzte Foto der Geschwister Scholl wiederentdeckt, das kurz vor der Hinrichtung entstand. Den Text über Kalusche und seine Erkenntnisse finden Sie hier.

Das vermutlich letzte Foto von Sophie und Hans Scholl entstand nach Kalusches Erkenntnissen drei Stunden vor der Hinrichtung
Anders als Hans und Sophie Scholl ist der Hamburger Arm der »Weißen Rose« fast vergessen. Die Studierenden dort standen in Kontakt mit der »Weißen Rose« in München, die Gestapo kam ihnen auf die Spur. Einige aus der Gruppe wurden ebenfalls hingerichtet oder starben aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen. Unsere Kollegin Jasmin Lörchner hat ihre Geschichte aufgeschrieben .
Als Kontrastprogramm zum Tagesgeschehen und zum Eintauchen in vergangene Welten möchten wir Ihnen noch einmal die aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE empfehlen: Die ersten Amerikaner – Jenseits von Winnetou: Das wahre Leben der »Indianer«. Wir melden uns in zwei Wochen mit dem nächsten Newsletter, wenn Sie uns schreiben wollen, erreichen Sie uns unter spiegelgeschichte@spiegel.de .
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