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Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL

Neues von gestern – der Geschichte-Newsletter Moskaus nützliche Idioten

Liebe Leserin, lieber Leser,

als Ost und West vor vier Jahrzehnten wuchtig aufrüsteten, kam es zu Massenprotesten, wie die Bundesrepublik sie noch nicht erlebt hatte. Schon 1981 demonstrierten Hunderttausende beim Kirchentag in Hamburg sowie im Bonner Hofgarten, am 22. Oktober 1983 waren es bundesweit rund 1,3 Millionen. Dazwischen löste Helmut Kohl als Bundeskanzler Helmut Schmidt ab, der den Nato-Doppelbeschluss forciert hatte – die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles, als Antwort auf frisch installierte sowjetische SS-20-Raketen.

Die Bedrohungsszenarien stützten sich auf ein »Gleichgewicht des Schreckens«. Die Waffenoffensive im Kalten Krieg folgte einer Logik der Abschreckung: Wer zuerst Atomraketen abfeuert, stirbt als Zweiter. Die Friedensbewegung wehrte sich gegen das nukleare Säbelrasseln. »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin«, lautete damals eine auf Postkarten verbreitete Graffiti-Parole. Millionen fanden auf den Straßen zusammen.

Verschwommen erinnere ich mich an die erste Riesendemo in Bonn – und daran, wie wir Bald-Abiturienten uns in der schulischen Friedens-AG über Grafiken zum atomaren Overkill beugten, wie wir in linken Arbeitskreisen Statistiken des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri zu entschlüsseln versuchten. Daran scheiterten selbst Fortgeschrittene unter Anleitung bärtiger Pastoren. Vielleicht lag’s auch an der Beschallung durch Bots (»Aufstehn«), Nena (»99 Luftballons«) oder Fischer Z (»Cruise Missiles«).

Bonner Hofgarten, 22. Oktober 1983: An der Großkundgebung nahmen Hunderttausende teil, trotz Verbots auch einige Bundeswehrsoldaten in Uniform

Bonner Hofgarten, 22. Oktober 1983: An der Großkundgebung nahmen Hunderttausende teil, trotz Verbots auch einige Bundeswehrsoldaten in Uniform

Foto: Heinz Wieseler / dpa

Am Ende waren alle Diskussionen über »Frieden schaffen ohne Waffen« vergebens: Die Kohl-Regierung setzte durch, was Schmidt begonnen hatte. Die »Nachrüstung« führte zur Kernspaltung der Gesellschaft, ein Schlüsselerlebnis für eine ganze Generation. Die Furcht vor einem Atomkrieg beschrieb Frank Biess, Geschichtsprofessor in San Diego, als »entscheidende politische Sozialisationserfahrung« – die zu überraschend klugen Entscheidungen geführt habe. Sein Beitrag über die »Rückkehr der German Angst«  erschien 2022 bereits drei Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die Erinnerung an die »rationale Kraft der Angst« könne heute hilfreich und zukunftsweisend sein, urteilte Biess. Und forderte zugleich, angesichts der neuen Bedrohung müsse auch die Friedensbewegung der Achtzigerjahre ihre Geschichte aufarbeiten.

Ferngesteuert aus dem Osten?

An alten pazifistischen Gewissheiten jedenfalls rüttelt Russlands Krieg nun vehement. Dieser Überfall hat die einstigen Friedensaktivisten weit voneinander entfernt. Die Parteigeschichte der Grünen ist erheblich geprägt durch die damalige Bewegung, heute sind viele von ihnen bei Forderungen nach Waffenlieferungen an die Ukraine ganz vorn dabei. Andere sehen ihren Platz im Umfeld der neuen Friedensbewegung um Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, die für fragwürdige Kompromisse  mit dem Kriegsherren Putin eintreten und die Nähe zu Rechtsextremisten kaum scheuen (»Jeder ist willkommen, der für Frieden demonstrieren möchte«) .

Dieser Bewegung der vergangenen Monate wird eine gefährliche Distanzlosigkeit zum Putin-Regime vorgehalten. Reimt sich da womöglich historisch etwas? Es erinnert jedenfalls daran, wie Christdemokraten die Friedensbewegung der Achtzigerjahre als »nützliche Idioten«  oder als »fünfte Kolonne Moskaus« (O-Ton Heiner Geißler, damals Helmut Kohls Wadenbeißer) schmähten – weil sie in Teilen von der Sowjetunion finanziert und letztlich gelenkt worden sei, darunter etwa Organisationen im Dunstkreis der DKP wie die Deutsche Friedensunion.

Benjamin Ziemann bewertet das jedoch als Legende: Eine solche »soziale Massenprotestbewegung kann man nicht einfach so per Knopfdruck fernsteuern«, sagt der Professor für deutsche Geschichte im SPIEGEL-Interview, »das ist illusorisch und hat mit der historischen Realität nichts zu tun«. Linksradikale hätten damals nur einen kleinen Teil der Bewegung ausgemacht, »kommunistische Botschaften oder Werbung für die Politik der DDR wären bei den allermeisten Beteiligten nicht gut angekommen«. Die heutige Situation sei ohnehin völlig anders: Man habe es mit einem »konkreten, barbarischen Krieg zu tun, den Russland gegen ein souveränes Land führt. Und die Akteure unterstützen mit ihrer Argumentation nicht die Opfer dieses Krieges – sondern den Aggressor«. Das Interview mit Benjamin Ziemann lesen Sie hier .

Zum Schluss ein Dankeschön: Im letzten Newsletter hat meine Kollegin Eva-Maria Schnurr um Hinweise auf gute Bücher oder Websites zum jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gebeten, ein Thema, über das zu selten berichtet wird. Zahlreiche Lesetipps haben uns bereits erreicht, merci! Drei davon hier:

  1. Arno Lustiger: Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden 1933–1945 (Kiepenheuer & Witsch; 628 Seiten; 29,90 Euro). Grundlagenwerk mit einem Gesamtüberblick über den jüdischen Widerstand in ganz Europa, anhand von Zeitzeugenberichten und Autobiografien.

  2. Marion Schreiber: Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz (Aufbau Verlag; antiquarisch erhältlich). Drei junge Männer setzten 1943 einen Plan jüdischer Widerständler um: In Belgien stoppen sie einen Zug auf dem Weg ins Vernichtungslager und ermöglichten vielen Insassen die Flucht.

  3. Regina Scheer: Im Schatten der Sterne. Eine jüdische Widerstandsgruppe (Penguin; 496 Seiten; 16 Euro). Wie jüdisch-kommunistische Jugendliche der Berliner Herbert-Baum-Gruppe 1942 einen Anschlag auf eine Propagandaausstellung verübten.

Schicken Sie uns jederzeit gern Anregungen, Lob oder Kritik unter spiegelgeschichte@spiegel.de .

Die Redaktion von SPIEGEL GESCHICHTE empfiehlt:

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  • Der Afrikaner, der in ein Iglu zog: Von Togo reiste Tété-Michel Kpomassie vor fast 60 Jahren Richtung Arktis, schloss Freundschaft mit Inuit und lernte Eisfischen. Nun ist er 82 – und will erneut nach Grönland ziehen .

  • Millionen Juden retten? Lieber nicht: Während Nazis den Aufstand im Warschauer Ghetto niederschossen , diskutierten westliche Diplomaten 1943 unter Palmen über Rettungspläne für Juden. Die Bermuda-Konferenz wurde zum Lehrstück für ein kollektives Versagen .

  • Hütten und Paläste: Arm oder reich, das konnte man historisch stets am Wohnstatus erkennen. Deutsche Traum- und Albtraumimmobilien, ein Überblick vom Erdloch bis zur Luxusvilla .

  • Sabeths Vater: Elisabeth Wallenborn-Honigmann ist die Tochter einer Jüdin und eines Nazis. Der war die ersten 40 Jahre ihres Lebens ein Tabu, die zweiten 40 Jahre ein Phantom. Jetzt, mit Mitte achtzig, wendet sie ihren Blick: auf sich .

  • »Man könnte besser die FDP-Zentrale umstellen«: Ist es maßlos, die »Letzte Generation« als »Klima-RAF« zu bezeichnen oder ihre Klebeproteste mit blutigen Straßenkämpfen der 1930er-Jahre zu vergleichen? Politikwissenschaftler Hajo Funke über schiefe Analogien.

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