
Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL
Neues von gestern – der Geschichte-Newsletter Muss Deutschland jetzt 6.220.609.000.000 Zloty zahlen?
Liebe Leserin, lieber Leser,
auch Polens Ministerpräsident liest SPIEGEL GESCHICHTE. Das ist erfreulich, überrascht hat es uns schon. Um Weihnachten erreichte die SPIEGEL-Redaktion ein Statement von Premier Mateusz Morawiecki, der in der aktuellen Ausgabe »Hitlers treues Volk« einen Artikel zur »Arisierung« gelesen hatte, zum gigantischen Raub an jüdischen Deutschen durch Enteignungen.
Der Chef der Regierung und der nationalkonservativen Partei PiS fand das treffend beschrieben, vermisste aber die Schilderung der »historisch beispiellosen Plünderungen« in Polen: »1939 ging das Morden und Plündern erst richtig los. Der deutsche Überfall auf unser Land und die sechs Jahre währende Besatzung haben eine Wunde gerissen, die bis heute nicht verheilt ist«, schreibt Morawiecki, studierter Historiker, in seinem Gastbeitrag. Er erklärt, welche Verwüstungen die Nazityrannei bewirkte: das unermessliche Leid der 5,5 Millionen Opfer und ihrer Angehörigen in Polen, aber auch die Zerstörung der Städte und Dörfer, die zahllosen gestohlenen Kunstwerke, die zertrümmerten Denkmäler und Skulpturen, die verbrannten Bibliotheken und Archive.

Aufstand im Warschauer Ghetto: Im Mai 1943 zwingen Soldaten der deutschen Waffen-SS Jüdinnen und Juden zu einem Sammelplatz für die Deportation
Foto:Reinhard Schultz / IMAGO
Auf 6.220.609.000.000 Zloty beziffert die Regierung die polnischen Verluste. Das entspricht rund 1,3 Billionen Euro, also 1300 Milliarden. Morawiecki fordert, Deutschland müsse neben der politischen und historischen auch finanzielle Verantwortung übernehmen – durch Entschädigungszahlungen. In Polen gibt es dazu seit Jahren vehemente Debatten. Die deutsche Bundesregierung indes lehnt jedwede Verhandlungen ab, weil die Reparationsfrage juristisch längst abgeschlossen sei und 1953 die damalige kommunistische Regierung Polens den Verzicht auf deutsche Zahlungen erklärt habe.
»Die Deutschen gefallen sich in der Rolle des Weltmeisters in der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Aber die meisten wissen nur schemenhaft, was die Nazis in unserem Nachbarland angerichtet haben«, sagt unser Kollege Jan Puhl, der sich in der SPIEGEL-Redaktion intensiv mit Polen beschäftigt. Er sieht für die Entschädigungsforderungen fast acht Jahrzehnte nach Kriegsende auch innenpolitische Gründe, vor allem aber den starken Wunsch Polens, sich aus einer geschichtlichen Opferrolle zu lösen und »gegenüber Deutschland wie in der EU aktiver, fordernder aufzutreten«. Dafür wolle Morawiecki die europäische Öffentlichkeit gewinnen – und »deutsche Arroganz« sei in der Haltung zu osteuropäischen EU-Partnern tatsächlich ein Problem, sagt Jan.
Waren wir Papst?
Am Silvestertag ist Benedikt XVI. gestorben, acht Jahre lang bis zu seinem Amtsverzicht 2013 Papst – der seit Langem erste aus Deutschland in der Geschichte der katholischen Kirche. »Wir sind Papst«, titelte die »Bild«-Zeitung nach seiner Wahl euphorisch. Waren wir das wirklich?
Kardinal Joseph Ratzinger vertrat einen äußerst konservativen Katholizismus, eine rigide Sexualmoral, dazu eine harte Haltung in ökumenischen Fragen. Geschichte-Redakteur Felix Bohr beschreibt ihn als »Gesicht einer epochalen Krise«: weil die Bischöfe unter Benedikts Ägide in einem starren Klerikalismus verharrten, weil der Kirchenapparat heute für »Erstarrung, Modernitätsverweigerung und Missbrauchsskandale« stehe statt für »Aufrichtigkeit und Anstand«.

»Recognitio« (Darstellung von 1878): Der »Camerlengo« klopft dem Papst auf die Stirn, um den Tod festzustellen
Foto: Stefano Bianchetti / Bridgeman ImagesFelix' Kommentar zum Niedergang des Katholizismus lesen Sie hier . Im Interview erklärt der Religionssoziologe Detlef Pollack, wie den Kirchen die Gläubigen entgleiten – er spricht von einem »Kipppunkt« mit gravierenden Folgen für die Gesellschaft. Und der Historiker René Schlott schildert die teils erstaunlichen Zeremonien der Katholiken beim Tod ihres Oberhauptes: »Drei sanfte Hammerschläge auf die Stirn bestätigten den Tod.«
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