Fotostrecke

"Green Book": Die grüne Reisebibel für Schwarze

Foto: New York Public Library

Reiseführer gegen Rassentrennung Freie Fahrt für schwarze Bürger

Beleidigt, bespuckt, verprügelt - Reisen war für Schwarze in den USA lange riskant. Ein Postbote erfand 1936 das "Green Book". Dieser Reiseführer inspirierte auch den oscarnominierten Kinofilm.

Victor Hugo hat einen Traum. Er schreibt ihn nieder und klingt dabei fast so wortgewaltig wie der französische Schriftsteller, dessen stolzen Namen er trägt. Und fast so visionär wie später der Bürgerrechtler Martin Luther King.

1948, lange vor Martin Luther Kings weltberühmter Rede "I have a dream", hofft also der schwarze Briefzusteller Victor Hugo Green, der seit zwölf Jahren einen Reiseführer für Schwarze herausgibt:

Es wird ein Tag kommen in der nahen Zukunft, wenn dieser Führer nicht mehr veröffentlicht werden muss. Es ist der Moment, wenn wir als Rasse dieselben Chancen und Privilegien in den Vereinigten Staaten haben. Es wird ein großer Tag sein für uns, diese Publikation einzustellen, denn dann können wir reisen, wohin wir auch mögen.

Victor Hugo Green aus dem New Yorker Schwarzenviertel Harlem lässt seit 1936 neben seiner Arbeit als Briefträger das "Green Book" drucken. Allein die Existenz dieses Reiseführers bedeutet eine Schande für das Land: Das Buch listet akribisch Hotels, Tankstellen, Autowerkstätten, Bars, Friseure und Apotheken auf, in denen Schwarze in Zeiten der Rassentrennung noch bedient werden - und nicht beleidigt, bespuckt und verprügelt.

Fotostrecke

"Green Book": Die grüne Reisebibel für Schwarze

Foto: New York Public Library

Doch so schnell kommt der Wandel nicht. Also druckt Green 1949 den Wunsch im Vorwort des Reiseführers trotzig ein zweites Mal. Und 1950, 1951, 1952 erneut. Schließlich lässt er es und bilanziert nur noch: Für Weiße sei es immer einfach gewesen zu reisen. Für Schwarze nicht - bis sein Buch das gründlich geändert habe.

Oasen der Ruhe in einem gespaltenen Land

Derzeit erinnert der Kinofilm und Oscaranwärter "Green Book" an diesen in Europa lange völlig unbekannten Ratgeber, die einst für viele Schwarze überlebenswichtige "Reisebibel". In dem Rassismus-Rührstück nach einer wahren Geschichte geht es um einen schwarzen feingeistigen Konzertpianisten, den 1962 ein grobschlächtiger weißer Chauffeur für eine Tournee durch den Süden der USA kutschiert.

Das Roadmovie schildert die Freundschaft zweier gegensätzlicher Charaktere in einem Klima des Hasses. Und doch verrät es fast nichts über jenen längst vergessenen Pionier, dem der Film seinen Namen verdankt: ein gut gebauter Mann, "immer makellos herausgeputzt" und "mit enormem Elan", wie ein Zeitgenosse Green einmal beschrieb.

"Negro Motorist Green Book" hat Green den Reiseratgeber 1936 getauft und ihn mit seinem Nachnamen klug zur Marke gemacht. Die Cover fast aller Ausgaben waren in Grüntönen gehalten, ebenso viele Adressen der beworbenen Hotels. Zudem passte Grün perfekt zur Grundidee: den Lesern Oasen der Ruhe und des Friedens zu zeigen - in einem ruhelosen, gespaltenen Land, in dem Schwarze sich vielerorts nach Sonnenuntergang nirgends mehr blicken lassen durften.

Diese ständige Bedrohung gab Greens höflichem Slogan lange eine sehr bittere Note: "Carry your Green Book with you. You may need it." Nimm dieses Buch bloß mit, du wirst es wohl brauchen.

Der grüne Bestseller

Was nach einem lang durchdachten Konzept klingt, entwickelte sich in Wahrheit eher spontan. Green heiratete eine Frau, die aus dem etwa 350 Meilen von Harlem entfernten Richmond in Virginia stammte. Virginia hatte im Bürgerkrieg auf Seiten der Südstaaten gekämpft, auch gegen die Sklavenbefreiung; hier war die Rassentrennung besonders virulent. Wie sollte Green die Familie seiner Frau besuchen, ohne unterwegs in Schwierigkeiten zu geraten?

Er suchte Vorbilder. Und fand sie, wie er schrieb, bei einer weiteren Minderheit: Jüdische Zeitungen hätten seit jeher Reiseinformationen für schwierige Orte veröffentlicht. Zudem gab es schon 1930 einen "Reiseführer für Farbige", der nach einem Jahr eingestellt wurde. Green wollte es besser machen.

Nur 15 Seiten zählte seine erste Ausgabe, die sich auf New York beschränkte. Die Nachfrage war so gewaltig, dass Green schon in der zweiten Auflage Tipps für die gesamten USA sammelte. Schnell spürte er, dass er einen Nerv getroffen hatte. Der Reiseführer schwoll auf 80 Seiten an und bis in die Sechziger auf mehr als hundert; der Preis stieg von anfangs 25 Cent auf 1,95 Dollar. Es gab ab 1947 einen Hotelreservierungsservice, Tipps für Sehenswürdigkeiten, Infos zu Strandgebühren und Golfplätzen.

Ein Café für Farbige - beworben mit einem Davidstern

Ein Café für Farbige - beworben mit einem Davidstern

Foto: Margaret Bourke-White/ The LIFE Picture Collection/ Getty Images

Später kamen sogar "internationale Ausgaben" mit Ratschlägen für Kanada, Europa, Afrika, Lateinamerika und die Karibik hinzu. 1962 - Green war schon tot, seine Tochter führte das Geschäft - verkaufte sich das "Green Book" laut einer US-Historikerin zwei Millionen Mal.

Stars wie Baseball-Legende Buck O'Neill besaßen ein "Green Book", das er später einem Baseball-Museum vermachte. Und manchmal wurde der Reiseführer hochpolitisch, etwa als James Langston Hughes, eine Ikone der Bürgerrechtsbewegung, 1947 eine wütende Anzeige schaltete:

"Wir leben in einem Land, in dem wir kaum willkommen sind, unser Geld nichts zählt und unsere Würde täglich mit Füßen getreten wird. Da sagt es eine Menge über uns aus, dass wir nicht aufgeben, für unser Recht auf volle Staatsbürgerschaft zu kämpfen."

Den Erfinder aber machte der Reiseführer weder berühmt noch reich. Wenig ist bekannt über Green, nur ein Foto existiert von ihm. Sein Jahreseinkommen explodierte jedenfalls nicht: 1940 betrug es 2100 US-Dollar. Das entsprach etwa dem, was man damals als Briefzusteller verdiente, der bis zur Rente blieb. Das Buch war für Green also eine Herzensangelegenheit.

Mühsam besorgte er sich die Informationen, teils auf eigenen Reisen, meist mithilfe von Postangestellten im ganzen Land. Und noch einen mächtigen Verbündeten gewann Green: Die Esso Standard Oil Company, Vorläufer von Exxon, war damals ein liberales Unternehmen, bewirtete als einzige Tankstellenkette in den USA Schwarze und verkaufte den Reiseführer an den Stationen. "Das Green Book kann mit Sicherheit Ihre Reiseprobleme lösen", warb ein Esso-PR-Mann 1949 in einem Gastbeitrag. Das Buch erspare den Schwarzen "Schwierigkeiten und Peinlichkeiten".

"Ignoranz ist die Wurzel des Vorurteils"

Im Reiseführer fanden sich auch viele von Weißen geführte Hotels und Geschäfte. Manche wollten ein Zeichen setzen, dass sie mit der Rassentrennung nicht einverstanden waren. Andere hofften einfach auf gute Geschäfte dank wachsender Mobilität der Schwarzen.

Misstrauen aber blieb. Welcher Unternehmer war wirklich kein Rassist? Green schrieb, er würde gern Hunderte Adressen mehr veröffentlichen, könne aber unmöglich alles überprüfen. Einer seiner Kontaktmänner berichtete 1948 vielsagend aus North Dakota: "Ignoranz ist die Wurzel des Vorurteils. Es gibt so wenige Schwarze in North Dakota, dass ein Farbiger immer noch eine Kuriosität darstellt." In Gesprächen habe sich zwar gezeigt, dass die meisten von ihm kontaktierten Unternehmer und Hoteliers vorurteilsfrei seien. Nur: Das gelte nicht unbedingt für ihre Stammkunden.

Als Victor Hugo Green 1960 starb, war sein Reiseführer noch nicht obsolet. Erst 1964 verabschiedete das US-Parlament den Civil Rights Act. Das Bürgerrechtsgesetz erklärte die Rassentrennung in Hotels, Kinos, Bars, in Bussen und anderswo für illegal.

Stolz druckte das "Green Book" in seiner Ausgabe von 1966/67 ein Porträt von Martin Luther King. Und listete genüsslich auf, welche Bundesstaaten schon Strafen bei Verstößen gegen das neue Gesetz verhängen - und wo sich Diskriminierte beschweren können.

Zwei Jahre später, das "Green Book" war gerade eingestellt worden, wurde Martin Luther King von einem Rassisten erschossen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren