Reiseführer gegen Rassentrennung
Freie Fahrt für schwarze Bürger
Beleidigt, bespuckt, verprügelt - Reisen war für Schwarze in den USA lange riskant. Ein Postbote erfand 1936 das "Green Book". Dieser Reiseführer inspirierte auch den oscarnominierten Kinofilm.
Victor Hugo hat einen Traum. Er schreibt ihn nieder und klingt dabei fast so wortgewaltig wie der französische Schriftsteller, dessen stolzen Namen er trägt. Und fast so visionär wie später der Bürgerrechtler Martin Luther King.
Es wird ein Tag kommen in der nahen Zukunft, wenn dieser Führer nicht mehr veröffentlicht werden muss. Es ist der Moment, wenn wir als Rasse dieselben Chancen und Privilegien in den Vereinigten Staaten haben. Es wird ein großer Tag sein für uns, diese Publikation einzustellen, denn dann können wir reisen, wohin wir auch mögen.
Victor Hugo Green aus dem New Yorker Schwarzenviertel Harlem lässt seit 1936 neben seiner Arbeit als Briefträger das "Green Book" drucken. Allein die Existenz dieses Reiseführers bedeutet eine Schande für das Land: Das Buch listet akribisch Hotels, Tankstellen, Autowerkstätten, Bars, Friseure und Apotheken auf, in denen Schwarze in Zeiten der Rassentrennung noch bedient werden - und nicht beleidigt, bespuckt und verprügelt.
Foto: New York Public Library
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"Green Book": Die grüne Reisebibel für Schwarze
Doch so schnell kommt der Wandel nicht. Also druckt Green 1949 den Wunsch im Vorwort des Reiseführers trotzig ein zweites Mal. Und 1950, 1951, 1952 erneut. Schließlich lässt er es und bilanziert nur noch: Für Weiße sei es immer einfach gewesen zu reisen. Für Schwarze nicht - bis sein Buch das gründlich geändert habe.
Oasen der Ruhe in einem gespaltenen Land
Derzeit erinnert der Kinofilm und Oscaranwärter "Green Book" an diesen in Europa lange völlig unbekannten Ratgeber, die einst für viele Schwarze überlebenswichtige "Reisebibel". In dem Rassismus-Rührstück nach einer wahren Geschichte geht es um einenschwarzen feingeistigen Konzertpianisten, den 1962 ein grobschlächtiger weißer Chauffeur für eine Tournee durch den Süden der USA kutschiert.
Das Roadmovie schildert die Freundschaft zweier gegensätzlicher Charaktere in einem Klima des Hasses. Und doch verrät es fast nichts über jenen längst vergessenen Pionier, dem der Film seinen Namen verdankt: ein gut gebauter Mann, "immer makellos herausgeputzt" und "mit enormem Elan", wie ein Zeitgenosse Green einmal beschrieb.
"Negro Motorist Green Book" hat Green den Reiseratgeber 1936 getauft und ihn mit seinem Nachnamen klug zur Marke gemacht. Die Cover fast aller Ausgaben waren in Grüntönen gehalten, ebenso viele Adressen der beworbenen Hotels. Zudem passte Grün perfekt zur Grundidee: den Lesern Oasen der Ruhe und des Friedens zu zeigen - in einem ruhelosen, gespaltenen Land, in dem Schwarze sich vielerorts nach Sonnenuntergang nirgends mehr blicken lassen durften.
Diese ständige Bedrohung gab Greens höflichem Slogan lange eine sehr bittere Note: "Carry your Green Book with you. You may need it." Nimm dieses Buch bloß mit, du wirst es wohl brauchen.
Der grüne Bestseller
Was nach einem lang durchdachten Konzept klingt, entwickelte sich in Wahrheit eher spontan. Green heiratete eine Frau, die aus dem etwa 350 Meilen von Harlem entfernten Richmond in Virginia stammte. Virginia hatte im Bürgerkrieg auf Seiten der Südstaaten gekämpft, auch gegen die Sklavenbefreiung; hier war die Rassentrennung besonders virulent. Wie sollte Green die Familie seiner Frau besuchen, ohne unterwegs in Schwierigkeiten zu geraten?
Er suchte Vorbilder. Und fand sie, wie er schrieb, bei einer weiteren Minderheit: Jüdische Zeitungen hätten seit jeher Reiseinformationen für schwierige Orte veröffentlicht. Zudem gab es schon 1930 einen "Reiseführer für Farbige", der nach einem Jahr eingestellt wurde. Green wollte es besser machen.
Nur 15 Seiten zählte seine erste Ausgabe, die sich auf New York beschränkte. Die Nachfrage war so gewaltig, dass Green schon in der zweiten Auflage Tipps für die gesamten USA sammelte. Schnell spürte er, dass er einen Nerv getroffen hatte. Der Reiseführer schwoll auf 80 Seiten an und bis in die Sechziger auf mehr als hundert; der Preis stieg von anfangs 25 Cent auf 1,95 Dollar. Es gab ab 1947 einen Hotelreservierungsservice, Tipps für Sehenswürdigkeiten, Infos zu Strandgebühren und Golfplätzen.
Ein Café für Farbige - beworben mit einem Davidstern
Foto: Margaret Bourke-White/ The LIFE Picture Collection/ Getty Images
Später kamen sogar "internationale Ausgaben" mit Ratschlägen für Kanada, Europa, Afrika, Lateinamerika und die Karibik hinzu. 1962 - Green war schon tot, seine Tochter führte das Geschäft - verkaufte sich das "Green Book" laut einer US-Historikerin zwei Millionen Mal.
Stars wie Baseball-Legende Buck O'Neill besaßen ein "Green Book", das er später einem Baseball-Museum vermachte. Und manchmal wurde der Reiseführer hochpolitisch, etwa als James Langston Hughes, eine Ikone der Bürgerrechtsbewegung, 1947 eine wütende Anzeige schaltete:
"Wir leben in einem Land, in dem wir kaum willkommen sind, unser Geld nichts zählt und unsere Würde täglich mit Füßen getreten wird. Da sagt es eine Menge über uns aus, dass wir nicht aufgeben, für unser Recht auf volle Staatsbürgerschaft zu kämpfen."
Den Erfinder aber machte der Reiseführer weder berühmt noch reich. Wenig ist bekannt über Green, nur ein Foto existiert von ihm. Sein Jahreseinkommen explodierte jedenfalls nicht: 1940 betrug es 2100 US-Dollar. Das entsprach etwa dem, was man damals als Briefzusteller verdiente, der bis zur Rente blieb. Das Buch war für Green also eine Herzensangelegenheit.
Mühsam besorgte er sich die Informationen, teils auf eigenen Reisen, meist mithilfe von Postangestellten im ganzen Land. Und noch einen mächtigen Verbündeten gewann Green: Die Esso Standard Oil Company, Vorläufer von Exxon, war damals ein liberales Unternehmen, bewirtete als einzige Tankstellenkette in den USA Schwarze und verkaufte den Reiseführer an den Stationen. "Das Green Book kann mit Sicherheit Ihre Reiseprobleme lösen", warb ein Esso-PR-Mann 1949 in einem Gastbeitrag. Das Buch erspare den Schwarzen "Schwierigkeiten und Peinlichkeiten".
"Ignoranz ist die Wurzel des Vorurteils"
Im Reiseführer fanden sich auch viele von Weißen geführte Hotels und Geschäfte. Manche wollten ein Zeichen setzen, dass sie mit der Rassentrennung nicht einverstanden waren. Andere hofften einfach auf gute Geschäfte dank wachsender Mobilität der Schwarzen.
Misstrauen aber blieb. Welcher Unternehmer war wirklich kein Rassist? Green schrieb, er würde gern Hunderte Adressen mehr veröffentlichen, könne aber unmöglich alles überprüfen. Einer seiner Kontaktmänner berichtete 1948 vielsagend aus North Dakota: "Ignoranz ist die Wurzel des Vorurteils. Es gibt so wenige Schwarze in North Dakota, dass ein Farbiger immer noch eine Kuriosität darstellt." In Gesprächen habe sich zwar gezeigt, dass die meisten von ihm kontaktierten Unternehmer und Hoteliers vorurteilsfrei seien. Nur: Das gelte nicht unbedingt für ihre Stammkunden.
Als Victor Hugo Green 1960 starb, war sein Reiseführer noch nicht obsolet. Erst 1964 verabschiedete das US-Parlament den Civil Rights Act. Das Bürgerrechtsgesetz erklärte die Rassentrennung in Hotels, Kinos, Bars, in Bussen und anderswo für illegal.
Stolz druckte das "Green Book" in seiner Ausgabe von 1966/67 ein Porträt von Martin Luther King. Und listete genüsslich auf, welche Bundesstaaten schon Strafen bei Verstößen gegen das neue Gesetz verhängen - und wo sich Diskriminierte beschweren können.
18 Bilder"Green Book": Die grüne Reisebibel für Schwarze
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Der grüne Retter: Trag stets dein "Green Book" bei dir, du könntest es brauchen! Höflich, aber mit bitterem Unterton bewarb Postzusteller Victor Hugo Green aus Harlem seinen Reiseführer für Schwarze. Dieses bald zur "Reisebibel" erhobene Buch sollte Schwarzen Erniedrigungen und Gewalt ersparen - und sie in Hotels, Bars und Restaurants führen, in denen sie willkommen waren. Das "Green Book" verkaufte sich millionenfach - sein Erfinder aber geriet in Vergessenheit.
Foto: New York Public Library
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Der unbekannte Pionier: Wenig ist bekannt über Victor Hugo Green, von dem nur dieses undatierte Foto existiert. Geschickt benannte er 1936 seinen Reiseführer nach seinem Nachnamen, gestaltete die Cover grün und machte das Buch zur unverwechselbaren Marke. Reich wurde Green trotz der großen Nachfrage an seiner Buchreihe nicht: Er trug bis kurz vor seinem Tod 1960 Post aus und sammelte nebenbei mühsam die Infos für seinen Reiseführer.
Foto: New York Public Library
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Das Versprechen: Der einprägsame Slogan "Vacation without aggravation"(Ferien ohne Ärger) prangte erst nach Greens Tod 1960 auf den Covern der Ratgeber. Diese Aufnahme eines Hotels, das mit dem "besten Service" nur für Schwarze wirbt, stammt aus Memphis, 1939. Greens Reiseführer führte aber auch viele Hotels, die von weißen Gegnern der Rassentrennung geführt wurden.
Foto: UIG/ Getty Images
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Filmreif: Das Hollywood-Rührstück "Green Book" erinnert an die Demütigungen, die Schwarze auf Reisen erlebten. im Drama, heißer Oscaranwärter, geht es um einen schwarzen feingeistigen Konzertpianisten (Mahershala Ali), der 1962 von einem grobschlächtigen weißen Chauffeur (Viggo Mortensen) für eine Tournee durch den Süden der USA kutschiert wird. Zwischen den Männern entwickelt sich langsam eine Freundschaft in einem Klima des Hasses.
Foto: ddp/ Universal
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Judenstern für Schwarze: Eine Coca-Cola-Werbung in einem hölzernen Davidstern mit dem Hinweis "Für Farbige". Antisemitismus und Rassendiskriminierung werden auf dieser undatierten Aufnahme vielsagend verdichtet und miteinander vermengt.
Foto: Margaret Bourke-White/ The LIFE Picture Collection/ Getty Images
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Die Post hilft: Green arbeitete zeitlebens bei der Post. Seine wichtigsten Informationen über gute Adressen für Schwarze holte er sich von Postkollegen im ganzen Land. Diese Aufnahme zeigt Marions Place tief im Süden der USA, etwa Dreißigerjahre.
Foto: Michael Ochs Archives/ Getty Images
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Heimat: Victor Hugo Green lebte mit seiner Frau Alma in Harlem, New York - hier eine Aufnahme aus einer Bar in Harlem in den Dreißigerjahren. Seinen ersten Reiseführer aus dem Jahr 1936 beschränkte Green auf New York. Die Nachfrage war aber so gewaltig, dass er ein Jahr später eine landesweite Ausgabe veröffentlichte.
Foto: Imagno/ Getty Images
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Unerwünscht: Bis in die Sechzigerjahre war es für Schwarze schwierig, während Reisen die richtigen Adressen anzufahren, ohne in demütigende oder gefährliche Situationen zu geraten. Dieses Restaurant (Aufnahme von 1960) zeigt weißen Kunden per Schild den Weg zur Toilette.
Foto: FPG/ Getty Images
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Mächtiger Partner: Esso, das heutige Exxon, bediente als einzige US-Tankstellenkette in Zeiten der Rassentrennung schwarze Kunden (Aufnahme von 1949). Intensiv bewarb Esso an seinen Stationen auch das "Green Book". Ohne die Zusammenarbeit wäre es schwierig geworden, den Reiseführer landesweit zu vertreiben.
Foto: Teenie Harris Archive/Carnegie Museum of Art/ Getty Images
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Rast: Ein Wasserspender für Schwarze in Oklahoma City, Aufnahme 1939. Das "Green Book" gab Tipps für schwarze Reisende und listete nicht nur Hotels auf, sondern auch Apotheken, Werkstätten, Friseure...
Foto: Bettmann Archive/ Getty Images
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...sowie Restaurants, Bars oder Spielstätten. Dieses Foto von 1939 zeigt eine Billardhalle für Schwarze in Memphis.
Foto: UIG/ Getty Images
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Angst vor Fehlern: Die Wut über die Rassentrennung verbarg Hugo Victor Green meist hinter freundlichen Worten. Vielmehr beunruhigte ihn, dass seine Informationen trotz akkurater Recherche nicht immer aktuell sein könnten. Er warnte seine Leser daher vor möglichen "Enttäuschungen", denn er wusste: Jeder Fehler in seinem Buch konnte Demütigungen und Erniedrigungen nach sich ziehen.
Foto: George Tames/ New York Times/ Getty Images
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Unentbehrlich: "Schwarze Reisende brauchten dieses Buch dringend", sagte der bekannte Bürgerrechtler Julian Bond 2010 in einem Radiointerview mit dem US-Sender NPR über das "Green Book", das er in seiner Jugend selbst viel nutzte: "Jim Crow" - so das Synonym für die US-Rassentrennungsgesetze - "war damals einfach überall".
Foto: New York Public Library
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Oasen: In Grün gehalten waren auch Schrift und Kästen in einigen Ausgaben (hier 1937) des "Green Book". Die erwähnten Adressen sollten für schwarze Reisende Oasen der Ruhe sein - in einem ruhelosen, von Rassenhass zerrissenen Land.
Foto: New York Public Library
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Mobilität ohne Freiheit: Spezieller Wartebereich für Schwarze an einer Bushaltestelle in Durham, North Carolina, 1940. Seit den Zwanzigerjahren hatte in den USA die Mobilität durch eigene Autos zugenommen. Die neue Freiheit konnten aber zunächst vorwiegend Weiße genießen - das Reisen war für Schwarze dagegen ein Spießrutenlauf, weil viele Tankstellen, Restaurants und Hotels nur weiße Kunden nahmen.
Foto: PhotoQuest/ Getty Images
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Getrenntes Kulturleben: Ein Theater für Schwarze in der Kleinstadt Leland, Mississippi, Aufnahme von 1939
Foto: Popperfoto/ Getty Images
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Getrennte Eingänge: Erst der "Civil Rights Act" von 1964 verbot die Rassentrennung, die fortan mit Strafen belegt werden konnte (Foto aus Durhum, North Carolina, 1940).
Foto: Interim Archives/ Getty Images
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Das blaue Grünbuch: Nur das Cover der letzten Ausgabe des "Green Book" von 1966/67 war nicht in Grün gehalten. Die Einstellung des Ratgebers wurde nicht angekündigt. Sie war aber eine logische Folge des Bürgerrechtsgesetzes von 1964, das die Rassentrennung für illegitim erklärt hatte. Seitdem listete das "Green Book" auf, in welchen Bundesstaaten bereits Strafen bei Verstößen gegen das Gesetz verhängt wurden.