
Spektakulärer Greenpeace-Protest: Himmelfahrtskommando für die Abrüstung
Spektakulärer Greenpeace-Protest Himmelfahrtskommando für die Abrüstung
Der frühe Morgen des 28. August 1983 beginnt hektischer, als die jungen Leute sich das vorgestellt haben. In aller Herrgottsfrühe treffen sich die fünf in der Nähe der St.-Annen-Kirche in Berlin-Dahlem. Kevin Downing soll sie zu ihrem Möbelwagen führen, in dem eine kostbare Fracht versteckt ist. Aus Angst davor aufzufliegen, hatte er das Gefährt in den Tagen zuvor immer wieder an anderer Stelle geparkt.
Doch jetzt, am Tag X, führt er die Gruppe bereits zum dritten Mal an derselben Stelle vorbei. Dabei müsste ein Lkw in der vornehmen Villengegend eigentlich leicht zu entdecken sein. Eine Straße weiter finden sie ihn endlich, die Aktion kann beginnen. "Wir dachten, die Polizei hätte uns ständig unter Beobachtung, und käme uns sofort auf die Spur", erinnert sich Gerd Leipold lächelnd. "In Wirklichkeit haben die geschlafen - genau wie die ganze Stadt."
Die Stadt, das ist Berlin. Am 28. August 1983 noch aufgeteilt in vier Besatzungszonen, der russische Sektor abgeschottet hinter Mauer und Stacheldraht. Für die Aktivisten der Umweltorganisation Greenpeace ist die Frontstadt genau der richtige Ort, um gegen Wettrüsten und Atomtests zu protestieren.
Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Freiwilligen plant Leipold, zu dieser Zeit Geschäftsführer der Deutschland-Sektion, deshalb eine spektakuläre Aktion, die möglichst in aller Welt Beachtung finden soll. Mit von der Partie ist sein Freund John Sprange, ein ehemaliger Kapitän der britischen Royal Navy, der seit einigen Jahren das Kommando auf dem Greenpeace-Schiff "Rainbow Warrior" innehat.
Die Ballonfahrer sind entsetzt
Der Plan hört sich jedoch nur auf den ersten Blick einfach an: Mit einem Heißluftballon wollen Leipold und Sprange im Westteil der Stadt starten und in den Ostteil schweben. Am Korb ist ein riesiges Transparent befestigt: "Stoppt die Atomwaffentests". Die Idee liegt nahe, schließlich ist der Luftraum über Berlin der einzige Ort, wo man gegen die vier Atommächte gleichzeitig protestieren kann.
Doch als sie Ballonfahrer zu Rate ziehen, schlagen diese die Hände über dem Kopf zusammen. Denn Berlin ist für die zivile Luftfahrt unter dem Besatzungsregime eine No-go-Area. Und die Sicherheitskräfte reagieren regelmäßig ausgesprochen empfindlich auf eine Verletzung dieses Tabus.

Spektakulärer Greenpeace-Protest: Himmelfahrtskommando für die Abrüstung
Hinzukommt, dass ein Flug über dichtbesiedeltes Gebiet zu den Disziplinen gehört, die erfahrene Ballonpiloten grundsätzlich lieber meiden - es gibt einfach zu wenige Möglichkeiten, um im Notfall zu landen. Außerdem entscheiden nicht die Abenteurer über die Route, die ihr Gefährt nimmt, sondern der Wind.
Banges Warten auf den richtigen Wind
Doch die Umweltschützer lassen sich nicht entmutigen. Sie überreden Karl Mecky Busemeyer, sie in die Kunst des Ballonfahrens einzuweisen. Dazu gehören die umfangreichen Vorbereitungen für den Start, die Fahrt selbst und natürlich auch die Landung - bis jeder Handgriff sitzt. Die Übungsstunden finden am frühen Morgen und am späten Abend statt. Als Trainingsplatz dient eine Wiese in Aachen, kaum 50 Meter vom Polizeipräsidium entfernt. Wenn es regnet, stecken sie die Köpfe in schwerverdauliche Literatur über Ballonkunde, Meteorologie und Luftfahrtrecht.
Zwei Monate gehen ins Land, bis die Aktivisten sich fit fühlen für den Coup. In einem Umzugswagen versteckt schaffen sie die Ausrüstung nach Berlin. Ein zermürbendes Warten beginnt, denn der Wind weht immer in die falsche Richtung. "Wir wollten anfangs unbedingt auf dem Alexanderplatz landen oder ihn wenigstens überfliegen", erinnert sich Leipold.
Wieder vertiefen sich die Beiden in Wetterkarten und analysieren die Vorhersagen. Kevin und die anderen üben derweil ihren Part und parken zwischendurch immer wieder den Möbelwagen um. Das Zeitfenster, das für den Start zur Verfügung steht, ist klein: Nach Sonnenaufgang beginnt der Countdown - bis halb sieben, denn dann rollen in Tegel und Schönefeld die ersten Jets an den Start.
Heute oder nie
Am 28. August schließlich ist es soweit, Wetter und Windrichtung stimmen. Um 4 Uhr morgens fällt die Entscheidung: heute oder nie. Die Verwirrung um den Parkplatz des Lastwagens sorgt für den ersten Adrenalinschub. Trotzdem erreichen die fünf Greenpeace-Leute den Startplatz fast pünktlich. Es ist der Fußballplatz hinter dem Eisstadion im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Routiniert machen sie sich an die Arbeit. Zwei Mann rollen die Hülle aus, ein Dritter wirft einen großen Ventilator an, um Luft hineinzublasen. Jetzt kommt der gefährlichste Moment. Der Brenner zum Erhitzen der Luft muss nah an die Öffnung der Hülle gerückt werden, um seine Wirkung zu entfalten - doch nicht so nah, dass die Ballonseide Feuer fängt. Ängstlich beobachten die Umweltschützer die Umgebung. Der Brenner und der Ventilator machen einen Heidenlärm.
Nach weniger als zehn Minuten richtet sich der blau schimmernde Ballon allmählich auf. "Eine sehr gute Zeit", erläutert Ballonlehrer Busemann. "Normalerweise braucht man 20 Minuten oder länger." Inzwischen beobachten auch einige Schaulustige die Szene: Journalisten von SPIEGEL, "taz" und "Stern", die Greenpeace im Vorfeld informiert hat, sind gekommen. Schließlich lebt die Aktion vom öffentlichen Echo.
Jetzt macht sich die Crew startbereit. Sprange und Leipold entern den Korb, befestigen Höhenmesser, Variometer und Funkgerät. Zwei, drei Flammenstöße noch, und das Gefährt beginnt langsam gen Himmel zu steigen. Plötzlich ist alle Hektik vergessen, lautlos schwebt "Trinity" über die schlafende Stadt. Von den Ordnungshütern ist ebenso wenig zu sehen wie von der Luftüberwachung.
Die Aktivisten sind ein wenig erstaunt über die Gelassenheit der Behörden. Kurz vor dem Start hatten Greenpeace-Leute aus der Zentrale einen großen Rundruf gestartet, um Ost und West über die Protestaktion zu informieren. Doch außer ein paar verdutzten Frühaufstehern, die an diesem Sonntagmorgen ihren Hund Gassi führen, regt sich nichts - selbst als der Ballon eine halbe Stunde später die Grenze erreicht. "Ein wenig haben wir uns schon gewundert, dass nicht einmal die Mauersoldaten nach oben geschaut haben", erzählt Leipold.
Nervöse DDR-Soldaten mit dem Finger am Abzug
Weiter geht es in Richtung Südost, schade nur, dass der Alexanderplatz nicht auf der Route liegt. Den beiden Ballonfahrern bleibt kaum Zeit, den Ausblick zu genießen, denn am Horizont kommt bereits der Flughafen Schönefeld in Sicht. Sie beschließen, ein abgeerntetes Feld als Landeplatz zu nutzen. Sachte setzt der Ballon auf der Erde auf, Sprange wärmt die Luft mit dem Brenner nur noch so stark, dass die Hülle aufgerichtet bleibt.
Es dauert nicht lange, bis die ersten DDR-Soldaten anrücken. Sie fuchteln mit entsicherten Gewehren und schrecken jedes Mal zurück, wenn Sprange den Brenner aktiviert. Schnell wird klar: Die jungen Burschen sind deutlich nervöser als die beiden Umweltschützer. Immerhin erlauben sie den Beiden, vorläufig im Korb des Ballons zu bleiben, damit der nicht davonfliegt.
Schließlich werden die Beiden nach Königswusterhausen gebracht, wo sie sich auf ein langes, unangenehmes Verhör einstellen. Doch wider Erwarten sind die Beamten ziemlich freundlich und stellen sogar Essen und Getränke bereit. Kaum drei Stunden später stehen Sprange und Leipold wieder an der S-Bahn-Station Friedrichstraße. Auf Weisung von "ganz oben", wie sich Leipold erinnert.
Entführung eines Kriegsgeräts
Das Nachspiel im Westen fällt ein wenig ungemütlicher aus. Die Staatsanwaltschaft Berlin erhebt Anklage gegen die Umweltaktivisten. Sie werfen ihnen vor, ein "Kriegsgerät" nach Berlin eingeführt zu haben. Der Strafrahmen reicht dabei von Gefängnis bis hin zur Todesstrafe. Leipold und Sprange bleiben zuversichtlich und freuen sich über die zusätzliche Publicity.
Dass die beiden ohne Fluglizenz geflogen sind, danach fragt interessanterweise niemand. Die Erklärung dafür ist jedoch ganz einfach: Weil das Fliegen in Berlin für Privatpiloten damals ohnehin verboten war, hatten es die Stadtväter nicht für nötig gehalten, das gesetzliche Regelwerk auch für die Stadt für gültig zu erklären.
Auf ihren Ballon mussten die Umweltschützer nach dem Ausflug über die Mauer noch lange warten. Erst drei Jahre später durften die Aktivisten das gute Stück am Grenzübergang Zarrentin in Empfang nehmen. Immerhin hatte die DDR-Armee gut darauf aufgepasst. "Kein Staub, keine Knickstellen - die 'Trinity' war im Bestzustand, als wir sie auspackten", erzählt Sprange. Auf der anderen Seite fand er den Preis für die Lagerung recht hoch. 8034 Mark und ein paar Pfennige mussten die Greenpeace-Aktivisten bezahlen - in Westgeld, versteht sich.