Britische Rationierung: Bye-bye, saure Gurken, hello Süßes!
Rationierte Süßigkeiten Als die Briten wieder naschen durften
Am schnellsten waren die Liebesäpfel leer: leuchtend rotes, zuckersüßes Glück am Stiel. Nummer zwei auf der Beliebtheitsskala belegten die Nougatstangen. Doch auch Lakritz-Streifen gingen rasant weg an diesem historischen Donnerstag. Es war der 5. Februar 1953. Knapp acht Jahre nach Kriegsende strich die Regierung in London die Süßwaren von der Rationierungsliste. Endlich!
Prompt waren die Briten, "seit dem 19. Jahrhundert ein Volk von Schokoholics" (so die Zeitung "The Guardian"), völlig aus dem Häuschen. "Kinder im ganzen Land leerten ihre Sparschweine und rannten zum nächsten Süßwarenladen", verkündete die BBC damals.
Am besten kam an, "was wenig kostete, nach viel aussah und lange vorhielt", beschrieb der "Guardian" am 6. Februar 1953 die Vorlieben der kleinen Käufer. Zu einer Art Schlaraffenland wurde kurzzeitig das Viertel Clapham im Südwesten Londons: Eine dort ansässige Firma entschied sich dazu, Schulkinder mit 68 Kilogramm Gratis-Lollis zu beglücken. Natürlich nicht jedes, sondern alle zusammen, die rechtzeitig kamen.
Britische Rationierung: Bye-bye, saure Gurken, hello Süßes!
Nicht nur die Kinder stürzten sich auf Toffees und Gummibärchen, Kit Kat und Plombenzieher wie Gobstoppers (Maulstopfer). "Auch Erwachsene erlagen dem Zuckerkoller", so die BBC. Schlangestehen ist ja praktisch der britische Nationalsport, also reihten sich Angestellte in ihrer Mittagspause geduldig in langen Schlangen ein, um Süßigkeiten für ihre Familien zu erstehen. Ein Konditor erzählte dem "Guardian", so viele Männer wie an diesem Tag habe sein Geschäft "zuletzt vor Ausbruch des Weltkriegs" gesehen.
Ende einer langen Saure-Gurken-Zeit
Das Glück war umso größer, als die Briten viele Jahre lang auf ihr geliebtes Zuckerzeug hatten verzichten müssen. Schon am 8. Januar 1940 begann in Großbritannien die Ära der rationierten Lebensmittel; Süßigkeiten und Schokolade standen ab Juli 1942 auf der Liste.
In Ermangelung von Leckereien versuchte die Regierung, die Bevölkerung auf Gemüse einzuschwören. Sogleich trat "Doctor Carrot" auf den Plan: eine bebrillte Mohrrübe mit Zylinder und "Vit A"-Koffer in der Hand, auf Plakaten gepriesen als "bester Freund der Kinder". Wer Karotten mampft, gewinnt den Krieg, so die Botschaft: Laut Regierungspropaganda war die Air Force auf ihren Nachtflügen auch deshalb so erfolgreich, weil die Piloten reichlich Karotten verzehrten - und also besser sahen.
Den Erwachsenen leuchtete die kriegsentscheidende Bedeutung gesunder Ernährung vielleicht noch ein. Die Kinder jedoch vermissten ihre Süßigkeiten arg. Missmutig nagten sie auf sogenannten "Karotten-Lollis" herum, wie in dieser britischen Wochenschau von Ostern 1941 zu sehen ist:
1945 ging Großbritannien zwar als Siegermacht aus dem Weltkrieg hervor. Das Darben jedoch nahm kein Ende - im Gegenteil. Um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, schlug die neu gewählte Labour-Regierung einen strikten Sparkurs ein. Ab 1946 wurde selbst Brot rationiert, was zu einem Aufschrei im Land führte.
Das Paradies währte nur vier Monate
Hausfrauen waren ebenso wütend wie wahlberechtigt. Um vor allem sie zu besänftigen, nahm Premier Clement Attlee das Brot 1948 wieder von der Rationierungsliste. Und gewährte den Briten im Jahr darauf sogar freien Zugang zu Süßigkeiten: Im April 1949 durften sich die Menschen erstmals wieder den Bauch mit Schokolade vollstopfen. Ein kollektiver Freudentaumel war die Folge:
Doch das zuckrige Paradies währte nur vier Monate. Die Industrie war nicht in der Lage, die überwältigende Nachfrage zu befriedigen - und schon landeten Süßigkeiten erneut auf der Liste. Was für eine bittere Enttäuschung.
In der Bundesrepublik wurden Lebensmittelmarken bereits im Jahr 1950 abgeschafft. Dagegen blieben zahlreiche Güter in England weiter rationiert, sogar das Nationalgetränk Tee (bis 1952).
Die Konservativen machten sich die miese Stimmung im Lande zunutze: Auch mit dem Versprechen nach freien Fressalien gewannen sie 1951 knapp die Wahlen und holten sich die Regierungsverantwortung von der Labour Party zurück. Genussmensch Winston Churchill als der Mann, der den Briten im Krieg einst die Süßigkeiten weggenommen hatte, gab sie ihnen elf Jahre später auch wieder zurück.
Vollends glücklich stimmte Churchill die Bevölkerung dann am 2. Juni 1953, dem Krönungstag von Königin Elisabeth. Um die Briten so richtig in Feierlaune zu versetzen, ließ der übergewichtige Staatsmann laut "Telegraph" jedem Bürger ein Extra-Pfund Zucker schenken - getreu seinem Motto: "Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen."
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Sturm auf die Bonbons: Bereits 1942 hatte die britische Regierung die Rationierung von Süßigkeiten in Kraft gesetzt. Als sie vor 65 Jahren endete, waren vor allem die Kinder des Königreichs außer Rand und Band. Viele von ihnen hatten noch nie in ihrem Leben Schokolade, Lakritz und Karamell genascht.
Heißhungriges Warten: Überall in Großbritannien plünderten Kinder am 5. Februar 1953 ihre Sparschweine und rannten zum nächsten Lebensmittelladen. Diese Jungs drücken sich an den Glastüren die Nase platt - wann öffnet endlich das Geschäft?
Und endlich drin: Besonders hoch im Kurs standen kandierte Äpfel, heiß begehrt waren aber auch Lakritz und Nougatstangen.
Nachschub: Direkt vom Lastwagen verteilt dieser Händler 1953 in London Zitronen-Lollis. Die Jungs drängeln sich nach vorn. In der vordersten Reihe war die Chance am größten, einen Lutscher zu erbeuten. Denn auch wenn Süßigkeiten nun nicht mehr rationiert waren, hieß das nicht, dass sie auch verfügbar waren.
Gebt uns Süßes! Um die Gier der Kinder zu stillen, hatte Gwilym Lloyd George, britischer Minister für Ernährung, 1953 eine einmalige Zuteilung von zusätzlichem Zucker an die Süßigkeiten-Hersteller angeordnet.
Wie im Schlaraffenland: Bereits im April 1949 hatte der damalige Ernährungsminister Frederick Marquis, Earl of Woolton, einmal Süßigkeiten von der Rationierungsliste gestrichen. Doch die Hersteller kamen mit der Produktion nicht hinterher. Dieser Junge hatte die große Auswahl, so viel Glück hatte nicht jeder. Ab August 1949 wurden Zuckerwaren wieder nur gegen Lebensmittelmarken ausgegeben.
Karotte am Stiel: Die Süßigkeiten-Not machte Mütter erfinderisch. Sie buken Kuchen aus Pastinaken oder servierten eine Art Pudding, der mit wenig Zucker und Wasser gekocht wurde. Diese drei Kinder bekamen eine gesunde Alternative mit auf den Weg.
Gestrichen:Lebensmittelhändler nahmen die Rüben am Stiel ins Sortiment auf. 1941 gab es in diesem Geschäft Karotten-Lollis als Ersatz für die rationierte Eiscreme. Die beiden Mädchen scheinen nicht recht zu wissen, was sie davon halten sollen.
Kartoffel-Pete und Dr. Karotte: Zur Zeit der Lebensmittelrationierung gab die britische Regierung der Bevölkerung Tipps für die Zubereitung und Lagerung. Zeitungen druckten wöchentlich die sogenannten Food Facts, die BBC sendete das Programm "The Kitchen Front". Um Kinder für Gemüse zu begeistern, schuf das Ministerium die Zeichentrickfiguren "Dr. Karotte" und "Kartoffel Pete". Als Lebensmittelminister Lloyd George (rechts) die Süßigkeiten-Rationierung am 5. Februar 1953 endültig aufhob, versüßte er den Kindern Großbritanniens den Tag. Sein Vater David Lloyd George (links) war Premierminister während des Ersten Weltkriegs.
Süßes für die Süßen: Diese beiden Mädchen essen zum ersten Mal in ihrem Leben Schokolade - gleich eine ganze Tafel. In den Jahren der Rationierung wurden monatlich jedem Briten rund 227 Gramm zugeteilt.
Naschkätzchen: Um die jungen Konsumenten an ihre Produkte zu binden, verteilten manche Hersteller an Schüler in den Pausen kostenlos Süßigkeiten. Oder öffneten gleich die Tore zu den Fabriken, wo Kinder sich Naschereien umsonst abholen konnten.
Betriebsame Bonbon-Bäcker: Die Nachfrage überstieg das Angebot. Mit nur knapp der Hälfte des Zuckervorrats, der ihnen vor dem Krieg zur Verfügung stand, mussten die Unternehmen den Markt bedienen. Nach vier Monaten Naschzeug für alle hieß es im August 1949 wieder "No Sweets for the Brits".
Steigende Zuckerpreise: Im September 1939 hatte die britische Regierung die allgemeine Rationierung in Kraft gesetzt. Als Erstes stand Benzin auf der Liste, ab dem 8. Januar 1940 auch Zucker, Speck und Butter. Die Preise explodierten, der Schwarzmarkt florierte.
Fett statt Toffees: Jeder Brite musste sich bei einem Einzelhändler registrieren lassen und konnte dort seine Wertmarken einlösen. Diese Hausfrau legt ein Stück Butter in ihren Einkaufskorb, der Verkäufer schneidet den Bezugsschein aus.
Süße Versuchung: Kinder vor der zuckerreichen Auslage eines Geschäfts (am 24. April 1949)
"Das ist alles deins!" Diese drei Kinder aus London haben sich aus dem Süßwaren-Sortiment für Lutscher entschieden - für jede Hand einen.
Open-Air-Markt: Platzten die Geschäfte ob des Besucherandrangs aus allen Nähten, wurde der Verkauf kurzerhand ins Freie verlegt.
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Ungesüßte Teatime:Am 26. Juli 1942 verbot der Ernährungsminister Süßigkeiten in Großbritannien fast vollständig und senkte alle vier Wochen die Zuckerration auf ein halbes Pfund pro Person. Fortan mussten die Briten ihren Tee oft ungesüßt trinken - außer die Geladenen brachten ihre eigenen Zucker mit, wie es diese Gastgeber erbaten.
Süßigkeiten-Spender: Dieser US-Soldat machte sich 1942 bei Londoner Kindern beliebt, als er an Thanksgiving Schokolade und Bonbons verteilte. Am 26. Juli '42 waren Süßigkeiten und Schokolade zur Rationierungsliste hinzugefügt worden, im August auch Kekse.
Einmal Extra-Eis: Dank einer Spende an das Westminster-Krankenhaus kommt diese junge Patientin in den Genuss von cremigem Speiseeis - eine seltene Delikatesse, da neben Zucker auch Milch auf der Rationierungsliste stand.
Bonbons satt: Einzig Hustendrops gab es zur Zeit der Rationierung in der Apotheke frei zu kaufen. Wie im Rausch freuten sich die Kinder nach elf Jahren Entbehrung über echte Süßigkeiten.
Randvoll mit Naschereien: Als die Rationalisierung 1953 aufgehoben wurde, stiegen die Ausgaben für Süßigkeiten binnen eines Jahres um rund 100 Millionen Pfund auf 250 Millionen Pfund (etwa 286 Millionen Euro). Heute geben die Briten jährlich mehr als sechs Milliarden Euro für Süßwaren aus.
Hamstern: Diese Mädchen bevorraten sich am 13. August 1949 mit Bonbons, einen Tag, bevor Süßigkeiten wieder rationiert wurden.
"Kinder bitte zuerst!"Auch die Erwachsenen Großbritanniens waren im Zuckerrausch und standen geduldig Schlange. Manche Geschäfte baten ältere Kunden, ihre Süßigkeiten-Marken den Angestellten zu geben, die sie dann an Kinder verteilten.
