
Häftlingsdeals mit der DDR: Menschen gegen Maisladungen
Häftlingsdeals mit der DDR Menschen gegen Maisladungen
Gerade kürzlich, da holten ihn die Emotionen wieder ein. Obwohl sich Ludwig A. Rehlinger ein Leben lang davor zu schützen versucht hatte. "Ich fuhr mit dem Rad hier draußen durch den Brandenburger Wald", sagt der Mann mit dem weißen Haar und zeigt aus dem Fenster seines eingeschossigen Rotklinkerhäuschens. Plötzlich rief ihm ein Ehepaar hinterher. Rehlinger stieg ab und stand vor einem älteren Herrn. "Der drückte mich so fest an die Brust, dass mir schier die Luft wegblieb", erinnert sich der 84-Jährige und lächelt. Dann habe er gesagt: "Herr Rehlinger, Sie haben mir das Leben gerettet!"
Der ältere Herr war Harry Seidel, ein ehemaliger DDR-Radrenn-Profi. Kurz nach dem Mauerbau 1961 war der ehemalige Vorzeigesportler in den Westen geflohen, im Jahr darauf erwischte ihn die Staatssicherheit beim Versuch, ehemalige Mitbürger durch einen Tunnel in die Freiheit zu schleusen. Seidel bekam lebenslänglich - und Rehlinger holte ihn 1966 aus dem DDR-Gefängnis raus. Gegen Schiffsladungen mit Mais.
"Freikauf" lautet der Terminus für eines der geheimsten und bis heute umstrittensten aller deutsch-deutschen Geschäfte. Ausgerechnet an den Klassenfeind im Westen verkaufte die DDR ab 1963 ihre politischen Häftlinge. Wie Schachfiguren wurden die Menschen von der einen auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs verschoben. Rehlinger, Justizsenator a.D. und einstiger Behördenchef, gehört zu den Begründern des historischen Deals.
"Ohne Zögern und Zaudern" gegen das Unrecht
Der Jurist mit dem wachen Blick, dessen Erinnerungen an die geheimen Deals jetzt als Buch beim Mitteldeutschen Verlag neu aufgelegt wurden, ist der letzte noch lebende Zeitzeuge, der den Freikauf von bundesdeutscher Seite aus mit eingefädelt hat. Wobei Rehlinger das Wort "Freikauf" nicht besonders gern mag. Lieber spricht er von den "besonderen humanitären Bemühungen der Bundesrepublik". Das ist neutraler, nicht so gefühlig. Und einen kühlen Kopf, den musste Rehlinger bewahren als diskreter westdeutscher Unterhändler in einer so heiklen Mission wie dem Tausch von Menschen gegen Güter.
Angetrieben von dem Wunsch, eine lukrative Geldquelle zu erschließen und gleichzeitig das eigene, ziemlich ramponierte Ansehen auf dem internationalen Polit-Parkett aufzupolieren, bot die DDR der BRD im Jahr 1962 erstmals an, politische Häftlinge zu verkaufen. Jürgen Stange, ein West-Berliner Rechtsanwalt, der als Inhaber eines bundesdeutschen Ausweises in beiden Teilen der Stadt ein- und ausging und einen engen Kontakt zu Ost-Berliner Anwälten pflegte, übermittelte diese brisante Nachricht an den Westen.
"Ich war sofort begeistert", sagt Rehlinger, und beugt sich in seinem blassblauen, von Bücherstapeln und Tageszeitungen umgebenen Sessel vor. Als persönlicher Referent des Ministers für gesamtdeutsche Fragen, Rainer Barzel, nahm Rehlinger die geheimen Verhandlungen mit der DDR-Seite auf. Motiviert hat ihn dabei das Bedürfnis, "ohne Zögern und Zaudern", wie er sagt, "gegen das Unrecht anzukämpfen". Denn das Unrecht, das hat Rehlinger am eigenen Leib erfahren.
Grauenvolles Schicksalsspiel
Als Teenager bekam er von den Nationalsozialisten einen Stahlhelm auf den Kopf gesetzt und wurde an die Kanone gestellt. Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, als er an der Berliner Humboldt-Universität Jura studierte, erlebte Rehlinger eine neue Variante staatlicher Willkür: Kommilitonen, die sich politisch nicht im Sinn der gerade gegründeten SED engagiert hatten, verschwanden spurlos, wurden festgenommen, weggesperrt.
"Wir hatten die moralische Pflicht, diesen Menschen zu helfen", sagt Rehlinger. Im Verlauf der geheimen Verhandlungen, die er mit der DDR-Seite führte, oblag ihm eine besonders schwierige Aufgabe: Rehlinger musste entscheiden, welche der eingesperrten Häftlinge freikommen sollten. "Ein qualvoller Prozess", sagt er. Wochenlang studierte Rehlinger die Akten der damals rund 12.000 in Ost-Gefängnissen einsitzenden DDR-Bürger, immer wieder strich er die Liste zusammen, spielte Schicksal - versuchte, gerecht zu sein, ohne allen gerecht werden zu können.
"Hinter jeder Akte steckte ein Mensch, grauenvoll war das", sagt Rehlinger und klammert sich an die Papiere, die auf seinem Schoß liegen. Nachdem die DDR den Westen beim ersten Deal zunächst mit 1000 Häftlingen geködert hatte, reduzierte sie ihr Angebot sukzessive: zunächst auf 500, dann auf 100, dann auf zehn. Bis schließlich nur noch acht übrigblieben.
320.000 D-Mark in braunem Packpapier
Blieb die unangenehme Frage der Gegenleistung für diese acht Menschen: Wie viel war die Bundesregierung bereit, für jeden politischen Häftling zu zahlen - wie bemisst sich der Wert eines Menschen? Auch diese Verhandlungen führte Rehlinger als BRD-Unterhändler mit der DDR- Seite, zumeist mit dem Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel. "Ich versuchte natürlich, so niedrig wie möglich reinzugehen", erinnert er sich. Am Ende eines zähen Ringens habe man sich auf 40.000 D-Mark pro Häftling geeinigt. Macht für acht Häftlinge 320.000 D-Mark - zu übergeben in bar.
Was 1963, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, nicht gerade einfach war: Bundesregierung und DDR unterhielten damals keinerlei offiziellen Beziehungen, ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein offizieller Gesandter Bonns einfach so mit Bargeld in der Tasche über die Grenze marschierte. Damit der Freikauf nicht aufflog, weder Zöllner noch Medien Wind von dem hochgeheimen Geschäft bekamen, fuhr Rehlinger mit Anwalt Jürgen Stange zum Lehrter Stadtbahnhof.
Dort setzte er Stange mitsamt dem Geld in die S-Bahn, die direkt über die Sektorengrenze nach Ost-Berlin fuhr. "So trickste ich die Grenzkontrollen aus und konnte gleichzeitig sichergehen, dass das Geld zuverlässig in der DDR landet", sagt Rehlinger.
"Dass einer noch an mich gedacht hat"
Im Herbst 1963 kamen die ersten acht Häftlinge frei. Zu den DDR-Bürgern, die von Rechtsanwalt Jürgen Stange einzeln in Ost-Berlin abgeholt und per S-Bahn in die westliche Freiheit geleitet wurden, gehört auch Kurt Schulz: ein Tischler, der nach dem Zweiten Weltkrieg vom sowjetischen Militärtribunal ohne ersichtlichen Grund zunächst zum Tode und dann zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Schulz hatte in der DDR bereits mehr als zehn Jahre im Gefängnis gesessen.
Als er im Anwaltsbüro in Berlin-Charlottenburg angekommen war, erlitt Schulz einen Schock. "Dass einer an mich gedacht hat", sagte er und glitt bewusstlos vom Stuhl. Unterhändler Rehlinger war nicht zugegen - absichtlich nicht. Weil er Angst hatte vor zu vielen Emotionen. "Als meine Mitarbeiter mich anriefen und mir von Schulz' Zusammenbruch erzählten, erlitt ich einen Heulkrampf, das muss ich zugeben", sagt Rehlinger sichtlich bewegt.
Doch schnell kontrolliert er sich wieder und erzählt, wie aus der zunächst einmaligen Freikaufsaktion von 1963 eine dauerhafte Institution wurde: Ein Jahr, nachdem Tischler Schulz und die anderen sieben Häftlinge freigekommen waren, erneuerte die DDR ihr Angebot, politische Häftlinge gegen Geld in den Westen zu entlassen. Die Verantwortlichen in der BRD willigten ein, und so legte Rehlinger ein weiteres Mal eine Häftlings-Wunschliste vor, handelte den Preis aus, organisierte das Procedere. Jahr für Jahr wiederholte sich das Ritual und entließ die DDR einen Teil ihrer politischen Häftlinge in den Westen - bis zur Wende sollten daraus 33.755 Menschen werden.
Wunderbus mit doppelten Nummernschildern
Mit Bussen, die im Osten bald den Beinamen Wunderbus erhielten, wurden die freigekauften Häftlinge an die Grenze gebracht und hier, auf unauffälligen Parkplätzen oder Waldlichtungen, an den Westen übergeben, bevor sie ins Aufnahmelager Gießen gelangten. Später holte die Bundesregierung die Menschen direkt in der Haftanstalt Karl-Marx-Stadt ab.
Um im Osten nicht aufzufallen, verfiel der hessische Busunternehmer Arthur Reichert auf die Idee der doppelten Nummernschilder, wie sich Rehlinger erinnert: Sobald der Bus die Grenze passiert hatte, drehte der Fahrer per Knopf am Armaturenbrett die Nummernschilder: Aus dem Westkennzeichen HU-X 3 wurde das DDR-Nummernschild IA-48-32 - auf dem Rückweg klappte wieder das BRD-Kennzeichen runter.
Mitgefahren in einem der Wunderbusse ist Rehlinger nicht ein einziges Mal: Der Behördenchef untersagte sich persönliche Begegnungen mit den Gefangenen, die er freikaufte. "Ich wollte mich da emotional so weit wie möglich raushalten", sagt Rehlinger.
Waren auf dem Weltmarkt versilbert
Unmoralisch fand der Jurist ihn nie, den Kommerz mit den DDR-Häftlingen. "Wer verstieß denn gegen die Moral - der, der Menschen gegen Geld freiließ, oder der, der bezahlte, um politisch Verfolgten zu helfen?", fragt Rehlinger. Zumal die BRD nach 1963 keine Koffer mit Bargeld mehr in den Osten schleuste, sondern die Gegenleistung in Waren erbrachte, um den notorischen Mangel in der DDR zu lindern: Wurden die Häftlinge 1964 vor allem mit Südfrüchten bezahlt, waren es danach Güter wie Getreide, Erdöl, Industriediamanten, Kupfer.
"Wir wollten damit den Brüdern und Schwestern drüben etwas Gutes tun", sagt Rehlinger, der in den sechziger und achtziger Jahren bis hin zur Wende nicht nur den Freikauf organisierte, sondern auch zahlreiche Agentenaustausche zwischen Ost und West mit einfädelte. Doch die begehrten Waren kamen nur selten bei den DDR-Bürgern an. Stattdessen versilberte das Politbüro die von der BRD gutgeschriebenen Produkte auf dem Weltmarkt und füllte damit ihre notorisch klammen Konten auf.
Mehr als 3,4 Milliarden D-Mark pumpte Bonn auf diesem Weg in die Staatskassen des SED-Regimes. Laut dem ehemaligen Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski sollen sogar rund acht Milliarden D-Mark in den Osten geflossen sein. Die Bundesregierung, räumt Rehlinger ein, sei bald dahinter gekommen, dass die DDR-Führung die Einnahmen aus dem Häftlingsfreikauf nicht dem eigenen Volk zugute kommen ließ.
Glauben ins System untergraben
Dennoch habe jeder Kanzler, gleich welcher politischen Couleur, an dem Häftlingsfreikauf festgehalten - "aus humanitären Gründen", wie Rehlinger betont. Dass die BRD damit ein Unrechtsregime über Jahrzehnte hinweg stabilisierte, lässt er nicht gelten, im Gegenteil. Man habe die DDR finanziell zwar unterstützt, gesellschaftspolitisch jedoch von innen heraus zersetzt.
Denn das Bewusstsein um die Käuflichkeit der eigenen Regierung, das zum Top-Thema in den DDR-Gefängnissen avancierte und bald auch in der Öffentlichkeit bekannt wurde, habe in hohem Maße den Glauben ins System untergraben. "Der Häftlingsfreikauf war der Sargnagel der DDR", sagt Rehlinger und blickt aus dem Fenster.
Der 84-Jährige wirkt jetzt ein wenig erschöpft. Höflich hilft er der Journalistin in den Mantel und geleitet sie mit dem Auto durch die regennassen Straßen des Kleinstädtchens am Südzipfel Berlins bis zur S-Bahn-Station. Auf der Fahrt dorthin erzählt Rehlinger, wie er damals durch die Chefredaktionen der Bundesrepublik getingelt sei, um die verantwortlichen Journalisten davon zu überzeugen, dass eine Berichterstattung über den Freikauf die Geheimaktionen gefährden würde. Meist habe es geklappt.
"Das war eine andere Zeit", sagt der alte Mann. Dann winkt er und fährt vorsichtig davon.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass Herbert Wehner Bundeskanzler war. Stattdessen ist Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen richtig. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen und bedanken uns bei unseren Lesern für den Hinweis.

Ludwig A. Rehlinger:
Freikauf
Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989.
Mitteldeutscher Verlag; 304 Seiten; 19,90 Euro.
Buch bei Amazon Ludwig A. Rehlinger: "Freikauf"