
Hamburg-Fotografin Alice O'Swald Blickfängerin der Hansestadt

O'Swald-Aufnahme "Stadthausbrücke. Allein!", etwa 1946.
Foto: Alice OSwald-Ruperti / Vintage Alice OSwald-Ruperti / Vintage Germany
Das Kind sitzt allein auf dem Bett. Seine Beine hängen herunter, die Arme sind vor dem Körper verschränkt. Anscheinend friert es. Traurig blickt das Kind in den kargen Raum, während Licht aus dem Fenster sein Gesicht bescheint. Eine Szene voller Schwermut. Und Würde.
O'Swald-Aufnahme "Stadthausbrücke. Allein!", etwa 1946.
Foto: Alice OSwald-Ruperti / Vintage Alice OSwald-Ruperti / Vintage GermanyAufgenommen wurde dieses Foto um 1946/47 in einer Notunterkunft in Hamburg. "Stadthausbrücke. Allein!", betitelte es die Fotografin Alice O'Swald-Ruperti. Unermüdlich zog sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Trümmerlandschaften der Hansestadt, um das Elend von Flüchtlingen und Vertriebenen, Ausgebombten und Hungernden zu dokumentieren.
Knapp 15 Jahre später: Die Große Freiheit in St. Pauli ist ein Lichtermeer. Neonlicht reizt die Augen, ein alter Herr mit Hut und Schirm linst in den Eingang des legendären Amüsierbetriebs "Hippodrom". Auch dieses Foto schoss Alice O'Swald-Ruperti.
Über Jahrzehnte wurde die resolute Frau, die sich das Fotografieren selbst beigebracht hatte, zu einer Chronistin ihrer Heimatstadt. Tausende Aufnahmen dokumentieren ihr Werk. Schiffe und Häuser, das Treiben im Hafen, in den Straßen und auf Märkten, Arbeiter, Studenten und Flaneure: Kaum etwas, das sie nicht interessierte. Veröffentlicht wurden ihre Bilder in Büchern, auf Karten und in Kalendern. O'Swald-Ruperti war bekannt in der Hansestadt. Was nicht zuletzt an ihrem angeheirateten Nachnamen lag: Die O'Swalds waren eine ehrwürdige Kaufmannsfamilie.
Schattenspiele
Das Licht der Welt hatte die leidenschaftliche Fotografin allerdings weit entfernt von Hamburg erblickt. Am 4. April 1904 wurde sie in Moskau geboren. Ihr Vater Ernst Ruperti betrieb ein Handelshaus für Baumwolle, die musisch begabte Tochter erlernte das Klavierspiel. 1917 musste die Familie Russland allerdings verlassen. Nach der kommunistischen Oktoberrevolution wurde Ernst Ruperti enteignet, zeitweise eingesperrt. Schließlich konnten die Rupertis nach Hamburg ausreisen.
In Deutschland studierte Alice Klavier, sie hatte das Talent zur Konzertpianistin. Doch letzten Endes zog es sie nach Pommern. Denn Ihr Mann Justus O'Swald, den sie 1929 geheiratet hatte, übernahm die Verwaltung eines großen Gutshofs. Seine Frau Alice suchte dort nach neuen Herausforderungen neben Haushalt und der Erziehung ihrer Kinder Hans und Katrin. Zum Glück gelangte die junge Frau an ihre erste Kamera, eine Rolleiflex - und entdeckte eine neue Leidenschaft. "Wochenlang hat sie das Land bereist und fotografiert", erinnert sich ihre Tochter Katrin Platzer. In einer Porträtserie setzte ihre Mutter den Menschen Pommerns ein fotografisches Denkmal.
1945 musste die Familie wie Millionen andere Deutsche auf der Flucht vor der Roten Armee ihre Heimat verlassen. "Machen Sie, dass sie hier fortkommen", hatte ihr ein Leutnant geraten, wie sie sich Alice O'Swald-Ruperti später in einem Fluchtbericht erinnerte.
Ihren wertvollsten Besitz hatte die Fotografin da bereits per Schiff Richtung Hamburg geschickt. Ein Koffer, voll mit Filmen, in Kriegszeiten absolute Mangelware. Unversehrt legte das Schiff im Hamburger Hafen an - nur um kurz darauf bombardiert zu werden. Samt dem Koffer sank es. Mit all ihrer Überredungskunst konnte die Fotografin schließlich Taucher dazu bewegen, den Koffer zu bergen. "Der war natürlich völlig durchnässt", so Katrin Platzer. "Sie hat die nassen Filme genommen und in ihrer provisorischen Dunkelkammer zum Trocknen aufgehängt".
Schwarzmarkt und Elbstrand
Sobald die Filme wieder in die Kamera eingespannt waren, ging Alice O'Swald-Ruperti erneut auf ihre Streifzüge. Und verdiente damit Geld: Schon 1946 veröffentlichte sie einen Fotoband über Stade, später über Blankenese. Ihr Ehemann war mittlerweile arbeitsunfähig, die Familie lebte in einem winzigen Zimmer. Eine kleine Ecke diente als Dunkelkammer.
Schnell hatte O'Swald-Ruperti allerdings eine zahlungskräftige Klientel ausgemacht: britische Offiziere, die in den vornehmen Villen der Stadt einquartiert waren. Sie fotografierte die schicken Anwesen, die Briten schickten die Fotos an ihre Familien.
Zusätzlich besuchte die Autodiktatin die Unterkünfte der Armen und Heimatlosen. "Die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit der Menschen haben sie sehr bewegt", sagt die Tochter. Ihre Mutter machte Bilder von Großfamilien, die sich ein einziges Bett teilen mussten, vom Handel auf dem Schwarzmarkt und gebrechlichen Frauen, die den Elbstrand nach Brennholz absuchten.
Dabei musste sich ihre eigene Familie selbst eine neue Existenz aufbauen. Mitte der Fünfzigerjahre betrieb sie eine Tankstelle. "Meine Mutter hat von morgens bis abends Autos gewaschen", erinnert sich Katrin Platzer. Aber eine Benzinallergie machte Alice O'Swald-Ruperti schließlich die Arbeit dort unmöglich.
Glücklicherweise konnte die umtriebige Fotografin bald von ihrer Kunst leben. O'Swald-Ruperti machte zahlreiche Aufnahmen vom Hamburger Rathaus. Als Postkarten waren sie bei Besuchern der Hansestadt beliebt. Es folgten weitere Bücher und Kalender, für die sie im Auftrag der großen Reedereien fotografierte. Manchmal verschaffte ihr der Name O'Swald Zutritt zu den Geschäftsführern, bisweilen musste sie Klinken putzen.
Unbändiger Tatendrang
Wenn es um das Fotografieren ging, konnte nichts die tatendurstige Frau aufhalten. Einmal hielt sie ein Postauto auf offener Straße an, kletterte auf das Dach und schoss von dort Fotos. Ein anderes Mal beschwatzte sie Arbeiter, sie auf ihren Kran zu lassen. Nur von dort oben bot sich ihrer Meinung nach die richtige Perspektive. "Wir sind einmal auf den Turm der Petrikirche gestiegen", berichtet Platzer. Für ein gutes Foto waren die Fenster allerdings zu schmutzig. Kurzerhand schlug Alice O'Swald-Ruperti mit ihrem Schuhabsatz ein Fenster ein.
Im gehobenen Alter entdeckte sie schließlich die Liebe zu ihrem Geburtsland Russland neu. Sie reiste hinter den Eisernen Vorhang und fotografierte Museen, Klöster und Ikonen - natürlich illegal. "Mein Vater hat immer Blut und Wasser geschwitzt, ob sie wiederkommen würde", erinnert sich Nicolai O'Swald, der seine Großmutter ebenfalls bei ihren Streifzügen durch Hamburg begleitet hatte. "Die Filme hat sie teilweise in ihren Schuhabsätzen außerhalb des Landes geschmuggelt."
Ein liebstes Fotomotiv war ihr die Elbe. Sie wohnte nicht weit vom Fluss entfernt in Blankenese. Mit den Worten "Jetzt ist das Licht unglaublich!" verließ sie oft das Haus. Bis Alice O'Swald-Ruperti 1989 in Hamburg starb. Neben ihren Büchern hinterließ sie Tausende Negative und Abzüge, bis heute gehütet von ihrem Enkel Nicolai O'Swald. "Ich wünsche mir, dass die Öffentlichkeit ihre Fotos noch mal sehen kann", sagt er im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Am liebsten als Buch oder in einer Ausstellung.
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Sündenpfuhl: Wer in Hamburg das Vergnügen sucht, wird in St. Pauli fündig. Das Treiben auf der Großen Freiheit hielt die Fotografin Alice O'Swald-Ruperti 1960 fest. Rechts im Bild schaut ein älterer Herr in den Eingang des Amüsierbetriebs Hippodrom. Jahrzehntelang streifte O'Swald-Ruperti durch die Straßen der Hansestadt und fotografierte unablässig.
Elend: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg machte Alice O'Swald-Ruperti ihre ersten Fotos in der Hansestadt. Erschüttert vom Schicksal der Ausgebombten und Flüchtlinge fotografierte sie in Notunterkünften, etwa diese Kinder im Winter 1946/47.
Neon: Die Amüsierbetriebe von St. Pauli mit ihren Neonlichtern waren O'Swald auf ihren fotografischen Streifzügen ein dankbares Motiv. Aufnahme ca. 1960.
Riesig: Überall, wo es etwas zu sehen gab, war Alice O'Swald-Ruperti dabei. 1973 dokumentierte sie den Bau der Köhlbrandbrücke.
Tor zur Welt: Um ihre Familie zu ernähren, machte O'Swald-Ruperti Fotos von typischen Hamburger Motiven wie dem Rathaus oder dem Hafen. Auf Postkarten wurden sie an Touristen verkauft. Für Reedereien erstellte sie zudem Kalender mit Bildern der jeweiligen Schiffe. Mit dem Wirtschaftswunder besserte sich auch ihre Lage. Aufnahme eines Frachters um 1960.
Er läuft und läuft und...: Zum unbestrittenen Symbol des "Wirtschaftswunders" wurde der Käfer von Volkswagen. Hier undatiert fotografiert von Alice O'Swald-Ruperti beim Überqueren der Hamburger Elbbrücken.
Gipfelstürmer: Angst war der Fotografin unbekannt. Für eine bessere Übersicht überredete sie etwa Arbeiter, sie auf einen Kran klettern zu lassen. Und wenn ein Kirchturmfenster zu schmutzig war, um hindurch zu fotografieren, schlug sie es kurzerhand mit ihrem Schuh ein. Dieses Foto machte sie um 1965.
Verwüstung: Große Teile der Stadt lagen nach den Luftangriffen der Alliierten in Trümmern, wie hier die Stadtbibliothek am Domplatz.
Idylle: Eines ihrer liebsten Fotomotive war die Elbe, in deren Nähe die Fotografin wohnte. 1989 starb Alice O'Swald-Ruperti in Hamburg. Und hinterließ mit Tausenden Aufnahmen ein fotografisches Gedächtnis der Stadt.
Brennmaterial: Neben Kindern litten auch alte Menschen Not. Dieser alten Dame begegnete Alice O'Swald-Ruperti an der Elbe. In der Hand trägt sie Holz, das ans Ufer geschwemmt wurde.
Geröllwüste: Anschaulich dokumentierte die Fotografin, wie die Trümmerlandschaften der Kriegszeit verschwanden. Und wie Hamburg wiederaufgebaut wurde. Das Foto wurde um 1946/47 aufgenommen.
Tauschgeschäft: Nach Hamburg geflüchtet, setzte O'Swald-Ruperti die Fotografie fort. Sie machte Aufnahmen von diesem Schwarzmarktgeschäft in der Nähe des Heiliggeistfelds. Und besuchte ...
... die Ärmsten der Gesellschaft, wie dieses Kind in einer Notunterkunft 1946/47. Dabei musste O'Swald-Ruperti selbst für ihre Familie sorgen. Ihr Mann war arbeitsunfähig, ihre zwei Kinder noch klein. Als Fotografin schoss sie Bilder von den edlen Villen, in denen britische Offiziere untergebracht waren. Die Briten kauften ihr die Fotos ab und schickten sie nach Hause.
Schiffsfriedhof: Im Hafen lagen die Wracks bombardierter Schiffe. Aus einem dieser Schiffe ließ Alice O'Swald Ruperti einen Koffer bergen. Darin enthalten waren zahlreiche Filme, die sie auf der Flucht vor der Roten Armee per Schiff Richtung Hamburg geschickt hatte. Getrocknet, konnte die Fotografin die Filme später tatsächlich wiederverwenden.
Ruhestätte: Die Not der Nachkriegszeit Zeit macht dieses Foto deutlich. Es zeigt einen wiederverwendbaren Klappsarg.
Katastrophe: 1962 forderte eine Sturmflut zahlreiche Tote in Hamburg. Die sturmgepeitschte Elbe hielt O'Swald-Ruperti in Blankenese fest.
Stählern: Ebenso hielt O'Swald-Ruperti den technischen Wandel fest. Spätestens seit den späten Sechzigerjahren revolutionierte die Einführung des Containers den Überseehandel. Diese frühen Containerbrücken und Hubwagen lichtete sie um 1967 ab.
Heimweh: Im hohen Alter entwickelte die Fotografin ein großes Interesse an ihrem Geburtsland Russland - und blieb doch ihrer Heimat, der Hansestadt, fotografisch treu. Das Bild zeigt eine Marktszene in den Fünfzigerjahren in Hamburg.
Warten an der Elbe: O'Swald-Aufnahme der Landungsbrücken im Hamburger Stadtteil St. Pauli um 1960.
Powerfrau: Geboren wurde Alice O'Swald-Ruperti, hier auf einer undatierten Aufnahme, am 4. April 1904 in Moskau als Tochter eines Kaufmanns. 1917 floh die Familie vor den Kommunisten nach Hamburg. Alice studierte in Berlin und Wien Klavier. 1929 heiratete sie mit Justus O'Swald einen Nachkommen einer berühmten Hamburger Kaufmannsfamilie. Und zog nach Pommern, wo das Ehepaar ein Gut bewirtschaftete. Dort entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Fotografie.
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