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Hans-Dietrich Genscher: Vielflieger und Meister der Unschärfe

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Hans-Dietrich Genscher Vielflieger und Meister der Unschärfe

Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher machte die Beweglichkeit zum Prinzip seiner Politik - mit Erfolg: Er hielt seine Partei, einen kapriziösen Honoratiorenverein, lange Jahre an der Macht. Noch heute trägt die FDP schwer am Rückzug des großen Taktikers.
Von Franz Walter

Erinnert man sich an Hans-Dietrich Genscher, so hat man in der Regel den einst allseits beliebten Außenminister der Deutschen vor Augen. Infolgedessen verbucht man ihn gleich automatisch als erfolgreichen und geachteten Anführer der Freien Demokraten mit. Das ist natürlich nicht rundum verkehrt. Denn schließlich stand Genscher gut elf Jahre an der Spitze der FDP. Das hatte vor ihm kein Liberaler sonst geschafft; und das machte ihm ebenfalls später niemand nach.

Dabei war es ein hartes Stück Arbeit und eine hohe, filigrane Kunst, die Ansammlung von häufig kapriziösen Individualisten im freidemokratischen Honoratiorenverein zusammenzuhalten und ihnen politische Gewicht zu verleihen. Es gab da - im Unterschied zu den Christ- oder Sozialdemokraten - kein liberales Pflichtgefühl, keinen freidemokratischen Disziplinethos, keinen bürgerlichen Unterordnungswillen, die ein liberaler Parteichef nutzen konnte. Es gab da nirgendwo begründungslose, sentimentale Selbstverständlichkeiten für die Loyalität von Mitgliedern gegenüber ihren Chef.

Ein FDP-Vorsitzender musste sich immer durch weltliche Leistung, Erfolg, Resultate rechtfertigen. Konnte er dergleichen nicht vorweisen, dann brachen die bürgerlichen Menschen seiner Partei, die das mehrheitlich so aus ihren wirtschaftsnahen Berufen kannten, ziemlich unsentimental und rasch den Stab über ihn. Kurzum: Dass Genscher ein ganzes Jahrzehnt und zunächst lange unangefochten die Parteiführung in der FDP halten konnte, war ungewöhnlich genug.

Vertreter der Flakhelfer-Generation

Genscher verfügte also über Eigenschaften und Fähigkeiten, die für die Führung der Liberalen hilfreich und nützlich waren. Von Gewinn war gewiss die Generationenprägung. Genscher gehörte zur sogenannten Flakhelfer-Generation. Viele darunter wurden am Ende des Krieges von den NS-Potentanten zynisch verheizt. Diejenigen, die überlebten, hatten nach 1945 für Ideologien, Weltanschauungen, große Erzählungen nichts mehr übrig. Man sagt jedenfalls von diesen Jahrgängen, dass sie ganz und gar pragmatisch gewesen seien, nüchtern, prosaisch, leistungsorientiert - keine schlechten Tugenden für bürgerliche Liberale, die sich seit jeher begrifflich eben so definierten und deuteten.

Doch dieser Grundzug war bei Genscher nicht nur Folge einer kollektiv umspannenden Generationsprägung. Genschers nüchterne Leistungsorientierung, sein Ehrgeiz, sein Aktivitätendrang, ja seine Arbeitswut waren weit mehr noch Konsequenz eines schwierigen, aber ganz individuell verlaufenen Lebensweges in jungen Jahren.

Als Genscher zehn Jahre alt war, starb sein Vater. Er musste, ob er wollte oder nicht, früh erwachsen werden, den Vater gewissermaßen ersetzen. Das war allerdings nicht leicht, denn Genscher erkrankte als Jugendlicher an Tuberkulose. Rund dreieinhalb Jahre brachte er zwischen seinem 20. und 30. Lebensjahr in Krankenhäusern und Sanatorien zu.

Als er seine Krankheit endlich besiegt hatte, stand Genscher unter dem enormen Druck, den Vorsprung einzuholen, den andere aus seiner Altersgruppe ihm gegenüber bereits besaßen. Daher arbeitete er länger und härter als der Rest, nahm mehr Aufgaben an, hetzte von Termin zu Termin. Genscher wirkte kaum einmal entspannt, auch und erst recht als Außenminister nicht. Immer wollte er es allen anderen beweisen; aber er fürchtete zugleich, all das zu verlieren, was er sich inzwischen - verspätet - durch ungeheure Anstrengungen aufgebaut, entbehrungsreich erworben hatte. Das bestimmte die Persönlichkeit Genschers, auch die des Parteivorsitzenden, im Guten wie im Schlechten.

Unermüdlicher Arbeiter

Genscher war ein unermüdlicher Arbeiter. Aber er war kein verwegener Abenteurer, kein kühner Vorstürmer. Er agierte lieber aus dem Hintergrund, vorsichtig, taktisch abwägend, auf seine Chance lauernd, sich nie dem Risiko aussetzend, zu früh und ungeschützt aus der Deckung zu kommen. Und er besaß den Gefahreninstinkt derjenigen, die sich mit Härte und Zähigkeit gegen alle Widerstände nach oben kämpfen müssen. Er hatte wie viele, denen der Aufstieg nicht leicht gemacht wurde, den unerbittlich scharfen Blick für die Schwächen seiner Gegner. Erfahrungsgemäß sind es in der Tat nicht die schlechtesten Parteiführer, die darüber verfügen: über taktische Umsicht, die Witterung für Fallgruben, das Auge für die Blößen der Rivalen und Feinde.

Im übrigen hatte Genscher die Politik wie ein Handwerk gelernt. Er hatte als wissenschaftlicher Assistent von Thomas Dehler begonnen, stieg dann zum Fraktionsgeschäftsführer unter Erich Mende auf, leitete schließlich ab 1962 gleichzeitig noch die Bundsgeschäftsstelle der Partei. In den Jahren der Großen Koalition war er Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion. Schritt für Schritt eignete sich Genscher die Fertigkeiten und Kniffe des politischen und parlamentarischen Alltags an.

Wie Helmut Kohl wurde er ein Meister des Telefonats. Vor wichtigen politischen Entscheidungen holte er sich die Meinungen aus allen Teilen der Partei - von links bis rechts, von Bremen bis Freiburg - ein. Am Ende hatte er dann ein ziemlich sicheres Gespür dafür, was wohl gehen konnte, was sicher scheitern musste. Und wenn die Lager und Flügel sich gegenseitig blockierten, dann trat Genscher aus den Kulissen hervor und löste den Knoten durch einige passende Konsensformulierungen.

Das wurde zum Markenzeichen in den Aufstiegsjahren des Hans-Dietrich Genscher: die virtuose Fähigkeit zum Kompromisstext. Zum einen war das politische Kunst, in vielen Jahren erlernt und zur Meisterschaft gebracht. Aber es entsprach zum anderen auch Genschers Naturell, war Ausfluss seiner Lebensgeschichte. Genscher war ein vorsichtiger Mensch, wollte nicht aufs Spiel setzen, was er unter großen Mühen hart erarbeitet hatte. Das galt für ihn persönlich, das galt für ihn - den Berufspolitiker - aber genauso auch für das politische Geschäft. Er wollte durch Ausgleich, Moderation und Kompromiss zusammenhalten, was oft schwer genug errichtet worden war.

Nach diesem Prinzip, dem Ertrag seiner Lebenserfahrungen, führte er als Vorsitzender auch sein Partei. Und das war für die FDP kein schlechtes Muster. Für die siebziger Jahre galt es gar besonders. Die Partei war seinerzeit aufgespalten in zwei - wie es lange aussah - etwa gleichstarke Flügel, den wirtschaftsliberalen und den sozialliberalen. Das bedeutete für die Führung des politischen Liberalismus: Es konnte nur derjenige im Parteivorsitz reüssieren, der von beiden Flügeln akzeptiert wurde, der zum Brückenschlag fähig war.

Baukasten mit Allgemeinplätzen

Das war Genschers Spezialität. Von ihm waren Einseitigkeiten, programmatische Absolutheiten, politische Verhärtungen nicht zu befürchten. Genschers Parteitagsreden waren von einer berüchtigten Unschärfe, die noch dem willigsten Delegierten die aufmerksame Rezeption nahezu unmöglich machten. Für seine Interviews besaß er einen Bausteinkasten von rhetorischen Allgemeinheiten. Nie geriet Genscher in die Versuchung, konzeptionell zuzuspitzen, nur selten war er zu bewegen, im politischen Streit Farbe zu bekennen, in Konflikten unmissverständlich Stellung zu beziehen.

Stets achtete er darauf, mehrere Eisen im Feuer zu behalten, Wendemöglichkeiten auch in eine andere Richtung nicht zu verbauen. Genscher hielt nichts von schroffen Festlegungen. Beweglichkeit aus der Mitte heraus - das war sein politischer Kompass.

Lange hielt Genscher mit diesem Prinzip die FDP gut beieinander; und in den ersten Jahren seines Vorsitzes sammelte er Wähler von verschiedenen Seiten nach diesem Konzept. Und darum war es ihm zu tun: nach allen Seiten offen zu bleiben. Und wenn es dann zur Koalitionsbildung kam, sollte um die FDP kein Weg vorbei führen. Daher wollte sich Genscher auch, wenn irgend möglich, nicht auf eine starre Koalitionsvariante - gar ein historisches Bündnis - fixieren. Es ging ihm darum, koalitionspolitisch zwei Karten in der Hand zu behalten, eben mit den Christdemokraten so gut wie mit den Sozialdemokraten zusammengehen zu können. Das verstand er unter "Eigenständigkeit der Liberalen".

Doch die Schattenseiten dieser politischen Methode wurden ebenfalls sichtbar. Genscher übertrieb seinen Ansatz, kultivierte diese Attitüde der Schlitzohrigkeit und des raffinierten Taktizismus, die gerade unter liberalen Bildungsbürgern zunehmend auf Ablehnung stieß. Genscher hatte nie eine bürgerrechtliche, gar libertäre Kernwählerschaft vor Augen. Eben das wurde zur Chance der Grünen des Joschka Fischer, der ihm nicht zufällig später im Amt des Außenministers folgte.

Hans-Dietrich Genscher richtete seine Politik an die Wechsel- und Interessenwähler des Bürgertums. Aber dadurch legte Genscher die Latte für die Freien Demokraten enorm hoch, denn die Wechselwähler in der Mitte waren ein launisches, verwöhntes, prätentiöses Völkchen. Und später, als der Meister taktischer Wendigkeiten abdankte, sollte sich zeigen, dass die Liberalen oft genug nicht mehr in der Lage waren, dieses Maß zu nehmen. Als Genscher die Bühne verließ, durchschritten die Freidemokraten tiefe Täler. Den meisten seiner Nachfolger fehlte die Begabung, virtuos zu lavieren und instinktsicher zu changieren. Insofern hinterließ Genscher seiner Partei kein leichtes Erbe.

Am 21. März 2007 feierte Hans-Dietrich Genscher seinen 80. Geburtstag.

Erschienen auf SPIEGEL ONLINE am 17.03.2007
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