Herfried Münkler über Coronakrise und Autokratie "Weitreichende Veränderungen der politischen Ordnung"

Autoritäre Politiker Trump, Putin, Erdogan beim G20-Gipfel in Osaka (Juni 2019)
Foto: Presidential Press Service/ Pool Photo/ APSPIEGEL: Herr Münkler, wir erleben durch die Coronakrise eine Ausnahmesituation. Als 1968 die Notstandsgesetze für die Bundesrepublik verabschiedet wurden, gab es massive Proteste - und jetzt fast keine Diskussionen über die Einschränkung der Freiheitsrechte. Verwundert Sie das?
Münkler: Die Debatte über die Notstandsgesetze nach 1945 wurde wegen der noch frischen Erinnerung an 1933 so heftig geführt: In der Endphase der Weimarer Republik regierten die Reichskanzler mit Notverordnungen über das Parlament hinweg; auch Hitler etablierte mit dem "Ermächtigungsgesetz" eine Notstandsregelung, um mit außergewöhnlichen Vollmachten die parlamentarische Demokratie endgültig auszuschalten. In der jetzigen Situation wird ja gar nicht mit Gesetzen gearbeitet, schon gar nicht mit Eingriffen ins Grundgesetz. Im Moment nutzen die Regierungen vor allem administrative Möglichkeiten.
SPIEGEL: Dass Regierungen so weitreichende Entscheidungen allein treffen und die Parlamente nicht fragen, finden Sie unproblematisch?
Münkler: Bei uns sehe ich darin keine Gefahr für die Demokratie. Aber: In Staaten, in denen sehr autoritäre Regierungschefs agieren - Trump, Bolsonaro, Putin, Erdogan - muss man damit rechnen, dass die Pandemie zum Einfallstor für weitreichende Veränderungen der politischen Ordnung wird. Das kann beginnen, indem sich jemand als charismatischer Bezwinger der Krise präsentieren will, so wie es sich bei Xi Jinping in China andeutet.
SPIEGEL: Europäische Länder reagieren ganz unterschiedlich. Großbritannien und die Niederlande haben lange auf staatliche Eingriffe verzichtet, in Frankreich stellt sich Emmanuel Macron mit martialischer Rhetorik an die Spitze des "Kriegs" gegen die Krankheit. Greifen die Staaten auf historisch gewachsene Muster zurück?
Münkler: Tatsächlich werden die verschiedenartigen politischen Kulturen in Europa sehr sichtbar. In der "Etatismus"-Tradition geht man in Frankreich davon aus, dass ökonomische und soziale Herausforderungen vor allem durch staatliche Eingriffe in den Griff zu bekommen sind. Die liberale Tradition in Großbritannien und den Niederlanden hingegen setzt stark auf die Verantwortung und Einsichtsfähigkeit des Einzelnen. Die Deutschen versuchen einen Mittelweg.
SPIEGEL: Wie die Staaten in der Krise agieren, erklärt sich also auch aus der Geschichte?
Münkler: Da gibt es sicher eine Pfadabhängigkeit, wie Sozialwissenschaftler es nennen: Etablierte Muster sind in einem Land tief verankert, wurden in Rechtsformen gegossen und dominieren jetzt das unterschiedliche Vorgehen in Europa.
SPIEGEL: Gibt es historisch überhaupt etwas mit der Coronakrise Vergleichbares?
Münkler: Vielleicht die große Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts. Damals kam die Seuche aus China oder Zentralasien über die Seidenstraße nach Europa - und hat das öffentliche Leben ähnlich zum Erliegen gebracht wie Corona heute. Allerdings nicht, weil ein gut organisierter Staat Ausgangssperren angeordnet hätte, sondern weil die Menschen aus ungeheurer Angst vor Ansteckung nicht mehr auf die Straße gingen. Es gibt Berichte, dass die Sterbenden auf den Straßen lagen und sich keiner fand, der sie weggetragen hat.
SPIEGEL: Ihren Anfang nahm die Katastrophe 1348 in südeuropäischen Hafenstädten, in Venedig, Genua, Marseille …
Münkler: … und breitete sich von dort über ganz Europa aus. In gut einem Jahrzehnt starb ungefähr ein Drittel der Bevölkerung daran. Das medizinische Wissen war weit vom heutigen entfernt, aber dass Abstand und Quarantäne helfen könnten, ahnten die Menschen früh.
SPIEGEL: Staaten im modernen Sinne gab es noch nicht. Welche Rolle spielten die Obrigkeiten bei der Pest-Bekämpfung?
Münkler: Den mittelalterlichen Verwaltungen fehlten die Strukturen für Abwehrmaßnahmen. Selbst ein relativ gut organisiertes Gemeinwesen wie die Republik von Florenz - eine Metropole mit mehr als 100.000 Einwohnern - war nur begrenzt in der Lage durchzugreifen.

Darstellung des "Schwarzen Todes" (um 1350): Verbrennung von Kleidung - an der Pestwelle starben damals rund 25 Millionen Europäer, etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung
Foto: Hulton Archive/ Getty ImagesSPIEGEL: Es kam also auf den Einzelnen an, ob er sich schützen konnte oder nicht?
Münkler: Richtig. Natürlich waren die Begüterten im Vorteil. Wer konnte, zog ins Landhaus. Genau so entstanden Boccaccios berühmte Novellen: In "Decamerone" beschreibt er den Rückzug aus der Stadt und liefert Ideen gegen die Langeweile, indem man sich erotische Geschichten erzählt.
SPIEGEL: Die Pest blieb eine Dauerbedrohung für Europa. Wie reagierten die Staaten, die sich nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert herausbildeten?
Münkler: Sie reglementierten immer stärker das Alltagsleben der Menschen, nicht zuletzt, um Katastrophen vorzubeugen. Sogenannte Policey-Ordnungen entstanden, etwa zur Ausweisung Kranker im Seuchenfall oder zur Müllbeseitigung. Der englische Philosoph Thomas Hobbes prägte die Formel: "Pro protectione oboedientia" - für den Schutz, den der Staat bietet, haben die Bürger Gehorsam zu leisten.
SPIEGEL: Diesen Schutz konnten die Bürger auch gegen Seuchen erwarten, nicht nur gegen äußere Feinde?
Münkler: Ja. Für die Obrigkeiten war das durchaus ein positiver Effekt, denn die Angst vor Krankheiten rechtfertigte auf ganz besondere Weise Maßnahmen, um Ordnung und Disziplin durchzusetzen. An solchen Herausforderungen wuchsen die frühneuzeitlichen Staaten und etablierten sich - die Herrschaft konnte sich legitimierten, indem sie dabei erfolgreich war.
SPIEGEL: Gilt das Prinzip bis heute?
Münkler: Das ist sicher auch heute noch so. In normalen Zeiten wird die Schutzerwartung an den Staat nur nicht so explizit herangetragen, in Ausnahmezeiten muss er sich bewähren. Es ist gewissermaßen die Stunde der Exekutive. Politisch sind deshalb die regierenden Parteien gerade im Vorteil, denn sie können handeln. Wer in einer ernsten Situation nur reden, aber nichts anordnen kann, ist klar im Nachteil.
SPIEGEL: Heute haben wir eine Demokratie. Freiheitsrechte sind in der Verfassung verankert. Einige davon, etwa die Versammlungs- oder Reisefreiheit, werden nun eingeschränkt, zugunsten des Gemeinwohls. Wie lassen sich beide Werte gegeneinander abwägen?
Münkler: In dieser Situation kann man gut mit der Kantschen Formel argumentieren, dass die Freiheit, die ich für mich in Anspruch nehme, die Freiheit eines anderen nicht einschränken oder bedrohen darf. Wenn die Einschränkungen, die wir gerade erleben, das Leben anderer zu sichern helfen, dann halte ich sie für gerechtfertigt. Entscheidend wird sein, wie lange diese Situation anhält: Ist der Ausnahmezustand zeitlich begrenzt? Oder wird er zur Einbruchsstelle für eine fundamentale Veränderung der sozio-politischen Ordnung?
SPIEGEL: Sehen Sie diese Gefahr?
Münkler: Für Westeuropa wäre ich für den Moment unbesorgt. Aber in autoritären Staaten wie China ist die Pandemie eine gute Begründung, das ohnehin schon herrschende Kontrollsystem mit Handyüberwachung und Bewegungsprofilen weiter auszubauen. Wenn man auf diese Weise die Krankheit besiegt, lässt sich einiges rechtfertigen.
SPIEGEL: In Europa sind die Grenzen geschlossen, jedes Land sucht nach eigenen Lösungen. Bedroht die Krise die europäische Idee?
Münkler: Die Pandemie verstärkt Entwicklungen, die schon seit geraumer Zeit zu beobachten sind. Nach 1989 gab es eine Tendenz zur Großräumigkeit, zur Langfristigkeit und Rationalität. Jetzt denken wir wieder verstärkt in kleinen Räumen, kurzfristig und emotional. Der Aufstieg des Populismus überall ist dafür ein deutliches Signal - und sicher bestärkt die aktuelle Krise die Erwartungen der Menschen an den Staat in diese Richtung.
SPIEGEL: Schon jetzt hört man den Vorwurf, die Grenzen seien zu spät geschlossen worden.
Münkler: Das ist absurd. Die Grenzschließungen sind reine Symbolpolitik. Nicht umsonst haben Länder, in denen Rechtspopulisten viel Einfluss haben, damit angefangen: Österreich und Dänemark. Dabei ist es gar keine richtige Grenzschließung, die Warenströme kommen weiter durch, das müssen sie ja. In unserer global vernetzten Welt können wir uns eine völlige Abschottung nicht mehr leisten. Grenzschließungen haben schon 1831 kaum funktioniert, als die Cholera über Russland nach Polen und Westeuropa kam.
SPIEGEL: Man nannte sie das "asiatische Ungeheuer", die Angst war immens.
Münkler: Preußen und Österreich versuchten, mit einem "Cordon Sanitaire", einem militärischen Sperrgürtel, und mit reduziertem Schiffsverkehr die Verbreitung zu stoppen - nicht sehr erfolgreich: Bis 1832 starben allein in Preußen rund 41.000 Menschen an der Cholera.

Die Epidemie in Hamburg 1892 war der letzte große Cholera-Ausbruch in Deutschland
Foto: Bildagentur für Kunst, Kultur und GeschichteSPIEGEL: Kann das Wissen um den Umgang mit Seuchen in der Geschichte aktuell helfen?
Münkler: Schon früher verbreiteten sich ansteckende Krankheiten über Handelswege, gingen aber oft mit Kriegen einher. War die Bevölkerung geschwächt von Krieg und von Hunger, hatten die Krankheitserreger leichtes Spiel. Auch die Ausbreitung der Spanischen Grippe 1918 wurde vom Ersten Weltkrieg begünstigt. Es gab gewaltige Truppenverschiebungen, wenig Hygiene an der Front, lange Schlangen an Essensausgabestellen. Und im Dreißigjährigen Krieg starben mehr Menschen an Hunger oder Krankheiten als an Kriegshandlungen.
SPIEGEL: Die heutige Pandemie ist anders: Sie bedroht uns in Friedenszeiten.
Münkler: Und das ist ausgesprochen erschreckend. Früher sank die Ansteckungsgefahr mit dem Kriegsende. Heute profitieren die Erreger eher vom Frieden: Je friedlicher wir zusammenleben, umso mehr Touristen reisen durch die Welt, umso länger sind die Lieferketten in der Wirtschaft. Bei einer zentralen Frage hilft der Blick in die Geschichte deshalb nur wenig: Wie kann man die Verwundbarkeit durch die Globalisierung minimieren, ohne wirtschaftliche und persönliche Freiheiten auf Dauer einzuschränken?
SPIEGEL: Lassen sich die Folgen der Krise für Europa erahnen?
Münkler: Unsere Demokratien werden die Krise wohl gut überstehen, aber die neuen Erfahrungen werden unsere Zukunftserwartungen grundlegend verändern. Noch wissen wir nicht, wie stark die Wirtschaft einbrechen wird - aber wahrscheinlich kommt es zu einem sehr massiven Einschnitt. Ich halte es für möglich, dass man später von einer Epochenwende im Jahr 2020 sprechen wird.