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Himmlers Leibarzt: Masseur des Massenmörders

Himmlers Leibarzt Masseur des Massenmörders

Heilen, helfen, heucheln: Im Zweiten Weltkrieg rettete Felix Kersten Tausende vor den Nazis. Für seine Heldentaten wurde der Masseur des SS-Chefs Himmler später mit Ehrungen überhäuft. Erst nach seinem Tod kam heraus, dass Kersten seine größten Coups erfunden hatte - und trotzdem ein Held war.

Die Geburtstagsfeier von Adolf Hitler war kaum vorbei, da eilte Heinrich Himmler schon zum nächsten Termin. Der SS-Chef hatte sich in dieser kühlen Nacht zum 21. April 1945 auf einem Gut nördlich von Berlin verabredet. Es sollte eine der wohl überraschendsten Unterredungen im untergehenden Nazi-Reich werden. Denn um 3 Uhr begrüßte Himmler am Verhandlungstisch einen der erklärten Feinde seines Führers: Norbert Masur, Vertreter des Jüdischen Weltkongresses aus Stockholm. Doch es kam noch erstaunlicher: Denn in dieser Nacht trafen die vermeintlichen Erzfeinde ein strenggeheimes Abkommen. Der deutsche Polizeichef erlaubte dem jüdischen Unterhändler, mit dem Roten Kreuz Tausende Häftlinge aus deutschen Konzentrationslagern nach Schweden zu bringen. Ohne jede Gegenleistung.

Und Himmler bluffte nicht: In den ersten Maitagen 1945, Hitler war bereits tot, fuhr tatsächlich eine Kolonne weißer Militärbusse nach Schweden. 7000 KZ-Häftlinge, darunter rund tausend Jüdinnen aus dem Lager Ravensbrück, hatte Himmler statt auf Todesmärsche in die Freiheit geschickt. Eingefädelt wurde die spektakuläre "Aktion Weiße Busse" schon Wochen zuvor: Ausgerechnet einer von Himmlers engsten Vertrauten hatte heimlich seine Kontakte zur schwedischen Regierung spielen lassen, um das Treffen zu organisieren. Der Name des Drahtziehers: Felix Kersten, Himmlers Leibarzt.

Der untersetzte Mediziner mit dem lichten Haar stand seit 1939 im Dienste Himmlers und hatte in den sechs Jahren gewaltigen Einfluss auf den Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei gewonnen. Er behandelte dessen chronische Magenkrämpfe mit offenbar äußerst wohltuenden Massagen: Denn während dieser Sitzungen überredete Kersten seinen Patienten regelmäßig zu Gnadenakten und rettete so Tausende vor dem Tod. In der Nachkriegszeit brüstete sich Kersten mit diesen Heldentaten und wurde mit Ehrungen überhäuft. Seine Memoiren würdigten Historiker als besonders aufschlussreiche Dokumente.

Mutiger Held oder dreister Betrüger?

Doch Jahre nach seinem Tod stand der Arzt plötzlich als Schwindler da: Erste Unstimmigkeiten hatte 1972 der Historiker Louis de Jong gefunden. Zudem hatte der Niederländer gefälschte Beweise entdeckt. Es war nur der Anfang einer Neubewertung der Erinnerungen und Dokumente Kerstens. Bald deckten andere Forscher weitere Schwindeleien auf. Mit jeder aufgedeckten Lüge wurde die Rolle Kerstens an Himmlers Seite undurchsichtiger und grotesker: War der Masseur ein mutiger Held oder ein dreister Betrüger? Bald sollte sich herausstellen, dass er beides war.

Schon der weitgehend unstrittige Teil seines Lebenslaufes ist kurios: Geboren 1898 als deutschstämmiger Balte in Estland, wurde Kersten nach den Wirren des Ersten Weltkriegs erst Finne und siedelte dann nach Deutschland, später in die Niederlande über. Durch Zufall gelang ihm daraufhin in den Zwanzigern ein beachtlicher Aufstieg als Physiotherapeut. Bald massierte er Aristokraten und behandelte Großindustrielle mit seiner "manuellen Therapie". Schließlich erfuhr der geachtete Heilkundige, dass Hitlers Polizeichef unter Magenkrämpfen litt. Im März 1939 sprach Kersten offiziell bei Heinrich Himmler vor.

Der Nazi-Funktionär war von den Fähigkeiten des Masseurs begeistert: Mit jeder Behandlung wuchs Himmlers Vertrauen zu Kersten, die Gespräche wurden persönlicher, während der Finne den schmerzenden Bauch des Massenmörders knetete. Der nannte seinen Arzt schließlich "meinen magischen Buddha", traf ihn bald nahezu täglich. So weit, so unstrittig. Das Problem: Worum es in diesen stundenlangen Unterhaltungen wirklich ging, weiß niemand. Denn außer den Aufzeichnungen von Kersten ist darüber nichts bekannt: "Ob Kersten sich diese Gespräche nach Kriegsende ausdachte, muss allerdings dahingestellt bleiben", schreibt der Historiker und Himmler-Biograf Peter Longerich.

Unstrittig ist immerhin, dass der gewiefte Arzt Himmlers Vertrauen nutzte, um Häftlinge und Verfolgte zu retten: Während er den Magen des SS-Chefs walkte, nötigte Kersten ihm regelmäßig die Freilassung von Todgeweihten ab. Emsig wie ein Kaufmann handelte der Naturheilkundler mit dem Schreibtischtäter, Bauchwehhilfe gegen Menschenleben.

Richtig in Fahrt kam dieser Tauschhandel angesichts der drohenden Kriegsniederlage, als Himmler sich ab 1944 mit Gnadenakten wohl bei den künftigen Siegern einschmeicheln wollte: Laut Historiker Raymond Palmer hatte Kersten schon 1942 begonnen, seinen Einfluss auf Himmler regelmäßig zu nutzen: Immer wieder presste er demnach KZ-Häftlinge frei, heckte 1943 in geheimen Gesprächen mit einem US-Agenten sogar eigene Friedenspläne aus und verhinderte im letzten Kriegsjahr schließlich die Sprengung deutscher Konzentrationslager. Kurz vor Kriegsende gestattete Himmler dann den besagten Abtransport von Tausenden Häftlingen nach Schweden und in die Schweiz.

Der Retter der Niederlande

Doch seine größte Heldentat will Kersten schon Jahre zuvor vollbracht haben. Im Frühjahr 1941, so behauptete er, habe er Himmler überredet, Hitler einen irren Plan auszutreiben: die Deportation des gesamten niederländischen Volkes ins besetzte Osteuropa. Glaubte man Kersten, sollten die entvölkerten Niederlande unter "Umsiedlungskommissar" Himmler zur "SS-Provinz" werden. Glaubte man Kersten, hatte der Diktator dieses Vorhaben ursprünglich an seinem 52. Geburtstag im April 1941 verkünden wollen - was Hitler nach seiner Intervention gelassen habe. Und glaubte man Kersten, verhinderte sein Eingreifen auch die Sprengung Den Haags, der holländischen Festung Clingendael und des Nordsee-Abschlussdeiches.

Den Grundstein für die Zementierung der Holland-Legende legte nach dem Krieg eine niederländische Historikerkommission, die alle Behauptungen prüfen sollte. Geschichtsprofessor Nicolaas Posthumus kam 1950 zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Angaben des Finnen seien ausnahmslos wahr, Kersten ein "Menschenretter und Wohltäter größten Formats", und: "Das Werk Kerstens verdient unsere Bewunderung." Wenig später bezeugte auch der britische Historiker Hugh Trevor-Roper, der Anfang der achtziger Jahre auch die Echtheit der Hitler-Tagebücher bestätigen sollte, die Heldengeschichte: Im Vorwort zu Kerstens Memoiren lobte er 1956 dessen "gigantisches Werk" als "leuchtendes Beispiel für Menschlichkeit". Der Coup des Masseurs war perfekt.

Denn der Dank des vermeintlich geretteten Volkes war groß: Im August 1950 ernannte die niederländische Königin Kersten zum Großoffizier des "Ordens von Oranien-Nassau" - eine der höchsten Auszeichnungen des Landes. Drei Jahre später bedankte sich auch die Regierung in Stockholm für Kerstens Mut, indem sie ihm die schwedische Staatsbürgerschaft verlieh. Die Finnen hatten ihren Landsmann schon während des Krieges zum Medizinalrat und Kommandeur im ehrwürdigen Orden der "Weißen Rose" erhoben. Die Niederländer waren sogar so sehr von Kerstens Heldenmut ergriffen, dass ihn die Regierung gleich viermal für den Friedensnobelpreis vorschlug. Doch der gigantische Ruhm des Volkshelden rief auch Zweifler auf den Plan. Unter ihnen war ausgerechnet auch ein Schüler von Kerstens großem Fürsprecher Nicolaas Posthumus: der Historiker Louis de Jong.

Als er die Unterlagen zum Fall Kersten prüfte, kam er zu einem brisanten Befund: Die Rettung der Niederlande war eine Erfindung des angeblichen Retters, dessen vermeintliche Belege nannte er "evident phantasierte Stücke". Und es kam noch dicker: 1978 überführte auch der NS-Forscher Gerald Fleming anhand einer aufwändigen Laboranalyse Kersten als Blender: Laut Fleming hatte der Finne einen Brief gefälscht und 1953 nachträglich als Beweisstück seinen Erfahrungsberichten beigefügt, um sich in ein noch besseres Licht zu rücken. Das Ergebnis beider Studien: Kersten hatte zwar maßgeblich die Befreiung Tausender KZ-Häftlinge ermöglicht, aber niemals im Alleingang die Niederlande gerettet. Er war ein Held - und ein dreister Lügner.

Überschattete Heldentaten

Denn etliche "Beweise" bestanden aus Kerstens eigenen Aufzeichnungen und Briefen, die er möglicherweise erst nach dem Krieg verfasst hatte. Auffällig war auch, dass Kersten fünf verschiedene Versionen seiner Memoiren veröffentlichte. So ließ die niederländische Ausgabe etwa ganze Passagen aus, zudem widersprachen viele seiner Angaben historisch belegbaren Fakten: Mal wollte Kersten an Tagen bei Himmler gewesen sein, an denen der SS-Chef gar nicht in der Nähe war, ein anderes Mal dachte sich der Leibarzt komplette Gespräche aus.

So bleiben die wahren Motive des Masseurs bis heute im Unklaren. Warum arbeitete der Menschenretter Kersten für den Massenmörder Himmler? War er ein Opportunist, vielleicht sogar ein Nazi? Oder hatte er von vornherein auf nachträglichen Ruhm spekuliert? Von seinem Nachkriegsruhm ist jedenfalls nicht mehr viel übrig geblieben. Die merkwürdigen Lügen des Mannes, der Zehntausende Menschen rettete, überschatten seine Heldentaten bis heute.

Kersten erlebte das schrittweise Zerbröseln seines Lebensmythos nicht mehr. Als sich der 61-jährige Medizinalrat 1960 auf den Weg von Schweden nach Paris machte, erlitt er eine tödliche Herzattacke. Wenig später hätte ihm der französische Präsident Charles de Gaulle den Verdienstorden der Ehrenlegion überreichen sollen: für seine großen Heldentaten - und noch größere Heldentaten, die sich erst später als Ammenmärchen herausstellen sollten.

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