Fotostrecke

Historische Digitaluhren: Raumschiffe am Handgelenk

Foto: Seiko Bildarchiv

Historische Digitaluhren Raumschiffe am Handgelenk

Rechnen, daddeln - fernsehen! Anfangs zeigten Digitaluhren einfach nur die Zeit an, dann entbrannte ein beispielloses Wettrüsten um das durchgeknallteste Feature. Die zeigerlosen Hightech-Zeiteisen machten jeden jungen Mann zum Superhelden - bis die Wunderuhren zu Werbegeschenken verkamen.
Von Stefan Schmitt

Es war ein Trost - kein Hauptpreis. Meine erste Digitale gewann ich bei der Tombola der Karnevals-Kindersitzung 1984, ein Werbegeschenk der örtlichen Sparkasse. Trotzdem fühlte ich mich wie ein Astronaut: Drei Knöpfe an der Seite - "Mode", "Set" und "Light" -, Gehäuse und Armband aus glänzendem Metall. In der Mitte prangte schwarz auf grau die Uhrzeit. Nicht auf einem Zifferblatt, sondern geformt von den Segmenten einer Flüssigkristallanzeige. Diese Uhr tickte nicht, sie blinkte nur.

Meine erste Digitaluhr: keine Zeiger! Klarer konnte cool nicht sein. Wenn es im Unterricht langweilig wurde, hatte ich immer ein Spielzeug am Arm. Kindisch? Als wenig später "Knight Rider" zum morgendlichen Schulhofgespräch avancierte, fühlten wir digitalbeuhrten Jungs uns bestätigt. Denn selbst David Hasselhoff spielte mit seiner Uhr, flüsterte, wenn es brenzlig wurde, hinein: "Ich brauch' Verstärkung, K.I.T.T." - schwupps kam das Wunderauto um die Ecke. So eine Zukunftsuhr passte prächtig in die frühen achtziger Jahre meiner Kindheit.

Die eckigen Ziffern der Digitalanzeige waren ein Zeichen der Zeit, sie standen gleichermaßen für Fortschritt, Massenfabrikation - und Ramsch. Denn als ich mir meinen Gewinn ums linke Handgelenk band, stand er längst fest: der Sieg des Computers über das Uhrwerk, der Halbleitertechnik über die Feinmechanik. Die Digitaluhr ist ein Artefakt, das für den drastischen Umbruch einer ganzen Industrie steht, für den Übergang von analog zu digital bei einem der ältesten technischen Geräte der Menschheit.

"Statussymbol für Könige, Präsidenten und Sport-Champions"

Schon Jahrtausende vor der Zeitenwende verwendeten die Ägypter Sonnenuhren. Später brannten christliche Mönche Uhrenkerzen ab. Und spätestens seit dem Hochmittelalter gibt es mechanische Uhren mit Zahnrädern - die im Laufe der Jahrhunderte immer präziser und kleiner wurden, bis sie schließlich ans Handgelenk passten. Die Geschichte der Digital- jedoch ist die Geschichte der Quarz-Armbanduhr. Das Prinzip, die Schwingungen eines Quarzkristalls anstelle eines mechanischen Taktgebers zu benutzen, war seit 1918 bekannt. Doch erst Schweizer Uhrmachern gelang dies auch en miniature. 1967 wurde am Centre Electronique Horloger (CEH) in Neuchâtel der Prototyp einer Quarz-Armbanduhr vorgestellt.

Als erste auf den Markt schafften es aber die Japaner. An Weihnachten 1969 kam dort die "35SQ Astron" von Seiko in die Geschäfte. Schon bei den Olympischen Spielen in Tokio im Jahr 1964 hatte im offiziellen Zeitmesser ein Quarz-Herz von Seiko geschlagen. Die Teenager der siebziger und achtziger Jahre hatte die "Astron" allerdings wohl wenig beeindruckt. Kein Wunder: Äußerlich sahen die Quarz-Uhren der Sechziger noch nach den Fünfzigern aus, sie trugen Zeiger und Zifferblatt.

Quarztechnik und eine futuristische Anzeige aus Leuchtdioden-Segmenten zu vereinen, dieser Geniestreich gelang erst der Hamilton Watch Company (HWC, später Time Computer Inc.) aus Pennsylvania. Ihre "Pulsar" von 1972 war die erste Quarz-Digital-Armbanduhr der Welt. Sie kostete mehr als ein Kleinwagen und galt Anfang der siebziger Jahre als "Statussymbol für Könige, Präsidenten und Sport-Champions", so der SPIEGEL damals. Doch dabei sollte es nicht lange bleiben.

Die Quarzkrise

Schon 1975 berichtete der SPIEGEL von den "40-Dollar-Uhren" der US-Firma Litronix. Das war damals knapp die Hälfte des durchschnittlichen Wochenlohns eines US-Industriearbeiters (netto rund 88 Dollar). "Im nächsten Jahr wollen mehrere Konkurrenten noch einmal zehn Dollar nachlassen." Im Januar 1977 vermeldete die "Business Week" schließlich: "The $20 Digital Watch Arrives a Year Early" - und schon im Mai kostete auch diese nur noch die Hälfte und damit etwa so viel wie 25 Liter Frischmilch oder gut zweieinhalb Kilogramm Rindersteak.

Nur ein halbes Jahrzehnt nach ihrer Markteinführung wurde die Digital- zum Inbegriff der Billiguhr. Und zur tödlichen Gefahr für die mittelständische Uhrenindustrie in Deutschland. Aber auch die Schweiz und Japan, die Großmächte tickender Feinmechanik, erwischte der Digitalboom kalt. Von einer "Quarzkrise" sprach die "Neue Zürcher Zeitung". Zu lange hielten die Eidgenossen das zeigerlose Zeug für eine vorübergehende Mode. Und vom Seiko-Top-Manager Yukio Asano ist der spöttische Ausspruch überliefert, die Amerikaner seien halt "digital crazy".

Sie blieben es, Europäer und Asiaten folgten bald. Schon 1975 wurden weltweit 3,5 Millionen Digitaluhren produziert. Das war noch vor der vielleicht entscheidenden Innovation: Die Hersteller verbannten die stromfressenden roten Leuchtziffern zugunsten jener schwarzen Anzeigen, wie ich sie auf meiner ersten Digitaluhr bewunderte. Es war eine Billigtechnik, die nicht ohne Effekt blieb. 1977 überstiegen die Verkäufe von Armbanduhren mit solchen Flüssigkristallanzeigen (LCD) erstmals jene mit Leuchtdioden. Die Preise purzelten weiter. 1978 hatte der Uhrmacherneuling Hongkong nach Stückzahlen alle übrigen Länder als Welt-Uhrenexporteur hinter sich gelassen. Das Rezept für den Weg zum Ramsch: Quarz-Digital-Innereien, die pro Uhr nur noch wenige Cents kosteten. Spätestens jetzt begann die Digitalarmbanduhr ihre Karriere als billiges Werbegeschenk.

Besonders stolz war ich auf eines vom Radiosender SWF aus dem Jahr 1987. Das Ding war weiß, riesengroß und hatte schwarze Druckknöpfe. Wie ein Brett prangte es an meinem Arm. Klar erkennbar, dass die Zeitanzeige hier nur noch Nebensache war.

Mit Swatch zurück zum Zeiger

Form vor Funktion, das gilt sicher nicht für alle Digitaluhren. Die "G-Shock"-Serie von Casio hat bis heute Erfolg bei Menschen, die möglichst viel digitale Funktion am Handgelenk tragen wollen - im Zeitalter von Handys und Laptops ein Anachronismus. In den Achtzigern aber überboten sich die Hersteller mit zweifelhaften Mehrwerten: Wer eine Uhr mit Stoppfunktion am Handgelenk trug, war der König auf dem Schulhof.

Zumindest für kurze Zeit. Denn im Wettrüsten der Uhrenhersteller hatten bizarre Features am Handgelenk als Alleinstellungsmerkmal in der Schulhofhierarchie eine Halbwertszeit von maximal zwei Wochen. Es ging Schlag auf Schlag. Und schon bald galt der Satz: "Zeig' mir deine Digitale, und ich sage dir, wer du bist." Streber setzten über Uhren mit Adress- und Terminspeicher ein Statement oder empfahlen sich mit einem Miniaturtaschenrechner am Handgelenk schon mal für den Physiknobelpreis. Freunde des gepflegten Müßiggangs hingegen setzten auf jene Plastikuhren, in die Videospiele eingebaut waren - und daddelten so manche Schulstunde durch.

Der japanische Hersteller Seiko packte in seine Uhr "Drum" gar einen Rhythmuscomputer. Er stellte auch die erste Digitaluhr vor, auf deren Flüssigkristallbildschirm Fernsehbilder liefen - vorausgesetzt, der Träger hängte sich ein nicht gerade zierliches Kästchen mit Empfangselektronik um den Hals. Wer derart aufgerüstet in die Schule zog, betrieb allerdings ein riskantes Spiel: Nach oben wurde die Luft dünn, der Grad zwischen Coolness und Peinlichkeit wurde dünn, extrem teure Apparate zogen unweigerlich den Sozialneid auf sich.

Überhaupt, irgendwann kippte die Coolness der Zeigerlosen. Als Erkennungsmerkmal taugte die Digitaluhr höchstens noch im negativen Sinne. Denn irgendwann waren es nur noch die Physik-Nerds, die unbedingt Weltzeituhr, Höhenmesser und eingebauten Taschenrechner am Handgelenk brauchten. Aber die kamen ja auch mit Aktenkoffern zur Schule. Wir anderen, modisch anfällig und wenig trendresistent, tickten da schon wieder anders. Schuld war die Swatch.

Schon 1983 war sie in Zürich lanciert worden, ein paar Jahre später war sie ein Markenmode-Muss wie Levi's, Benetton oder Adidas: Quarz und Platine ja, aber mit Zifferblatt - und das war so knatschbunt bedruckt wie der Rest der Plastikuhr. 65 Mark kosteten die ersten "Swatch"-Modelle, die wir auf dem Schulhof bewunderten. Da sahen Digitaluhren plötzlich unheimlich altmodisch aus.

Die Mehrheit der Menschheit scheint nach einer Portion Astronauten-Gefühl wieder zum analogen Interface zurückgekehrt zu sein. Jedenfalls hierzulande. Bestes Indiz: Wer sich die Abo-Prämien der Zeitungen und Magazine - also den chronografischen Werbegeschenkramsch der Gegenwart - anschaut, der sieht allenthalben Zeiger und Zifferblätter, aber keine Digitalanzeigen mehr. Die Coolness von damals schert heute wohl nur noch jene Sammler, die bei Ebay, auf Flohmärkten und in Tauschzirkeln Jagd auf "Pulsar" oder die Uhren von Litronix, Texas Instruments, Casio und Co. machen. Für alle anderen ist digital längst alltäglich banal.

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten