
Historische Krim-Krisen "Der Ruhm Russlands, der Stolz der Sowjetunion"
Der Moskauer Bürgermeister schlägt undiplomatische Töne an. Die Ukraine müsse Russland endlich "das zurückgegeben, was ihr nicht gehört". Was der russische Politiker mit "das" meint, muss er seinem nationalistisch gestimmten Publikum nicht erklären: die Krim natürlich.
Das war 2009.
"Um diese Halbinsel, Juwel des ehemaligen Sowjetimperiums am Schwarzen Meer, ist ein Kampf entbrannt, in dem ein Funke genügen könnte, um eine Explosion auszulösen", schreibt ein SPIEGEL-Korrespondent besorgt.
Das war 1992.
Die Europäer sehen plötzlich die Freiheit in Gefahr. Es gelte, die Werte der europäischen Kultur gegenüber einem zügellosen Despotismus und Expansionismus Russlands zu verteidigen, argumentieren Großbritannien und Frankreich. Kurz danach nehmen ihre Kriegsschiffe Kurs auf die Krim, während der russische Zar noch beteuert, er schütze lediglich die Rechte orthodoxer Christen. In Wahrheit geht es beiden Konfliktparteien eher um Macht als um Menschen.
Das war 1853.
Jetzt bestimmt die Krim also wieder die Schlagzeilen. Selbstverständlich sind vergangene Krisen wie etwa der Krim-Krieg von 1853 nicht mit der jetzigen Situation vergleichbar. Die Bedingungen sind grundverschieden, und zum Glück ist eine diplomatische Lösung längst nicht ausgeschlossen. Und doch ähneln sich Argumentationsmuster und Rhetorik mitunter frappierend. Ein Krieg, eine Abspaltung, nichts scheint mehr ausgeschlossen. Denn die Krim ist nicht nur wegen des russischen Flottenstützpunkts in Sewastopol bedeutend. Selbst für weniger patriotisch gesinnte Russen ist die Halbinsel ein ziemlich symbolbeladener Ort. Er steht für Opferbereitschaft und Heldentaten, aber auch für demütigende Niederlagen und nationale Selbstzweifel.
Doch wie kam es, dass die Krim und ihre Hafenstadt Sewastopol immer wieder zum Zankapfel zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen wurde? Warum wurde ausgerechnet die einstige Sommerresidenz der Zaren, berühmt für ihr mildes Klima, romantische Badestrände und prächtige Schlösser, immer wieder zum Schauplatz blutiger Konflikte?
Am Anfang, vor nunmehr 360 Jahren, stand womöglich ein großes Missverständnis. Am 18. Januar 1654 versammelten sich in der Kirche der Stadt Perejaslaw südöstlich von Kiew ukrainische Kosaken und Vertreter des russischen Zaren Alexei I. Die Kosakenführer leisteten dem Zaren im Vertrag von Perejaslaw den Treueeid, dafür versprach der Zar den Kosaken militärische Hilfe im Kampf gegen die Adelsrepublik Polen-Litauen.
Mit dem Zweckbündnis begann die Unterordnung der Ukraine unter russischer Herrschaft: Nach 1654 wurden die Gebiete östlich des Flusses Dnjepr zum Protektorat der Zaren. Die Krim gehörte damals allerdings noch nicht dazu: Erst 1783 nahm sie Fürst Grigori Potemkin für Zarin Katharina II. "von nun an für alle Zeiten" in Besitz. Damit hatte sich Russland endlich den lang gehegten Traum von einem ganzjährig eisfreien Hafen erfüllt.
Der Glaube an die "Untertanenschaft" der Ukraine
Das Problem mit dem Vertrag von Perejaslaw aus späterer Sicht: Ukrainische Historiker betonten stets, dass der Pakt ein Bündnis unter Gleichen gewesen sei, das zudem nur temporär gegolten habe. Aus russisch-nationalistischer Sicht hingegen belegt der Vertragstext früh die "Untertanenschaft" der Ukraine - und das weit über die Zeit von 1654 hinaus.
So kam es zu einer folgenreichen Geschichtsstilisierung durch den sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow: 1954 - genau 300 Jahre nach dem Vertrag von Perejaslaw - erhob er das Bündnis nachträglich zu einem frühen Akt der Verbrüderung der Völker und deutete es gar zur "Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland" um. Im Gestus eines gönnerhaften Zaren schenkte Chruschtschow daraufhin die Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik. Er konnte nicht ahnen, dass die Sowjetunion nicht einmal 40 Jahre später zusammenbrechen und die Schenkung nach der Unabhängigkeit der Ukraine zu einem ernsten strategischen Problem werden sollte.
Denn die Hafenstadt Sewastopol hatte dem Zarenreich und später der Sowjetunion den wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer geboten - und von dort aus über den Bosporus und die Dardanellen eine Verbindung bis ins Mittelmeer. Zumindest theoretisch. Denn das Osmanische Reich kontrollierte seine Meerengen argwöhnisch und ließ keine Kriegsschiffe passieren. Als das Osmanische Reich Mitte des 19. Jahrhunderts wankte und zu zerbrechen schien, witterte Zar Nikolaus I. die Chance, die türkischen Meerengen endlich unter russische Kontrolle zu bringen. Die Krim sollte Weltgeschichte schreiben.
Ein erster moderner Stellungskrieg
Denn der Versuch der Invasion mündete in einen ungeahnt verlustreichen Flächenbrand, einen ersten modernen Stellungskrieg mit verbesserten Schusswaffen: Vorboten des Horrors späterer Weltkriege. Dabei hatten die Truppen des Zaren anfangs noch mit Leichtigkeit die Donaufürstentümer Moldau und Walachei besetzt und die osmanische Schwarzmeerflotte vor der Hafenstadt Sinope vernichtend geschlagen.
Diese ersten Erfolge drohten jedoch das sorgsam austarierte Gleichgewicht der Großmächte dauerhaft zu verschieben. Besonders die Handelsmacht Großbritannien hatte kein Interesse an der Konkurrenz durch das Zarenreich im Mittelmeer. Die Regierungen in London und Paris verhandelten, sie stellten ein Ultimatum. Der Zar ließ es verstreichen. 1854 entsandten Briten und Franzosen schließlich ihre Flotten dorthin, wo sie das russische Reich am empfindlichsten treffen konnten: nach Sewastopol auf der Krim.
Doch aus dem erhofften schnellen Sieg wurde nichts. Die Hafenstadt war zur Festung ausgebaut worden. Erbittert wurde um jeden Meter gekämpft, ein leichtsinniger Angriff der britischen Kavallerie erlangte als "Todesritt" traurige Berühmtheit, Epidemien rafften auf beiden Seiten Zehntausende dahin. Erst nach knapp einem Jahr Belagerung fiel Sewastopol. "Das zerstörte Pompeji befindet sich in einem guten Zustand im Vergleich zu Sewastopol", schrieb der Schriftsteller Mark Twain bei einem Besuch der Hafenstadt - zehn Jahre nach dem Konflikt.
"Sewastopol ergibt sich nicht!"
Damit war der Krim-Krieg faktisch entschieden. Russland hatte eine demütigende Niederlage kassiert und insgesamt womöglich bis zu einer halben Million Soldaten verloren, die meisten durch Hunger und eine mangelhafte medizinische Versorgung. Der große Plan, den geopolitischen Einfluss auszudehnen, war nicht aufgegangen: Das Zarenreich war politisch isoliert, es fühlte sich betrogen von einstigen Partnern wie Österreich, und es hatte bitter seine industrielle Rückständigkeit gegenüber dem Westen erfahren müssen.
Es blieb, gewissermaßen zum Trost, die zum Mythos verklärte Erinnerung an die heldenhafte Verteidigung Sewastopols. Auch das dürfte erklären, warum die Stadt knapp 90 Jahre später erneut besonders hartleibig verteidigt wurde, diesmal gegen die bis dahin so erfolgsverwöhnte Wehrmacht.
Während die Deutschen im Herbst 1941 nur noch 100 Kilometer von Moskau entfernt waren, lief sich Hitlers Offensive an der Krim fest. Berühmt wurden die später in vielen Liedern besungenen "fünf Matrosen von Sewastopol", die sich angeblich mit ihren letzten Handgranaten unter die rollenden deutschen Fahrzeuge warfen - und so zunächst einen Durchbruch nach Sewastopol verhinderten.
"Sewastopol ist nicht einfach nur eine Stadt. Es ist der Ruhm Russlands, der Stolz der Sowjetunion", schrieb der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg im Juni 1942 kämpferisch. "Wir haben erlebt, wie Städte, berühmte Festungen, Staaten kapitulierten. Aber Sewastopol ergibt sich nicht."
Hitlers Traum vom "Gotenland"
248 Tage konnte sich die Stadt tatsächlich halten, dann wurde sie doch eingenommen, erneut "ein Trümmerhaufen", wie es ein deutsches Kriegstagebuch lakonisch vermerkte. Nun wollte Hitler die Krim, Heimat Dutzender Ethnien, radikal germanisieren. Die Halbinsel sollte per Autobahn direkt mit dem Reichsgebiet verbunden werden. Sewastopol sollte künftig "Theoderichhafen" heißen - benannt nach dem berühmten Gotenführer aus der Zeit der Völkerwanderung - und die Krim zum "Gotenland" werden. Dafür wollte Hitler systematisch Südtiroler am Schwarzen Meer ansiedeln.
Doch dazu kam es nicht mehr. Die Rote Armee vertrieb die Wehrmacht im Mai 1944 wieder - Stoff für weitere Heldenmythen und Auftakt weiterer Grausamkeiten: Weil ein kleiner Teil der Krimtataren mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatte (und obwohl 60.000 Krimtataren in der Roten Armee gekämpft hatten), ließ Stalin nun ein ganzes Volk nach Zentralasien deportieren. Dass ein Großteil der Krimtataren die Fahrt in überfüllten Viehwaggons nicht überlebte, war Teil des Kalküls: Der Diktator misstraute den Krimtataren, und einen so wichtigen Ort wie die Krim wollte er lieber mit Russen besiedeln.
Die überlebenden Krimtataren und ihre Nachkommen konnten zwar Jahrzehnte später wieder in ihre Heimat zurückkehren, doch an der grundlegenden Strategie Moskaus änderte das wenig: Sewastopol blieb der wichtigste Flottenstützpunkt, und die Krim sollte russisch dominiert sein - was sie auch tatsächlich bis heute ist: Nirgends in der Ukraine ist die Distanz zum Westen spürbarer als hier.
Ein diplomatischer Affront
Als sich die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dem Westen zuwandte und den Nato-Beitritt plante, geriet eine alte Konstante der russischen Politik ins Wanken. Die Ukraine müsse "ein Gebiet ohne russische Militärstützpunkte werden", sagte Julia Timoschenko 2008, damals Ministerpräsidentin - und jetzt wieder Hoffnungsträgerin. Das war ein Affront. Zwar war die russische Militärpräsenz in Sewastopol bis 2017 vertraglich garantiert. Doch Timoschenko und Präsident Juschtschenko drohten immer wieder unverblümt damit, das Abkommen nicht zu verlängern.
Der Rest ist Geschichte. Juschtschenko und Timoschenko wurden 2010 abgewählt, der prorussische Janukowitsch wurde Präsident und verlängerte den Vertrag bis 2042. Jetzt haben die Ukrainer Janukowitsch verjagt, die Bewohner auf der Krim sind tief verunsichert, und Russland versucht offenbar erneut, die Halbinsel unter seine Kontrolle zu bekommen, vielleicht immer noch ganz nach dem Diktum der Zarenzeit - "für alle Zeiten".