
Henry Hale Bliss: Todesurteil helfende Hand
Prominenter Verkehrstoter Das Ende des Henry Hale Bliss
Als Henry Hale Bliss, 69, am Abend des 13. September 1899 aus der elektrischen Straßenbahn stieg, blickte er auf einen angenehmen Tag zurück, den er mit einem Ausflug nach Harlem begangen hatte. In Damenbegleitung.
Bliss war Witwer und was sein Familienleben anging kein Glückspilz. 1895 hatte er erleben müssen, dass seine Stieftochter Mary Alice Fleming für den Tod seiner Ehefrau Evelina belangt und inhaftiert wurde: Sie soll ihre Mutter mit einer mit Arsen gewürzten Muschelsuppe vergiftet haben. Das Verfahren gegen Fleming wurde zum ersten massenmedial ausgeschlachteten Skandalprozess der US-Mediengeschichte. Der Fall brachte der Familie des wohlhabenden Immobilienhändlers mit eigenem Büro an der Wall Street erstmals höchst unangenehme Prominenz.
1899 bemühte sich Henry Hale Bliss, inzwischen Ruheständler, offenbar um einen neuen Anfang. Sein nachmittäglicher Ausflug endete in der Nähe des Central Park, seine Wohnung lag in der Nachbarschaft. Und wie sich das gehört, sprang der Gentleman nicht einfach ab von der Tram, sondern blieb stehen, drehte sich um und reichte der ihn begleitenden Miss Lee eine helfende Hand. Es war sein Todesurteil.
1899 waren 90 Prozent aller New Yorker Taxis elektrisch
Auch Arthur Smith hatte einen prominenten Fahrgast in seinem Taxi No. 43. Auf dem vorn befindlichen Passagiersitz saß David Orr Edson, Sohn eines ehemaligen, noch immer populären Bürgermeisters von New York. David Orr war Arzt, machte sich selbst aber gerade einen Namen auf dem neuen Gebiet der Psychologie.
Der viktorianische Vibrator: Törichte bis tödliche Erfindungen aus dem Zeitalter der Technik
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06.06.2023 04.44 Uhr
Keine Gewähr
Als das Taxi Henry Bliss erfasste, reagierte der gelernte Mediziner Orr umgehend: Er stürzte aus dem Wagen und begann, um das Leben des von zwei Rädern überrollten Opfers zu kämpfen. Es war zwecklos: Zu schwer waren Bliss' Verletzungen an Kopf und Brustkorb, denen er am nächsten Morgen im Roosevelt Hospital erlag.
Die "New York Times" berichtete noch am selben Tag über den Fall - und Bliss wurde zum ersten namentlich bekannten Opfer eines Motorfahrzeugs in den USA. Dass er wirklich der erste Autoverkehrstote in den USA war, ist aber unwahrscheinlich. Die Zahl der namenlosen Opfer ist unbekannt, dürfte aber schon vor Bliss bei mehreren Dutzend gelegen haben.
Dampf für die Überlandfahrt, Strom für die Städte
Der Fortschritt der Automobilität hatte schon von Anfang an Opfer gefordert. Bei Glasgow kam es 1834 zum wahrscheinlich ersten dokumentierten tödlichen Unfall eines Automobils. In Deutschland berichtete das "Polytechnische Journal" darüber:
"Dagegen verunglückte einer der Dampfwagen des Hrn. Russel, welche, wie wir schon früher anzeigten, bereits längere Zeit zwischen Glasgow und Paisley fuhren. Es brach nämlich ein Rad, der Wagen fiel um, und dadurch zersprang auch der Kessel, wodurch fünf Menschen ums Leben kamen."

Henry Hale Bliss: Todesurteil helfende Hand
Auch in den USA hatte es seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erste handgefertigte Dampfwagen gegeben, ab circa 1880 gehörten sie zunehmend zum Bild der Städte. Im Individualverkehr kamen Motorfahrzeuge aber erst richtig an, als eine andere Technologie bereitstand. Ende des 19. Jahrhunderts erlebte sie ihre erste Blüte, überraschend aus heutiger Sicht: Es waren Elektroautos. Auch das Taxi No. 43, durch das Henry Bliss starb, war natürlich ein E-Wagen - denn das galt für über 90 Prozent aller New Yorker Motor-Taxis dieser Zeit.
Im Jahr 1900 waren 30 Prozent aller in den USA verkauften Autos elektrisch. Kurz nach der Jahrhundertwende fuhren auf New Yorks Straßen rund 1000 elektrische Taxis, dazu zahlreiche E-Omnibusse. Und möglicherweise trägt genau diese Technik eine Mitschuld am Unfalltod von Henry Bliss - denn die Elektro-Autos waren viel schwerer hörbar als Dampf- und Verbrennungsmotoren. Dass er einem E-Fahrzeug entstiegen war, um gleich darauf von einem anderen E-Fahrzeug überrollt zu werden, war den New Yorker Zeitungen keine Zeile wert. "E" war der Normalfall. Im ganz normalen Chaos des weitgehend unreglementierten Straßenverkehrs aber waren E-Autos auch gefährlich.
Verkehr ohne Regeln
Es gibt einen herrlichen Film, der 1906 mit Hilfe einer auf eine Straßenbahn montierten Handkamera in San Francisco gedreht wurde. Er dokumentiert eindrucksvoll, was für ein gepflegtes Chaos damals auf städtischen Straßen üblich war. Da beginnt man zu ahnen, was die "New York Times" meinte, als sie 1899 über den Bliss-Unfall berichtete: "Der Ort, wo der Unfall stattfand, gilt unter Motorwagenfahrern als 'gefährliche Strecke', wegen der vielen Unfälle, die dort im letzten Sommer passierten."
Für den Taxifahrer Arthur Smith hatte der Unfall natürlich ein Nachspiel. Noch waren Verkehrsunfälle mit Motorvehikeln so ungewöhnlich, dass die Beteiligten behandelt wurden wie Straftäter. Kurz nachdem Bliss verstarb, wurde Smith verhaftet. Der Untersuchungsrichter ordnete eine Kaution von 1000 Dollar an, die Smith natürlich nicht aufbringen konnte. Doch die Aussagen Edsons und anderer Zeugen entlasteten ihn, die Anklage wegen Totschlags wurde fallengelassen. Der Bliss-Unfall wurde als unabsichtliche Tötung eingestuft, Smith kam frei.
So wie Mary Alice Fleming, Bliss' berüchtigte Stieftochter. Der Mord an ihrer Mutter gilt bis heute als ungeklärt.