
Zwangsverpflichtete der Waffen-SS: Hitlers Kindersoldaten
Zwangsverpflichtete der Waffen-SS Hitlers Kindersoldaten
Der gebürtige Leipziger Heinz Schütze kam nicht zur Waffen-SS, die Waffen-SS kam zu ihm. In Gestalt eines schneidigen Obersturmführers, der an einem Herbsttag 1943 vor Schützes Berufsschulklasse stand und mit markigen Worten für den Eliteverband warb. Der 15-Jährige lernte zu diesem Zeitpunkt bei der Post. Der SS-Mann zeigte auf fünf Schüler, während ihm der Lehrer Namen und Adressen verriet. Einer der Auserkorenen war Schütze.
Ein Jahr hörte Schütze nichts mehr von der SS - dann, im Dezember 1944, erreichte ihn die Einberufung ins Reichsausbildungslager. Im Frühjahr 1945, kurz vor Kriegsende, sollte er sich im tschechischen Kurort Bad Luhatschowitz einfinden, um in einem verzweifelten letzten Akt des NS-Regimes zum Soldaten ausgebildet zu werden.
Nachdem er und Tausende andere Jugendliche der Jahrgänge 1928 und 1929 militärische und ideologische Crash-Kurse absolviert hatten, erschien ein Offizier der Waffen-SS und erklärte, dass nunmehr der gesamte Lehrgang dem NS-Eliteverband, der zu diesem Zeitpunkt schon längst keiner mehr war, beitrete. Noch Fragen? "Für mich gilt das doch nicht, ich bin Freiwilliger der Luftwaffe…", wandte der damals 16-Jährige Gottfried Heinrich aus Löbau ein und hielt ein entsprechendes Schreiben hoch. Mit den Worten, "die haben keine Gültigkeit mehr", zerriss der SS-Mann das Papier.
Ein Großteil der Jugendlichen wurde nach einem kurzen Schießlehrgang und der behelfsmäßigen Einkleidung mit viel zu großen Uniformen ins niederösterreichisch-tschechische Grenzgebiet geschickt, um dort die Sowjetarmee aufzuhalten. Ein Himmelfahrtskommando, für das die völlig unerfahrene Kinderarmee einen enorm hohen Blutzoll zahlen sollte.

Links: Heinz Schütze 2013 in Selen auf der Insel Rügen, wo der gebürtige Leipziger heute wohnt. Rechts: Heinz Schütze, 1942.
Foto: Harald Stutte/Heinz SchützeManche der Jugendlichen waren stolz, bald zur "Prätorianergarde" der Nazis zu gehören. "Wir kannten ja von Kindesbeinen an nur die NS-Ideologie", so der heute 85-jährige Günter Lucks, ein ehemaliger Kindersoldat. "Heute kleben sich Jugendliche Poster ihrer Idole Justin Bieber oder Thomas Müller an die Wand. Unsere Helden hießen Werner Mölders, Günther Prien oder Otto Skorzeny, waren legendäre Jagdflieger, U-Boot-Kommandanten oder leiteten SS-Kommandounternehmen", so Lucks.
Doch die Ehrfurcht dieser Jungen sollte bald in Todesangst umschlagen. Schnell stellten sie fest, dass dieser Krieg so ganz anders war, als er in den Jugendbüchern über die Kriegshelden der Nazis dargestellt wurde. Als Lucks erstmals unter sowjetisches Granatfeuer geriet, erlitt er einen Nervenzusammenbruch. "Ich reagierte panisch, irrational, wollte aus dem Loch springen, nur noch wegrennen. Doch mein Gruppenführer hielt mich zurück." Viele der Teenager besorgten sich zivile Sachen, planten die Heimreise auf eigene Faust. Doch Hitlers Feldjäger kannten keine Gnade. Wer diesen sogenannten "Kettenhunden" in die Hände fiel, wurde umgehend hingerichtet.
Noch Jahrzehnte später tauchten Spuren dieser Fluchtversuche auf: So fand etwa der 10-Jährige Gerhard Hofmeister aus dem österreichischen Katzelsdorf an einem schönen Maitag 1978 beim Buddeln am Dorfteich Uniformfetzen und menschliche Überreste. Offenbar hatte sich hier, nahe der tschechischen Grenze, in den letzten Kriegstagen eine Tragödie abgespielt: Der Schädel, den er freilegte, hatte an der Stirn ein Einschussloch. Ältere Dorfbewohner berichteten ihm, dass Anfang April 1945 deutsche Feldjäger drei jugendliche Soldaten durchs Dorf führten. Die damals zehnjährige Anni Hofmeister, die mit ihrer Freundin auf der Dorfstraße spielte, fragte die Soldaten: "Wo geht ihr denn hin?" "Zum Sterben", antwortete eine verheulte Jungenstimme, unterbrochen vom Befehlston eines Feldgendarmen: "Halt's Maul!" Die Mädchen wurden umgehend nach Hause geschickt, Minuten später hallten die Schüsse des Hinrichtungskommandos durch das Dorf.

Links: Der ehemalige Kindersoldat Günter Dullni 2013. Rechts: Günter Dullni mit etwa 16 Jahren.
Foto: Harald Stutte/Günter DullniDer damals 16-jährige Günter Dullni schaffte es, Frontgemetzel, drohenden Racheakten und langer Gefangenschaft zu entgehen, indem er sich auf einen fast 1000 Kilometer langen Fußmarsch bis in seinen Heimatort nahe Berlin begab. Für den Jugendlichen wurde es eine Reise unter Lebensgefahren durch ein ihm unbekanntes, aber dennoch erstaunlich faszinierendes Land, das nach fünf Jahren Krieg den ersten Sommer in Frieden in sich aufsog. Zum ersten Mal im Leben sah er die Donau, den Bayerischen Wald, Passau, Nürnberg.
Der Krieg, in den Hitlers Kinderarmee 1945 geschickt wurde, war längst verloren. Die Jugendlichen "Retter des Vaterlandes" wurden zu Gejagten, die sich in die Flüchtlingsflut einreihten, die damals in Richtung Westen strömte. Wer in sowjetische Gefangenschaft geriet, hatte keine Gnade zu erwarten, auch nicht aufgrund seines Alters. Als Angehörige der berüchtigten Waffen-SS - als welche sie ihre Uniformen und ihre Blutgruppen-Tätowierung am linken Oberarm auswiesen - traf sie der ganze Hass der Sieger. Oft genug wurden sie sofort erschossen, mindestens aber gab es Schläge und endlose Verhöre. Bis zu fünf Jahre schufteten sie anschließend als Gefangene in sibirischen Kohlengruben oder baltischen Wäldern.
Und auch nach ihrer Gefangenschaft zahlten sie einen hohen Preis. Denn als ehemalige Mitglieder der Waffen-SS galten sie im Nachkriegsdeutschland - eingeschränkt im Westen, vor allem aber im Osten - als politisch belastet. Auch wenn keiner von ihnen je gefragt worden war, ob er Mitglied dieser berüchtigten Einheit werden wollte. Sie versuchten, ihre SS-Mitgliedschaft zu leugnen, sprachen oft nicht einmal mit Familienangehörigen darüber, um ihre beruflichen Werdegänge im Nachkriegsdeutschland nicht zu gefährden. Im Nürnberger Prozess war die Waffen-SS als Verbrecherorganisation eingestuft worden, was sie zweifellos auch war. Doch jene, die in ihr dienten, waren eben nicht immer automatisch auch Verbrecher, sondern mitunter selbst Opfer - wie diese jugendlichen Zwangsrekrutierten.
Der Hamburger Historiker und Journalist Harald Stutte portraitiert in seinem Buch "Hitlers vergessene Kinderarmee", erschienen im Februar 2014 bei Rowohlt, acht Schicksale von Zeitzeugen, die als Jugendliche in den letzten Kriegsmonaten für die Waffen-SS zwangsverpflichtet wurden. Der Co-Autor des Buches, Günter Lucks, Jahrgang 1928, war selbst Kindersoldat des NS-Regimes.