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Einsamkeitsforscher: "Psychisch war es die Hölle!"

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Einsamkeitsforscher "Ich war total irre"

Sechs Monate lebte Michel Siffre 1972 unter der Erde, um für die Nasa den menschlichen Schlafrhythmus zu studieren. Doch das Experiment geriet außer Kontrolle: Der Franzose drehte durch, verfiel in Depressionen - und tötete seinen einzigen Mitbewohner.

Endlich schleckt die Maus die Marmelade vom Höhlenboden des "Midnight Cave". Es ist der 20. August 1972, vielleicht auch der 21. oder der 19. So genau weiß der Höhlenforscher Michel Siffre das Datum nicht - er hat weder Uhr noch Kalender. Aber sein Gefühl sagt ihm, dass er stundenlang gewartet haben muss, bis die Maus auf den Marmeladentrick reinfällt und er seinen Topf über sie stülpen kann. Noch vor Wochen hatte der 33-Jährige ihre Artgenossen mit einem Luftgewehr erschossen, jetzt will er sich mit der letzten Überlebenden anfreunden. Es ist dringend.

Zu diesem Zeitpunkt lebt der Franzose bereits fünf Monate 30 Meter unter der Erde. 205 Tage will er allein in der Höhle im texanischen Del Rio verbringen. Für die Nasa soll er herausfinden, wie sich Schlafrhythmen unter Isolation verändern. Als Siffre den Vertrag unterschrieb, ahnte er nicht, welchen hohen Preis er dafür zahlen würde.

"Psychisch war es die Hölle"

Schon zehn Jahre zuvor war Siffre zwei Monate lang in eine Grotte in den französischen Alpen gekrochen, hatte bei Temperaturen um die drei Grad Celsius gelebt und ständig nasse Füße gehabt. Er und andere Höhlenforscher hatten festgestellt, dass der Mensch in Dunkelheit und vollkommener Isolation einen 48-Stunden-Rhythmus annimmt. Er ist 36 Stunden durchgehend aktiv - und schläft anschließend 12 bis 14 Stunden am Stück. Die Erkenntnisse weckten das Interesse der Nasa: Das Phänomen könnte etwa Astronauten helfen, lange Nachtschichten auf engem Raum zu ertragen.

"Nach zwei Monaten in der Alpenhöhle kam ich als halbzerlegte Marionette wieder ans Tageslicht", sagt Siffre, inzwischen 75 Jahre alt, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. In Texas jedoch sollte es noch härter werden - und das obwohl die "Midnight Cave" mit 25 Grad die perfekte Temperatur hatte und mit allem Nötigen ausgestattet war. "Körperlich war es nicht anstrengend", sagt Siffre, "aber psychisch war es die Hölle."

Siffre schläft auf einer Holzpritsche in einem Nylonzelt und isst die gleichen Tiefkühlgerichte, die die Crew von Apollo 16 vorgesetzt bekam. Dreimal am Tag meldet er sich bei seinem Team: nach dem Aufwachen, damit seine Mannschaft ihm das Licht in der Höhle anschaltet, dann beim Essen und schließlich kurz vor dem Einschlafen. Dann wird das Licht wieder ausgemacht. Der Forscher selbst hat keinen Schalter und kann nicht etwa spontan entscheiden, nachts einfach mal zu lesen. Wie lange er das Kunstlicht nutzt, variiert von Tag zu Tag.

Manchmal verbringt er bis zu acht Stunden am Tag damit, sich selbst zu messen. Er nimmt Haarproben, prüft sein Sehvermögen durch Schießübungen mit dem Luftgewehr, misst seinen Blutdruck. Ansonsten liest er, schreibt und hört Musik. Etwa einen Monat hält Siffre locker durch, dann geht der Plattenspieler kaputt.

Schimmel, Staub und Fledermauskot

Ihm bleiben zur Zerstreuung nur noch Bücher und Magazine, doch die sind bald vom Schimmel befallen. In der Luft liegt der Gestank von getrocknetem Fledermauskot, in den Lungen der Staub des bröckelnden Höhlengesteins. Durch die Elektroden an seinem Kopf und Körper, die seine Hirn- und Muskelaktivität, Schlaf und Traumintensität messen sollten, konnte Siffre sich nur in einem Umkreis von zehn Metern bewegen. "Ich fühlte mich wie ein angeketteter Hund."

An Tag 156 schreibt er in sein Tagebuch: "Panik! Unvorstellbare, pure Panik! Heute - was für ein verhöhnendes Wort in dieser zeitlosen Höhle - kratzte ich den Schimmel von einem Magazin und las, dass Fledermausurin und -speichel Tollwut durch die Luft übertragen können." Atmet er seit Wochen das ansteckende Zeug in seine Lungen? Ist der Ausschlag auf seiner Haut gar ein erstes Symptom? Und die vielen grauen Haare in seinem Bart? Ein Zeichen für vorschnelle Alterung? Wie eine Krankheit befällt ein Gedanke sein Gehirn: Ich muss hier raus.

"Ich wollte mir selbst ein Bein brechen"

"J'en ai assez!", schreit er in den Hörer: Ich habe genug! Doch die Kollegen am Höhleneingang haben schon längst mit einer solchen Reaktion gerechnet. "Ja ja, alles gut", sagt der Forscher am anderen Ende der Leitung und legt auf. Verzweiflung steigt in Siffre auf. "Ich liege tagelang ausgestreckt da und versuche, nicht nachzudenken", schreibt er in sein Tagebuch. "Plötzlich kommt mir die perfekte Lösung in den Sinn: Selbstmord. Es wird wie ein Unfall aussehen." Weil er aber zahlreiche Kredite aufgenommen hatte, die seine Eltern ihr Leben lang zurückzahlen müssten, verwirft er den Plan.

"Mein Stolz und mein Ehrgeiz als Wissenschaftler verboten es mir, einfach aufzugeben - aber ich wollte unbedingt raus aus der Höhle." Deshalb überlegte er sich Ausreden: "Ich erwog ernsthaft, mir selbst ein Bein zu brechen oder den Staub einzuatmen um eine Lungenkrankheit zu bekommen. Ich war total irre."

Zehn Tage kämpft Siffre gegen sich selbst, meldet sich nur noch unregelmäßig bei seinem Team. "Schließlich sagte ich mir: Du hast eine Verpflichtung der Nasa, deiner Frau und deinem Team gegenüber." Mit der Vernunft kommt die Hoffnung, doch dann passiert die Sache mit der Maus.

Augenprobleme, Lethargie, Gedächtnislücken

Tagelang hat er sie bereits von Weitem beobachtet. Er hat sie "Mus" getauft, wie das lateinische Wort für Maus. Dann fängt er sie. Als er den Topf über sie stülpt, klopft sein Herz. "Ich werde endlich eine Begleiterin haben!", schießt es ihm durch den Kopf. Doch als er das Küchengerät hebt, kommt der Schock: Mus liegt tot in der Marmelade. Siffre muss sie mit dem Topfrand erwischt haben. "Trostlosigkeit überkommt mich", schreibt er in sein Tagebuch. Doch er hält durch.

Als er am 205. Tag aus dem Höhleneingang kommt, erwarten ihn zahlreiche Physiker, Chemiker und Psychologen, gierig auf all seine gesammelten Daten und Erfahrungen, die es auszuwerten gilt. In Siffres Forschungsergebnissen geht es später viel um die "innere Uhr" des Menschen, die sich im Dunkeln angeblich verlangsamt. "Schon nach wenigen Tagen konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, was ich am Vortag gemacht hatte. Man vergisst", sagt Siffre. Bis heute hat er nicht herausgefunden, warum das so ist.

Sein Forschungsergebnis, das er der Nasa vorlegt, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Einsamkeit kann vergesslich machen, verzweifelt, krank, verrückt. Noch viele Monate nach seinem Experiment leidet Siffre an Folgeschäden wie Depression, Augenproblemen, Lethargie und Gedächtnislücken.

Mehr als 50.000 Euro Schulden

Auch finanziell waren die Schäden größer als erwartet. Laut Vertrag mit der Nasa bekam Siffre umgerechnet rund 30.000 Euro, am Ende kostete ihn das Projekt jedoch das Dreifache. "Ich habe mich mein Leben lang nicht von diesen Schulden erholt", sagt der pensionierte Forscher. Er habe nicht damit gerechnet, dass es so teuer werden würde, das Labor nach Amerika zu schaffen. Außerdem galt es, unzählige Daten mathematisch auszuwerten.

Deshalb lässt er die Höhlenforscherei nach der Robinson-Crusoe-Nummer in Texas erstmal sein und widmet sich im Dschungel anderen Wissenschaften. Erst 1999 - im Alter von 61 Jahren - wagt er sich erneut für 69 Tage unter die Erde. Heute wohnt er in Nizza und veranstaltet Gebirgsführungen für Wanderfreunde. Manchmal rufen Journalisten an und fragen nach damals. Dann erzählt er Anekdoten wie der von Mus, der Maus. An ihren Tod, wie er im Tagebuch steht, kann Siffre sich nicht mehr genau erinnern: "Ich glaube, ich habe sie freigelassen. Aber wissen Sie, man vergisst."

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