
Filmküsse: Auf keinen Fall länger als drei Sekunden
Legendäre Filmküsse Wie Hollywood knutschen lernte
So etwas hatte die Menschheit noch nicht gesehen. Publikum und Sittenwächter waren außer sich. Begeistert die einen. Die anderen: entrüstet, angeekelt. Dabei war das, was im Frühjahr 1896 für einen Aufschrei sorgte, doch die alltäglichste Sache der Welt: ein Kuss. Ein ausgesprochen keuscher dazu. Aber ein Kuss ist eben nicht mehr nur ein Kuss, wenn er auf einer riesigen Leinwand zur Schau gestellt wird.
Seit der Film vor 120 Jahren das Knutschen lernte, lösten Kinoküsse immer wieder Proteste und Streit aus. Längst werden sie in der westlichen Kinowelt routiniert inszeniert. Und doch finden sich in der Masse auch magische Momente. Es sind besonders monumentale Filme und tragische oder gewagte Küsse, die länger als andere in Erinnerung bleiben.
Die Geschichte der Filmküsse begann mit einem kurzen Stummfilm. 18 Sekunden genügten für den wohl ersten Filmskandal. Die Tageszeitung "New York World" hatte US-Erfinder und Filmpionier Thomas Alva Edison beauftragt, die Kussszene aus dem beliebten New Yorker Lustspiel "The Widow Jones" nachzustellen. Vor der Kamera von William Heise küssten sich deshalb im April 1896 die Schauspieler May Irwin und John Rice in Edisons Studio in West Orange (New Jersey), wie sie es zuvor bereits unzählige Male auf der Bühne getan hatten.
"Kiss": Der erste Kuss der Filmgeschichte
Wobei, sie küssten einander nicht wirklich. Ihre Wangen berührten sich, während sie neckisch lächelnd - und natürlich tonlos - miteinander sprachen. Dann zwirbelte er seinen Schnurbart zurecht, beugte sich zu ihr und tat so, als ob. Der vermeintliche Kuss dauerte keine zwei Sekunden. Die Lippen von Rice und Irwin berühren sich kaum, wenn überhaupt.
In Edisons Filmkatalog las sich das so: "They get ready to kiss, begin to kiss, and kiss and kiss and kiss in a way that brings down the house every time." Immerhin war es die erste Kussszene der Filmgeschichte und damit eine Sensation. "Kiss" wurde 1896 zum erfolgreichsten Vitascope-Film Edisons und 1999 in die "National Film Registry" aufgenommen, das Verzeichnis der besonders erhaltenswerten US-Filme.
"Schlechthin widerwärtig"
Was heute so banal und etwas albern wirkt, löste damals empörte Reaktionen und den Ruf nach Zensur aus. Ein Geistlicher zum Beispiel bezeichnete das angedeutete Filmküsschen als "lyric of the stockyards", also als Schlachthoflyrik oder Kuhstallpoesie. "Bei so etwas sollte die Polizei einschreiten", ereiferte sich auch Herbert S. Stone, Herausgeber der Chicagoer Literaturzeitschrift "The Chap Book".

Filmküsse: Auf keinen Fall länger als drei Sekunden
"Keiner der beiden Beteiligten ist körperlich attraktiv", schrieb Stone im Juni 1896. "Der Anblick, wie sie sich gegenseitig ausgiebig an ihren Lippen weideten, war kaum auszuhalten. Auf gewaltige Maße vergrößert und dreimal wiederholt ist das schlechthin widerwärtig. Miss Irwin scheint auch die letzten zarten Überbleibsel ihres weiblichen Reizes verloren zu haben, und in ihrer betonten Obszönität ist die Darbietung nahezu unzüchtig."
Der Literaturfreund Stone echauffierte sich weniger über den Kuss an sich als über das proletarische Medium Film, das Massen auf Jahrmärkten oder im Varieté begeisterte. Ebenso ärgerte ihn, dass May Irwin nicht seinem weiblichen Idealbild entsprach. Aber die Aufregung um "Kiss" legte sich schnell. Das Kino war nicht aufzuhalten, die Filme wurden freizügiger, ein so züchtiges Küsschen regte bald niemanden mehr auf.
Und doch kam es noch lange drauf an, wer sich da küsste. Das gilt nur manchmal für eine klassische Mesalliance, wie in der Komödie "Harold und Maude" von 1971: Depressiver 20-Jähriger verguckt sich in lebensfrohe Greisin - ein gezielter Tabubruch. Liebesgeschichten über soziale Grenzen hinweg dagegen bildeten den Grundstoff vieler großer Filme, darunter "Titanic" (1997) mit der Bugszene und dem berühmten Kuss zwischen dem mittellosen Künstler Jack und Rose, Tochter aus reicher Familie.
Mann & Mann, Schwarz & Weiß: Küssen verboten!
Sobald sich aber zwei Frauen oder zwei Männer küssten: Alarm! In den USA tobten christlich-konservative Gruppen wegen der kissing cowboys aus Ang Lees "Brokeback Mountain" (2005). Wie seinerzeit Herbert S. Stone konnten sie schwer ertragen, dass sich da in aller Öffentlichkeit die vermeintlich Falschen liebkosten.
Die "Falschen", das konnten ebenso Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe sein. So verliebten sich 1957 in Robert Rossens Hollywooddrama "Heiße Erde" Schwarz und Weiß kreuz und quer, nämlich Harry Belafonte und Joan Fontaine, Dorothy Dandridge und John Justin. In mehreren US-Bundesstaaten versuchten Protestler, die Aufführungen zu stoppen. In Memphis (Tennessee) wurde der Film tatsächlich verboten. Begründung: Er sei wegen der "unverblümten Darstellung von Rassenmischung eine Beleidigung der Moral".
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Dabei hatten die Filmemacher nicht einmal gegen den Motion Picture Production Code verstoßen. Von 1930 bis in die späten Fünfzigerjahre hatten sich Hollywoods große Studios auf diese detaillierten Moralvorgaben verpflichtet. So war "exzessives und lustvolles Küssen" nicht erlaubt. Inoffizielle Faustregel: nie länger als drei Sekunden, die Lippen bitte geschlossen halten. Außerdem: "Rassenmischung (sexuelle Beziehungen zwischen der weißen und schwarzen Rasse) ist verboten."
Die Produzenten von "Heiße Erde" hielten sich daran und beließen es bei platonisch-romantischen Liebeleien. Lediglich zwischen John Justin und Dorothy Dandridge wurde ein Kuss angedeutet, der als Hommage an Edisons filmischen Urkuss durchgehen könnte: Beider Lippen berührten sich nicht, Dandridge drehte sich gerade noch rechtzeitig weg, ihre Kussbewegungen zuckten ins Leere.
Heute wirkt der Luftkuss geradezu lächerlich. 1957 war er ein Skandal.