Holocaust-Überlebende Edith Erbrich "Hör auf zu weinen, sonst werden wir getrennt"

Edith Erbrich, geboren 1937 in Frankfurt am Main, wurde am 14. Februar 1945 in einem der letzten Transporte nach Theresienstadt deportiert und dort von der Roten Armee befreit. Nach dem Krieg kehrte sie nach Frankfurt zurück und lernte Industriekauffrau. Über ihre Erfahrungen in Theresienstadt konnte sie 50 Jahre lang nur mit ihrer Schwester sprechen.
Ich erinnere mich nur vage an die Menschen, die uns anspuckten. So fixiert war ich auf meine Mutti. Wir hatten an diesem Morgen erfahren, dass sie nicht mit Papa, meiner Schwester und mir kommen durfte. Sie galt als Arierin, Papa als Jude und meine Schwester und ich als Mischlinge ersten Grades. Ich hielt Muttis Hand und versuchte mir, so gut ich konnte, ihr Gesicht einzuprägen.
Ich glaube, meine Eltern ahnten, was uns nach dem Transport erwartete. Meine Großmutter, eine starke, stattliche Frau, war schon 1942 deportiert worden. Doch sie sagten nichts. Wahrscheinlich wollten sie uns keine Angst machen.
An den Gleisen pferchten sie Vater, meine Schwester und mich in einen Viehwaggon. Andere Menschen in dem Wagen hoben mich hoch, damit ich durch einen Spalt noch ein letztes Mal meine Mutter sehen konnte. Da sah ich, wie meine Mutti weinte. Das war der schlimmste Tag in meinem Leben.
Ich hatte große Angst vor der Trennung
Der Transport dauerte fünf Tage lang. Das Ziel kannten wir nicht. Unsere Notdurft verrichteten wir auf Zeitungspapier, das wir dann durch den Spalt nach draußen warfen. Es stank bestialisch.

Mein Vater hatte eine Postkarte geschrieben, die er an unsere Mutti adressierte und ebenfalls auf der Strecke durch den Spalt warf. Viel später erfuhr ich, dass die Karte tatsächlich unsere Mutter erreicht hatte.
Als wir in Theresienstadt ankamen, wurden meine Schwester und ich von meinem Vater getrennt. Wir mussten uns nackt ausziehen, unsere Haare wurden kurz geschoren. Dann wurde ich ohnmächtig. In der Kinderbaracke in der "Kleinen Festung" kam ich wieder zu mir. Meine Schwester sagte immer wieder: "Hör auf zu weinen, sonst werden wir getrennt."
Die Aufseherinnen waren brutal
Davor hatte ich große Angst. Etwa zwei Wochen später trennten sie uns tatsächlich. Meine Schwester war zehneinhalb Jahre alt, und Kinder über zehn mussten arbeiten: Steine klopfen, Unkraut jäten, Waggons säubern.
Ich kam in eine andere Baracke, die gegenüber der Kaserne lag, in der mein Vater untergebracht war. Wie durch ein Wunder trafen wir auch meine Großmutter in Theresienstadt wieder. Ich erkannte sie kaum wieder. Aus meiner starken, stattlichen Omi war eine kranke, abgemagerte Frau geworden.

Zeitzeugen des Holocaust: "Wir sind frei!"
Ich erinnere mich, dass die Aufseherinnen uns ständig beobachteten. Wir mussten oft lange stehen, ohne Essen, ohne Grund. Die Aufseherinnen waren brutal. Wenn einer von uns umfiel, durften wir ihm nicht aufhelfen, sonst bekamen wir selbst Hiebe.
Ich musste Bretter mit einer Zahnbürste schrubben, ohne etwas zu trinken zu bekommen. Abends haben die Aufseherinnen und Aufseher gefeiert. Das weiß ich, weil mein Papa die Schnittchen schmieren musste.
Dann schloss ich meine Mutti in die Arme
Niemals werde ich die Nacht der Befreiung vergessen: Zuerst einmal - und das fiel mir erst später auf - waren die Aufseherinnen schon eine Weile nicht mehr da. Ich lag auf meiner Pritsche und wurde geweckt von Schreiereien und Schüssen.
Aus dem Fenster sah ich mehrere Lastwagen, Soldaten mit Gewehren und bengalische Feuer. Es war die russische Armee. Ich habe eine ganze Weile ausgeharrt, dann kam mein Papa mit meiner Schwester, packte mich und rief: "Wir sind frei!"
Ich lief zwischen meinem Papa und meiner Schwester über den Hof. Ich hatte panische Angst. Die ganze Zeit dachte ich: Gleich kommt die Aufseherin und holt mich wieder zurück. Aber das hat sie nicht, wir waren wirklich frei.
Die allerschönste Erinnerung: Zurück in Frankfurt, habe ich meine Mutti wiedergesehen. Das Gefühl, sie wieder in die Arme schließen zu können, ist unbeschreiblich. Wenn man so viel Leid erlebt hat, glaubt man an so etwas Schönes nicht mehr.
Heute fühle ich mich hier wohl
Frankfurt ist auch nach dem Krieg meine Heimatstadt geblieben. Das wird sie auch immer bleiben. Ich kenne zwar Zeitzeugen, die Deutschland nach dem Holocaust verlassen haben, aber die meisten sind doch in ihre Heimatstädte zurückgekehrt. Außerdem kam es für uns nicht infrage wegzugehen. Man hätte Geld und Papiere gebraucht. Und meine Mutti wollte, dass wir in die Schule gehen, einen Beruf lernen.
Edith Erbrich Ich hab' das Lachen nicht verlernt: Ihre Lebensgeschichte - aufgezeichnet von Peter Holle
Ich sage immer: Wären mein Leben und mein Schicksal in einem anderen Land anders gewesen? Nein. Und ich fühle mich hier wohl. Für meine Arbeit als Zeitzeugin bekomme ich so viel Dankbarkeit besonders von Schülern und Lehrern, deren Schulklassen ich besuche.
Ich habe mir meine Wünsche erfüllt - der Gedenkweg neben der ehemaligen Sammelstelle in der Frankfurter Großmarkthalle, für den ich lange gekämpft habe, ist einer davon.
Die Zeugen des Grauens: Das Magazin SPIEGEL GESCHICHTE widmet sich in der aktuellen Ausgabe dem Thema "Jüdisches Leben in Deutschland" und hat Überlebende der Schoah besucht - Jüdinnen und Juden, die der Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten auf ganz unterschiedliche Weise entkamen und sich nach dem Krieg entschieden, trotz allem weiter in Deutschland zu leben. Weitere Protokolle finden Sie im Heft.