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Inge Auerbacher: Drei Mal Leben

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Holocaust-Gedenkrednerin Inge Auerbacher »Für Hass bin ich nicht am Leben geblieben«

Als Kind überstand Inge Auerbacher das Lager Theresienstadt. Am Donnerstag spricht die 87-Jährige im Bundestag – ein Zoom-Anruf in New York voller Überraschungen.

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Montagnachmittag, 16 Uhr: Pünktlich auf die Minute erscheint auf dem Bildschirm freundlich lächelnd Inge Auerbacher. »Einen schönen guten Morgen, Frau Auerbacher!« Die 87-Jährige lebt in New York, dort ist es gerade 10 Uhr. Inge Auerbacher überlebte den Naziterror und wird am Vormittag des 27. Januar im Bundestag die Rede zum Holocaust-Gedenktag halten ; in Deutschland ist sie weitgehend unbekannt. Noch siezen wir uns höflich und förmlich. Doch das soll sich im Laufe des folgenden, sehr ungewöhnlichen Zoom-Anrufes ändern.

Geplant war ein einstündiges Kennenlerngespräch. Doch es folgen mehr als drei Stunden, in denen sie am Bildschirm Lieder singt, Gedichte rezitiert, lacht und weint, abwechselnd Englisch und Deutsch mit schwäbischem Dialekt spricht und manchmal einen Mix aus beidem.

Gut 6000 Kilometer entfernt hält sie sichtlich bewegt Geschenke und Erinnerungsstücke in die Kamera, telefoniert gelegentlich nebenher. Vor allem aber erzählt sie voller Leidenschaft ihre Geschichte: Eigentlich ist es eine von drei Leben, in denen sie Erfahrungen mit den schlechtesten Eigenschaften der Menschen machen musste, aber auch ihre besten Seiten kennenlernte.

»Wir waren gute Deutsche«

Zur Welt kam Inge Auerbacher am 31. Dezember 1934 als letztes Kind von seinerzeit mehr als 60 ansässigen jüdischen Familien in Kippenheim am Rande des Schwarzwaldes. In ihrem Erzählfluss springt sie munter vom kleinen Dorf in die Metropole New York, wo sie seit 1946 lebt, und wieder zurück nach Deutschland, genauer nach Stuttgart.

Dort besuchte sie für ein halbes Jahr die erste Klasse, bevor die jüdische Schule im März 1941 geschlossen wurde. Noch heute erinnert sie sich an ihren Lehrer Theodor Rothschild und nennt ihn den »schwäbischen Korczak«, weil er sich wie der berühmte polnische Pädagoge Janusz Korczak aufopferungsvoll um jüdische Waisenkinder kümmerte.

Dann erst berichtet sie vom dunkelsten Kapitel ihres Lebens: Theresienstadt. In der tschechischen Kleinstadt nordwestlich von Prag hatten die deutschen Besatzer in einer alten Militärfestung ein Lager errichtet, als »Vorzeigegetto« für das Ausland. Dort internierten die Nationalsozialisten Zehntausende als Juden verfolgte und entrechtete Menschen aus dem Deutschen Reich, die ein hohes Alter oder eine gewisse Prominenz hatten.

Hinzu kamen jüdische Veteranen des Ersten Weltkrieges, wie Inge Auerbachers Vater Berthold, der wegen einer Kriegsverletzung mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war, wie seine Tochter noch heute stolz erzählt: »Wir waren gute Deutsche, echte Patrioten.«

Ihre Puppe Marlene war immer dabei

Für viele Menschen wurde das »Altersgetto« zur Transitstation in die Vernichtungslager im Osten. Die hygienischen und sozialen Zustände im völlig überfüllten Lager waren so entsetzlich, dass mehr als 30.000 Menschen in Theresienstadt an Hunger, Krankheiten und Entkräftung starben.

In Göppingen hatte die Familie Auerbacher bereits in einem »Judenhaus« leben müssen, wo die Nationalsozialisten jüdische Menschen konzentrierten, um sie von allen anderen sozialen Kontakten abzuschneiden. Von dort wurde Inge Auerbacher als Siebenjährige mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert, nachdem sie im August 1942 eine »Abwanderungsanordnung« erhielten. Jäh endete damit ihr »erstes Leben«, ihre noch recht unbeschwerte Kindheit in Süddeutschland, die sie vor allem mit Erinnerungen an ihre geliebten Großeltern mütterlicherseits und mit ihrer Puppe Marlene verbindet.

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Inge Auerbacher: Drei Mal Leben

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In Theresienstadt begann Inge Auerbachers »zweites Leben«. Viel durfte das Mädchen nicht mit auf die Reise nehmen. Erlaubt waren laut Gestapo-Befehl »für jeden Transportteilnehmer« nur »ein Handkoffer oder ein Rucksack«. Auf ihre Puppe aber wollte Inge nicht verzichten, und so begleitete »Marlene« sie ins Lager und später auch bis nach New York

In Theresienstadt mussten sich die Auerbachers ein Zimmer mit der Familie Abraham aus Berlin teilen. Deren Tochter Ruth wurde Inges beste Freundin. Die beiden fast gleichaltrigen Mädchen neckten sich, weil Inge schwäbelte und Ruth berlinerte. Ruths erschütterndes Schicksal steht stellvertretend für die anderthalb Millionen Kinder, die den Holocaust nicht überlebten: 1944 wurde sie mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert und ermordet. Ruth Abraham wurde nur neun Jahre alt.

Poesie gegen das Vergessen

An dieser Stelle des Gesprächs stockt der sonst so sprudelnden Inge Auerbacher die Stimme. Sie springt auf, kehrt mit einem ihrer Bücher zurück und trägt spontan einige Zeilen eines Gedichtes vor, das sie später für Ruth geschrieben hat. Darin hält sie den Augenblick fest, wie Ruths Mutter im Angesicht des Todes in der Gaskammer auf das Mädchen einredet:

»Schlaf, mein Kind. Ich kann dir nicht mehr geben. O Gott, wir werden nicht leben. Aber ich halte dich fest.«

Inge Auerbacher hat eine besondere Beziehung zur Poesie. Stolz erzählt sie von den vielen Versen, die sie verfasst hat und von denen einige sogar vertont wurden. Alles begann mit einem Gedicht, einem Geschenk ihrer Mutter Regina zum zehnten Geburtstag in Theresienstadt. An Geschenke wie Spielzeuge oder Süßigkeiten war im Lager Ende 1944 nicht zu denken. Nicht einmal Papier gab es; Inges Mutter musste das Gedicht in kleinster Schrift auf die Rückseite eines Fetzens bedruckten Papiers schreiben.

Zum Kriegsende 1945 befreite die Rote Armee das Lager Theresienstadt. Die Familie Auerbacher ging zurück nach Süddeutschland, fand aber keine Angehörigen mehr vor. 13 Familienmitglieder waren ermordet worden, darunter die geliebte Großmutter, die schon Ende 1941 nach Riga deportiert und dort erschossen worden war.

Die Auerbachers wollten Kontakt zu Therese aufnehmen, einer früheren Hausangestellten der Großeltern; die mutige Deutsche hatte sie in Zeiten größter Bedrängnis und unter großem Risiko mit Essen versorgt und einige private Gegenstände der Verfolgten versteckt, darunter die Fotoalben der Familie.

Die Schatten des Lagers

Die Familie musste erfahren, dass Therese den Krieg zwar überlebt hatte, dann aber durch eine geschlossene Tür versehentlich von einem US-Soldaten erschossen worden war. Als Inge Auerbacher von diesem tragischen Schicksal erzählt, wird sie still. Therese ist für sie das Beispiel eines guten Menschen und ein Vorbild für die freie Wahl, für die Entscheidungsmöglichkeit, die jede und jeder auch heute hat.

In der alten Heimat fühlten die Auerbachers sich verloren. Sie schlossen neue Freundschaften mit einigen GIs und entschieden sich schließlich, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, wo bereits einige Familienangehörige lebten. Als der Truppentransporter »Marine Perch« im Mai 1946 nach zehntägiger stürmischer Überfahrt von Bremen aus New York erreichte, begann Inge Auerbachers drittes Leben.

Darüber fiel allerdings über lange Jahre der Schatten ihres »zweiten Lebens«. Denn in Theresienstadt hatte sich das Mädchen mit Tuberkulose angesteckt, die Krankheit brach nur drei Monate nach der Ankunft in der neuen Heimat erneut aus. Inge Auerbacher verbrachte die folgenden vier Jahre fast ausschließlich im Krankenhaus und im heimischen Bett. Schwerkrank und geschwächt musste sie zahlreiche schmerzhafte Therapien erdulden, doch ihr ernster, ja lebensbedrohlicher Zustand besserte sich kaum. Erst ein neues Medikament sorgte für ihre fast vollständige Heilung, sodass sie 1950 endlich wieder zur Schule gehen konnte.

Voller Ehrgeiz nutzte Auerbacher den Neuanfang und schloss die Schule in verkürzter Zeit und mit vielen Auszeichnungen ab, bevor sie Chemie studierte und fast vier Jahrzehnte lang als Chemikerin in der medizinischen Forschung und Diagnose arbeitete. Nebenher begann sie, ihre Geschichte aufzuschreiben und durchs ganze Land zu reisen, um vor Schulklassen zu sprechen.

»Du hast immer eine Wahl!«

Aus den vielen Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen bezieht sie bis heute ihre Lebensenergie, die sie auf Reisen um die ganze Welt führt. Begeistert erzählt sie etwa von einem mehrmonatigen Campingtrip von Frankfurt nach Nepal mit Stationen in Afghanistan und Iran.

Heute lebt Inge Auerbacher in Jamaica, einem der ethnisch vielfältigsten Stadtteile von New York. Mit ihren Nachbarn, einer hinduistischen und einer muslimischen Familie, versteht sich die praktizierende Jüdin bestens. Und sie will diese friedliche Nachbarschaft als Modell für eine bessere Welt verstehen, jenseits aller religiösen oder ethnischer Zugehörigkeiten.

Am Ende unseres langen Videotelefonates sind wir per Du und verabschieden uns wie alte Freunde: »Inge, gute Reise nach Berlin!« Zuvor aber gibt sie dem Zuhörer noch einige Sätze mit auf den Weg. Sie klingen wie ihr Lebensmotto: »Für Hass bin ich nicht am Leben geblieben. Menschen sind Menschen. Wir haben alle das gleiche Blut! Du hast immer eine Wahl!« Und schließlich sagt sie mit Blick auf eine tragische Vergangenheit, bedrängte Gegenwart und unsichere Zukunft: »Man muss immer Hoffnung haben!«

Dieses Gedicht schrieb Inge Auerbacher um 1990:

Wer bin ich?

Aus der Asche bin ich geboren
Meine Familie habe ich verloren.
Bin in der zerbrochnen Kette ein neues Glied
Bin alle Freude, alles Leid, das geschieht.

Bin alle Hoffnung, alles Glück, alle Sorgen
Ich bin das Gestern, das Heute, das Morgen.
Ich trage die Namen all der Unbekannten
Aus fremden Orten, aus fernen Landen.

Ich bin das nie zuvor gehörte Lied
Ich bin der Geist, der vogelgleich fliegt.
Ich bin das frühere Leben unserer Lieben.
Als ihr erfüllter Traum bin ich geblieben.

Ich bin so vieler Kinder stummes Leben
Wurde geboren, ihnen eine Stimme zu geben.
Ich bin ein Baum und zwischen Himmel und Erde
Wachsen mir Zweige, die ich niemals kennen werde.

Wer bin ich?

Ich bin! Ich bin!

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