Eigentlich ist Giselle Cycowicz im Ruhestand. Aber die 93-jährige Psychotherapeutin hält noch immer Kontakt zu ihren früheren Patienten. Covid-19-bedingt am Telefon und per Zoom. Sie betreut Holocaust-Überlebende in Jerusalem seit 1992. Das Patienten-Therapeuten-Verhältnis ist von tiefstem Vertrauen geprägt, und Giselle weiß genau, was ihre Patienten quält. Denn sie war selbst dort – in Auschwitz.
Giselle Cycowicz, ehemalige Psychotherapeutin Amcha:
Ich kam als Therapeutin für die Holocaust-Überlebenden und wurde dann der Gruppe vorgestellt. Es sind vielleicht hundert Leute, Mitglieder. Ich sage zu ihnen: »Mein Name ist Giselle Cycowicz, und ich bin eine Holocaust-Überlebende.« Das habe ich vorher noch nie gesagt. Ich habe 44 Jahre in Amerika gelebt, ich habe niemals zu jemandem gesagt: »Ich bin eine Holocaust-Überlebende«, weil niemand gefragt hat.
In so einem Eisenbahnwagon, wie er heute in der Gedenkstätte Yad Vashem steht, wurde sie mit ihrer Familie aus ihrem Heimatort Chust in Ungarn im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert.
Giselle Cycowicz, ehemalige Psychotherapeutin Amcha:
Drei Tage. Es war sehr, sehr still. Die Leute, die dort waren, waren mit ihren Familien. Sie sprachen alle flüsternd. Wir sahen ein großes hölzernes Schild, auf dem stand »Auschwitz-Birkenau«. Das kannten wir nicht. Wir hatten diese Worte nie gehört, nie.
Das Reden ist so wichtig. Doch viele Opfer der Shoah konnten das jahrzehntelang nicht, zu traumatisch war das Erlebte. Und im hohen Alter verschlimmert sich das. Die Zeit heilt nicht.
Martin Auerbach, klinischer Direktor von Amcha Israel:
Extreme Traumata begleiten uns unser ganzes Leben. Und interessanterweise im Alter nach der Pensionierung, wo es wieder um neue Verluste geht – Lebenspartner werden krank, oder die Mobilität wird eingeschränkt. Der Blick richtet sich auf die Vergangenheit, und Erlebnisse aus der Kindheit und Jugendzeit, aus der Vergangenheit werden viel aktueller. Und daher haben wir Amcha in Israel. Wir betreuen Holocaust-Überlebende, einen sehr großen Anstieg an älteren Holocaust-Überlebenden im Alter von 80 und 90 Jahren. Die sagen: »Jetzt kommen wir und wollen darüber sprechen.«
8.725 Überlebende des Holocaust betreut die Selbsthilfeorganisation Amcha in Israel nach eigenen Angaben. Allein im vergangenen Jahr mit 242.489 Therapiestunden. Das Leben nach dem Überleben ist geprägt von den traumatischen Erfahrungen der Kindheit und Jugend.
Giselle Cycowicz, ehemalige Psychotherapeutin Amcha:
Plötzlich ist die Rampe voll mit Menschen. Die Selektion wird durchgeführt. Wir wissen nicht, was das ist. Wir haben keine Ahnung, was da passiert. Sie sagen den Leuten, sie sollen sich ausziehen und ihre Kleidung dort an den Haken hängen. »Merken Sie sich, wo sie sie hingetan haben, weil sie sie brauchen werden.« Innerhalb von 20 Minuten wurden sie geholt und getötet. 20 Minuten. 2000 Menschen in einer Gaskammer. Und die Kinder, die Kinder sterben zuerst. Ich war zu dem Zeitpunkt siebzehn.
Ebenso wichtig wie Therapien sind die sozialen Aktivitäten in den Treffpunkten von Amcha. Feste, Gedenktage, einfach nur Zusammensein ist der Ausweg aus der Isolation. So war es vor Corona.
Martin Auerbach, klinischer Direktor von Amcha Israel:
Das ist für die ein Ort, der nach innen, ich zitiere, die sagen, das ist für mich wie eine Art zweites Zuhause. Da fühle ich mich geborgen, sicher. Und hier kann ich auch Sachen erzählen, von denen ich das Gefühl hatte: Das habe ich nur erlebt. Niemand kann so was verstehen. Das ist ja eigentlich das grundlegende Trauma. Ein Trauma ist ein Gefühl. Da ist ein Gefühl, dass mir etwas passiert ist, und ich kann das niemandem richtig erzählen. Und auch wenn ich es erzähle, wird er oder sie nicht verstehen.
Giselle Cycowicz, ehemalige Psychotherapeutin Amcha:
Und dann sagten sie: »Ausziehen.« Wir haben keine Haare mehr, keine Kleidung. Der Hunger wird immer schrecklicher. Die Tragödie, dass meine Mutter weggebracht wurde. Die Tragödie, dass mein Vater getötet wurde. Bei jedem Zählappell gibt es ein großes Risiko. Wir sind in ständiger Angst.
Giselles Vater wurde in einer Gaskammer in Auschwitz ermordet. Der Schmerz ist immer noch da. Etwa 565.000 ungarische Juden wurden ermordet, insgesamt etwa sechs Millionen jüdische Menschen. Giselle, ihre Schwestern und ihre Mutter haben überlebt. Und blieben danach immer nahe beieinander.
Giselle Cycowicz, ehemalige Psychotherapeutin Amcha:
Es tat so gut, zusammen zu sein und Dinge zu planen, um Rat zu fragen, zu lachen und über die Heimat zu sprechen. Die meisten der Holocaust-Überlebenden haben das nicht. Wir hatten Glück, dass wir am Leben geblieben sind. Das hatte nicht jeder.
Viele sind allein. Therapeuten sind oft ihre einzigen Bezugspersonen. Ständiger Begleiter ist die Shoah. In allen Details, mit allen Bildern, Geräuschen, Ängsten, Gedanken, Schuldgefühlen. Holocaust-Traumata kommen nicht nur ab und zu mal zurück.
Giselle Cycowicz, ehemalige Psychotherapeutin Amcha:
Es kommt nicht zurück. Es ist immer in unseren Köpfen. Es ist immer bei uns. Es geht nicht weg. Es kann nicht weggehen, weil alle möglichen Dinge passieren, und plötzlich erinnere ich mich. Ich erinnere mich an so viele schreckliche... Jetzt im Winter erinnere ich mich, was passiert ist.
Die Corona- Einsamkeit verstärkt das Grundgefühl des Verlassenseins vieler Holocaust-Überlebender. Die Treffpunkte sind geschlossen, aber man sieht sich online. Das wird intensiv genutzt, trotzdem leiden vor allem diejenigen, die zu schwach sind oder nicht in der Lage, an Videokonferenzen teilzunehmen. Die Reaktion Holocaust-Überlebender auf die Corona-Einsamkeit ist sehr individuell.
Giselle Cycowicz, ehemalige Psychotherapeutin Amcha:
Es gibt viele Überlebende, die sehr, sehr starke Widerstandskraft haben, auch ihre die letzten Jahrzehnte gezeigt haben und die eigentlich manchmal sogar sagen: »Ja, für mich ist das gar nicht so schlimm. Ich habe Schlimmeres erlebt, nicht?« So was hören wir ab und zu. Aber es gibt doch viele Überlebende, die sagen: »Ich hatte so jetzt eine Art von Gefühl der Sicherheit in den letzten Jahrzehnten. Eigentlich geht es jetzt schon ein bisschen ruhiger. Und plötzlich fällt die Welt wieder aus den Fugen.«
Auch Giselle Cycowicz vermisst seit Beginn der Covid-19-Pandemie vieles. Doch sie kommt gut zurecht und ist optimistisch.
Mit Material von:
Helena Schätzle für AMCHA Deutschland e.V.
AMCHA Israel
ZUMA Wire / imago images
AP und Reuters