In sieben Schritten Wie die Erfindung der Glühbirne Karaoke zur Todesgefahr machte

In sieben Schritten: Wie die Glühbirne Karaoke zur Todesgefahr machte
In sieben Schritten: Wie die Glühbirne Karaoke zur Todesgefahr machte
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23.05.2022 13.53 Uhr
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1. Schritt: Der Welt geht ein Licht auf
Gemeinhin gilt der berühmte US-Erfinder Thomas Alva Edison als Vater der Glühfadenlampe. 1879 erblickte diese Erfindung - Edison zufolge jedenfalls - erstmals das, hohoho, Licht der Welt. Doch wie bei einigen der 1093 von Edison patentierten Erfindungen hatte er gewisse, sagen wir mal: Anleihen bei anderen Tüftlern gemacht. Im Fall der Glühfadenlampe sogar bei einer ganzen Meute. Einigen kaufte Edison die Patentrechte ab, wie den Kanadiern Henry Woodward und Mathew Evans, die ihres schon 1874 angemeldet hatten. Andere waren zum Zeitpunkt von Edisons "Erfindung" schon tot und hatten zeitlebens ihre Idee nicht rechtlich gesichert - etwa der Schotte James Bowman Lindsay, der Brite Humphry Davy und Edward Kinnersley, der schon 1761 Drähte mit Strom zum Glühen gebracht hatte. Die meisten Vordenker der Glühbirne ließt der geschäftstüchtige Edison einfach links liegen: Sie mochten schneller gewesen sein, aber Edison war der Erste, der die Glühbirne erfolgreich kommerziell nutzbar machte.
Diese Einführung der Glühfadenlampe veränderte viele Bereiche des Alltags: Hatte man früher zu Hause abends nur mühsam bei Kerzenlicht lesen können, wurde jetzt helles elektrisches Licht verfügbar. Die Städte verwandelten sich von des Nachts düsteren Geisterstädten mit patrouillierenden Nachtwächtern in pulsierende, hell erleuchtete Metropolen mit urbanem Nachtleben. Vor allem aber wurden Haushalte flächendeckend mit Stromleitungen versehen, um Beleuchtung ohne Feuergefahr zu ermöglichen - und diverse Elektrogeräte anzuschließen. Die Folgen für die Industrie waren weitreichend. Nach dem Siegeszug von Edisons neuem elektrischen Licht entstand...
2. Schritt: Vetternwirtschaft der Lichtgestalten
...eine ganze Leuchtmittelindustrie, nicht nur in den Vereinigten Staaten. In den Niederlanden gehörten der Banker und Tabakwarenindustrielle Frederik Philips (pikanterweise ein Vetter von Karl Marx) sowie seine Söhne Gerard und Anton Philips zu den ersten Betreibern einer Glühbirnenfabrik. Zunächst wirkte die Gründung des Unternehmens Philips 1891 eher unspektakulär - nur eine Handvoll Mitarbeiter stellte im kleinen Eindhovener Werk eine überschaubare Zahl Glühlampen her. So versuchte die Familie Philips, im neuen Markt Fuß zu fassen. Es gelang - und Frederik Philips erweiterte die Produktion bis 1905 auf vier Millionen Glühlampen pro Jahr. Philips wurde hinter Siemens & Halske und AEG der drittgrößte Glühbirnenhersteller Europas.
Über die folgenden Jahrzehnte expandierte das Unternehmen, drang in weitere Produktsegmente vor und wurde teils sogar weltweit zum Marktführer: Röntgenröhren, Radios, Rasierapparate, Fernseher, Elektrozahnbürsten, CD-Player und vieles mehr. Und auch außerhalb der Elektrogeräte wurde Philips aktiv - etwa ab 1950 mit einem eigenen Plattenlabel, dem Tochterunternehmen Philips Phonographische Industrie. Das Label brachte Aufnahmen vieler klassischer Orchester heraus, aber auch die...
3. Schritt: Wachspuppe im Rampenlicht
... eines 15-jährigen Mädchens aus Frankreich: Philips nahm 1963 France Gall unter Vertrag, weil sie den Musikproduzenten Deni Bourgeois bei einem Vorspielen in Paris beeindruckt hatte. Gall stammte aus einem Musikerhaushalt: Ihre Mutter war Sängerin, ihr Vater schrieb unter anderem Songs für Édith Piaf. France hieß in Wirklichkeit Isabelle, legte sich aber ihren patriotischen Künstlernamen zu, weil schon eine andere französische Popmusikerin als Isabelle bekannt war, nämlich Isabelle Aubret.
Mit dem Plattenvertrag im Rücken beschloss France Gall, die Schule aufzugeben. Der Erfolg gab ihr recht: An ihrem 16. Geburtstag, dem 9. Oktober 1963, lief ihre Debütsingle "Ne sois pas si bête" ("Sei nicht so dumm") erstmals im Radio - und wurde ein Hit. Galls künstlerischer Leiter Denis Bourgeois war zugleich für Serge Gainsbourg tätig und überredete den berühmten Sänger, mit der Newcomerin zusammenzuarbeiten. Mit Gainsbourgs Song "N'écoute pas les idoles" ("Hör nicht auf die Idole") stieg Gall 1964 zum ersten Mal an die Spitze der französischen Hitparade. Mit weiteren Songs wie "Laisse tomber les filles" ("Lass die Finger von den Mädchen") oder "Poupée de cire, poupée de son" ("Wachspuppe, Strohpuppe") aus der Feder Gainsbourgs wurde Gall schnell zu einem Popstar, den jeder in Frankreich kannte. 1964 lernte die Sängerin auch den...
4. Schritt: Am Anfang war das Ende
...französischen Chansonnier Claude François kennen. Er war acht Jahre älter und verheiratet, trotzdem wurden beide ein Liebespaar. Oder so etwas Ähnliches. Es wurde eine leidenschaftliche, schwierige Beziehung, die beide drei Jahre durch Höhenflüge und Abgründe trieb. François wollte sein Verführer-Image aufrechterhalten, darum sollte die Beziehung geheim bleiben. Immer wieder gab es Streit, Trennungen, Versöhnungen, Hingabe, Hass. François wurde zunehmend besitzergreifend, Gall reiste ihm zu seinen Konzerten hinterher.
Hinzu kam seine wachsende Eifersucht auf ihren Erfolg. Dass Gall 1965 für Luxemburg beim Eurovision Song Contest antrat und gewann, verletzte wohl sein Ego. Als sie ihn nach dem großen Auftritt hinter der Bühne anrief, demütigte er sie: "Du hast falsch gesungen, du warst eine Null! Es ist aus zwischen uns." Gall ging wieder auf die Bühne, die Zuschauer dachten, es seien Freudentränen auf ihren Wangen. Zurück in Paris folgte ein heftiger Streit, die Risse in der Beziehung wurden tiefer. Bis es 1967 im Hotel Martinez in Cannes abermals heftigen Streit gab - den letzten. Es kam zur bitteren Trennung von France Gall und Claude François.
Noch im selben Jahr verarbeitete der Sänger, den France Gall später nur noch "den unmöglichen Mann" nannte, den Schmerz in einem Song: Das schwermütige Beziehungslied "Comme d'habitude" ("Wie aus Gewohnheit") erzählte von einem Paar, bei dem sowohl der tägliche Streit als auch Gesten der Zärtlichkeit, kaltherzige Ablehnung, offensichtliche Untreue und Wiedersehensküsse zu mechanisch wiederholten Ritualen geworden sind. Gall sagte später, François habe ihr persönlich gesagt, dass das Lied an sie gerichtet war. Doch sie erkenne ihre damalige Beziehung darin nicht wieder. Dennoch bewegte der finstere Song ihres Ex viele Hörer, als er im November 1967 erschien. Und unter diesen Hörern...
5. Schritt: Mafiosi und die Bombe im Restaurant
...war auch ein junger Kanadier, der gerade auf einer Urlaubsreise in Südfrankreich unterwegs war und François finstere Beziehungsabrechnung im Radio hörte. Dieser Kanadier, Paul Anka, war selbst im Popgeschäft und hatte 1958 schon als Teenager mit seinem Hit "Diana" mehr als zehn Millionen Platten verkauft. Seither schrieb er auch Songs für andere Stars. Anka war zwar nicht völlig hinweggefegt von der Single "Comme dhabitude", sah jedoch Potenzial. Er selbst formulierte das etwas direkter: "Es war eine beschissene Platte, aber es steckte etwas darin." Er war sich sicher, daraus einen Erfolg auf dem US-Markt machen zu können. Also kaufte er kurzerhand die Rechte für eine Songadaption - nur um das Lied doch wieder zu vergessen und zwei Jahre lang in einer Schublade vor sich hin schimmeln zu lassen.
Bis ein befreundeter Sänger Anka anrief: Frank Sinatra wollte sich mit ihm in Florida treffen. Später erzählte Anka, sie hätten sich in einem Restaurant gemeinsam mit "ein paar Mafiatypen getroffen. Frank ließ die Bombe platzen - er sagte: 'Ich steige aus dem Geschäft aus. Ich habe es satt'." Anka war völlig überrumpelt. Doch dann kam ihm eine Idee: einen letzten, großen Abschiedssong für Sinatra zu schreiben. Er holte die Noten für "Comme dhabitude" hervor, improvisierte am Klavier herum, veränderte das Stück hier und da. Dann setzte er sich an die Schreibmaschine und stellte sich vor, was für einen Text Frank Sinatra schreiben würde, um sich von seiner Karriere zu verabschieden. Anka tippte die ganze Nacht - und schuf...
6. Schritt: Hymne an die Ich-AG
...einen der bekanntesten und meistgecoverten Popsongs der Musikgeschichte: Frank Sinatras "My Way". Aus dem Lied über eine Beziehungshölle hatte Anka das Resümee eines älteren Manns gemacht, der auf sein Leben zurückblickt, bevor er sich "dem letzten Vorhang" stellt: "Ich lebte ein erfülltes Leben / Bereiste jeden einzelnen Highway / Oh, und viel wichtiger als das / Ich tat es auf meine Weise."
Frank Sinatra selbst, so verriet seine Tochter Tina nach dem Tod des Entertainers 1999 der BBC, war von Ankas Song nicht begeistert: "Er fand immer, dass der Song selbstgerecht sei. Er mochte ihn nicht." Und doch hatte Sinatra ein Gespür für das Hitpotenzial, nahm den Song am 30. Dezember 1968 auf und machte ihn am Anfang sogar zum Titelstück seines folgenden Albums "My Way". Anders als Sinatra liebten seine Hörer das Lied: Es kletterte bis auf Platz 2 der Adult Contemporary Charts in den USA, stürmte Hitparaden rund um die Welt und wurde zum bekanntesten Song in Sinatras langer Musikkarriere. Wie kaum ein anderes Stück feierte es den amerikanischen Traum, den Glauben an die Kraft des Einzelnen, es mit Hingabe und Fleiß vom Tellerwäscher zum Millionär, nach "ganz oben" zu schaffen, wenn man nur seinen eigenen Regeln folgt. Selbst Paul Anka wunderte sich im Nachhinein über den Appeal seines Texts: "Jeder denkt, dass es ein Song über ihn selbst ist - aber wie viele Leute machen es schon wirklich auf ihre eigene Weise?"
Weit über 100 Coverversionen des Stücks entstanden, Musiker von Elvis Presley über Sex-Pistols-Star Sid Vicious bis zum Rapper Jay-Z interpretierten die Selbstbeweihräucherungshymne neu. In England wurde sie zum meistgespielten Song auf Beerdigungen, Gerhard Schröder ließ "My Way" zu seinem Zapfenstreich und Donald Trump auf seinem Inaugurationsball spielen. Aber die wohl sonderbarsten und zugleich erschreckendsten Folgen hatte "My Way"...
7. Schritt: Am Ende des Wegs
...auf den Philippinen. Denn dort kam es ab 2000 zu den "My Way Killings". Karaoke ist in dem Inselstaat ungemein beliebt: In Bars, Privathaushalten oder im Freien stehen Karaokemaschinen, an denen manche schon morgens vor der Arbeit trällern. Entsprechend eng sind die Sangeskünste mit dem Stolz der Menschen verbunden. Und entsprechend empfindlich können sie auf Kritik reagieren.
Sinatras Hit entpuppte sich sogar als lebensgefährlich. "Früher mochte ich 'My Way' gern, aber nach dem ganzen Ärger habe ich aufgehört, es zu singen. Man kann getötet werden", erklärte ein Herr Gregorio aus General Santos City 2010 der "New York Times". In vielen Karaokebars, oft bevölkert von Gangstern, Zuhältern und Prostituierten, war der Song zu dieser Zeit bereits verboten - aus Sicherheitsgründen. Angefangen hatte es wohl um 2000: Jemand traf bei "My Way" nicht den Ton, kurz darauf war er tot. Wie viele Menschen die Sangesnummer mit ihrem Leben bezahlten, ist nicht exakt überliefert, mindestens ein halbes Dutzend sollen es allein von 2000 bis 2010 gewesen sein.
Nur warum? Eine Theorie lautet, dass es am Text lag. Butch Albarracin, Gesangslehrer in Manila, erklärte es so: "Der Text erzeugt ein Gefühl des Stolzes in dem Sänger, als wäre man jemand, auch wenn man ein Niemand ist." Darum, so Albarracin, führe der Song zu Gewalttaten. Es könnte wohl der Stolz manches Karaoke-Sängers empfindlich getroffen sein, wenn er gerade aus voller Brust feierte, wie er es "auf seine Weise" getan habe - und sich das Publikum dann über seinen Gesang scheckig lacht. Anders herum könnte es das Publikum als Provokation verstehen, dass ein unbegabter Sänger die Frechheit hat, sich mit "My Way" zu beweihräuchern. So oder so - auf den Philippinen setzte sich durch, dass jeder, der seinen Weg noch nicht ganz zu Ende gegangen ist, "My Way" besser meidet.
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