
Interview mit Judith Kerr: "Im Exil die Sprache verloren"
Hans Michael Kloth
Interview mit Judith Kerr "Im Exil die Sprache verloren"
einestages: Frau Kerr, vor kurzem haben Sie erfahren, dass die verschollene Bibliothek Ihres Vaters, des berühmten Theaterkritikers Alfred Kerr, in der Berliner Staatsbibliothek aufgetaucht ist. Wie kam das?
Kerr: Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat mir einen sehr freundlichen Brief geschrieben und mir mitgeteilt, dass mehr als hundert Bücher aus dem Besitz meines Vaters im Bestand der Staatsbibliothek Berlin entdeckt wurden. Sie hat vorgeschlagen, diese Bücher dem Kerr-Archiv in Berlin zu übergeben. Das finde ich eine gute Idee und habe meine Zustimmung gegeben.
einestages: Wie haben Sie reagiert, als Sie von dieser Entdeckung hörten?
Kerr: Für mich geht es weniger um die Bücher. Es war für mich vollkommen erschütternd, dass mein Vater damals schon ein paar Wochen nach der Flucht aus Deutschland so dringend Geld brauchte. Ich habe nie gewusst, dass er so sehr in Geldnot war, dass er sogar seine Bücher verkaufen musste.
einestages: Erinnern Sie sich an die Bibliothek Ihres Vaters in den 1920er und 1930er Jahren?
Kerr: Ich erinnere mich vor allem an Zeitungen. Die lagen nämlich alle über den Fußboden verstreut. Da durfte niemand aufräumen. Wenn sie auf dem Boden lagen, dann wusste mein Vater, wo alles war. Ich erinnere mich, wie ich einmal zu ihm hingehen wollte und über lauter Zeitungsstapel drüber steigen musste - ich muss wirklich sehr klein gewesen sein. Einmal die Woche kam eine Dame, der mein Vater diktiert hat. Aber meistens hat er selber auf der Schreibmaschine geschrieben. Die Sekretärin hieß Frau Hederer, das war eine Dame um die fünfzig, die hatte immer so schwarze Kleider an. Einmal, das war wohl in Paris, sprachen mein Vater und ich über die Vergangenheit, was wir nicht oft taten. Ich fragte ihn, was wohl aus der Frau Hederer geworden sei. Da hat er gesagt: "Die ist jetzt Gauleiter".
"Dem Führer der deutschen Dichterjugend in schuldiger Verehrung"
einestages: Was für Bücher sind jetzt aufgetaucht?
Kerr: Es sind alles Dramen, zum großen Teil Widmungsexemplare zeitgenössischer Dichter wie Georg Kaiser oder auch heute weniger bekannter Autoren. Da stehen dann so Widmungen drin wie "Dem Führer der deutschen Dichterjugend in schuldiger Verehrung" - so mancher junge Dichter wollte sich bei dem großen Alfred Kerr beliebt machen.
einestages: War Ihnen damals bewusst, welche bedeutende Rolle der Theaterkritiker Alfred Kerr in der Weimarer Republik spielte?
Kerr: Ich wusste damals nur, dass mein Vater irgendwie berühmt war, aber ich war ja erst neun Jahre alt. In der Schule wurde ich einmal gefragt: Was macht dein Vater? Das wusste ich und sagte: Er ist Kritiker. Und dann fragten sie mich nach meinem Großvater, Robert Weissmann, dem Vater meiner Mutter. Ich musste erst lange nachdenken, bis mir das einfiel, und dann sagte ich: Ich weiß es: Er ist Staatssekretär. Der war ein merkwürdiger Mensch. Er hatte mal einen furchtbaren Krach mit meinem Vater. Mein Großvater hatte immer verschiedene Freundinnen, da konnte meine arme, kleine Großmutter nichts machen. Eine Freundin war Schauspielerin. Da hat mein Großvater Geld für ein Stück gegeben, damit diese Dame die Hauptrolle spielen kann. Mein Vater war allerdings unbestechlich: Was sollte er jetzt tun? Er hätte nicht hingehen können, aber das schien ihm wohl auch nicht richtig. Er hat sich das Stück also angeschaut und hat geschrieben: Diese Schauspielerin hat sicher alle möglichen Talente, aber nicht zum Schauspielern. Da hat mein Großvater zwei Männer bestellt, die meinen Vater verprügeln sollten. Als er im Grunewald spazieren ging, kamen die beiden und sagten, dass sie ihn zusammenschlagen sollten. Mein Vater sagte: Aber das wollen sie doch eigentlich gar nicht! Und dann sind sie alle gegangen und haben ein Bier getrunken. Darüber hat mein Vater dann natürlich auch geschrieben.
einestages: Ihr Vater ist wohl keiner Fehde aus dem Weg gegangen...
Kerr: Mein Vater und mein Großvater haben jahrelang kein Wort miteinander gesprochen! Das war natürlich sehr schwer für meine Mutter.
Champagner mit Gerhart Hauptmann
einestages: Apropos, hatte Ihre Mutter einen literarischen Salon bei sich zu Hause?
Kerr: Nein. Es kamen manchmal Gäste, aber mein Vater hat das nicht so sehr geliebt. Er hat sich immer gefreut, wenn sie wieder alle nach Hause gegangen sind. Aber es gab Ausnahmen.
einestages: Ihr Vater kannte auch den Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann sehr gut.
Kerr: Ich weiß noch, wie Gerhart Hauptmann uns einmal in unserer Wohnung im Grunewald besuchte. Mein Vater und er hatten beschlossen, sich zu duzen, und sie haben mit Champagner darauf angestoßen. Mein Bruder und ich sollten auch mit dabei sein und haben auch etwas Sekt bekommen, damit wir uns daran erinnern. Ich muss sieben oder acht gewesen sein. Ich weiß nur noch, dass mir der Sekt gar nicht geschmeckt hat.
einestages: Später kam es dann zum Zerwürfnis zwischen Ihrem Vater und Hauptmann.
Kerr: Der Hauptmann ist ja dann ganz zu Hitler übergegangen. Die beiden sind ja nebeneinander bei einer seiner Premieren erschienen. Er wurde so eine Art Reichsdramatiker.
einestages: Wie reagierte ihr Vater darauf?
Kerr: Mein Vater hatte Hauptmann ja eigentlich entdeckt. Er war der erste, der über seine Stücke geschrieben hat und gesagt hat, dass sie großartig sind. Mein Vater muss das dann irgendwo in der Zeitung gelesen haben, dass Hauptmann öffentlich mit Hitler erschienen ist. Ich habe ihn gefragt: Aber wenn der Gerhart Hauptmann sagt, es tut ihm leid, dann verzeihst Du ihm doch? Aber mein Vater sagte nein. Nie.
"Else Ury ist ein Schwein"
einestages: Schriftsteller, die er für Verräter hielt, verachtete Ihr Vater besonders?
Kerr: Ich erinnere mich noch an einen weiteren Fall. Wir Kinder lasen alle die Bücher von Else Ury. Ich habe die "Nesthäkchen"-Bände sehr geliebt. Als wir dann im Exil in Zürich waren, gingen wir in eine Buchhandlung, und da war ein neues Buch von Else Ury in der Auslage. Als ich es las, merkte ich dann, dass es nicht mehr um Nesthäkchen ging, sondern etwas ganz anderes war. Da war Hitler ein Held. Obwohl Else Ury jüdisch war, hat sie versucht, ein Buch für Hitler zu schreiben.
einestages: Was hat ihr Vater gesagt, als Sie ihm das erzählt haben?
Kerr: Er sagte: "Else Ury ist ein Schwein". Es hat ihr ja auch gar nichts genützt. Sie hatte Publikationsverbot, nicht mal schreiben durfte sie mehr unter den Nazis, die sie schließlich im KZ umbrachten.
einestages: Kommen wir noch einmal auf die Bücher zurück, die jetzt in der Staatsbibliothek entdeckt wurden. Wissen Sie, wie sie in die damalige Preußische Staatsbibliothek gelangt sind?
Kerr: Mein Vater floh nach Prag, das war glaube ich am Tag der Reichstagswahlen, der 5. März 1933. Jemand von der Polizei rief ihn an und hat ihn gewarnt, man plane dort, ihm demnächst seinen Pass wegzunehmen. Es gab da ja schon eine Menge Nazis bei der Polizei. Mein Vater hatte Grippe, aber nach dem Telefonat ist er sofort aufgestanden, meine Mutter hat ihm einen kleinen Koffer gepackt, und er ist sofort über die Grenze nach Prag geflüchtet. Nicht mal seine eigenen Werke hat er in der Schweiz dabei gehabt. Die hat er erst später von Freunden bekommen. Er wollte, dass wir so schnell wie möglich Deutschland verlassen. Er hatte Angst, dass man uns festhält, um ihn zurückzubekommen.
Schlimmer Notverkauf
einestages: Und so ist es dann auch gekommen?
Kerr: Das ist genau so gekommen. Am nächsten Morgen waren Sie bei uns und haben unsere Pässe verlangt. Die Nazis waren noch nicht an der Macht, aber sie hatten schon viel Macht. Da ist meine Mutter mit dem Zug nur für ein paar Stunden auch nach Prag gefahren, um meinen Vater zu fragen, was tun wir jetzt. Da hat er ihr gesagt, ihr müsst alle vor den Wahlen aus Deutschland raus. Sonst behalten sie Euch da. Deshalb war da so eine schreckliche Eile. Meine Mutter hatte nur eine Woche Zeit, das Haus aufzulösen.
einestages: Sie hat den Hausrat verkauft?
Kerr: Die Möbel wurden eingelagert. Darum war unser Kindermädchen Heimpi zurückgeblieben. Mein Vater hat meiner Mutter eine Liste gegeben, was er brauchte, was für Papiere und ähnliches. Wir hatten ja nie viel Geld. Wir sind wohl 1927 oder 1928 in die Wohnung in der Douglasstraße im Berliner Grunewald eingezogen und lebten dort nur zur Miete. Das Haus gibt es noch, dass ist aber viel feiner, als wir es damals hatten. Mein Vater hatte auch kein Auto. Wenn er ins Theater ging, nahm er ein Taxi. Wenn später andere Leute gesagt haben, wie können wir nur unser Geld aus Deutschland rauskriegen, sagten meine Eltern: Wie kriegen wir es raus, wenn da gar nichts da ist. Die Möbel und die Bücher waren wohl etwas wert. Die haben die Nazis natürlich konfisziert. Mein Vater muss die Bücher verkauft haben, bevor die Nazis sie gefunden haben.
einestages: Als die Preußische Staatsbibliothek Ihrem Vater 100 Reichsmark für die "166 Werke deutscher schöner Literatur" zahlte, handelt es sich also um einen Notverkauf?
Kerr: Ja, es war ein ganz schlimmer Notverkauf.
einestages: Umfasste die Bibliothek Ihres Vaters noch mehr Bücher, als jetzt in der Staatsbibliothek gefunden wurden?
Kerr: Ich denke ja. Denn das sind ja alles Dramen. Er muss auch andere Bücher gehabt haben.
"Die Schweizer wollten Hitler nicht verärgern"
einestages: Wie haben Sie die Flucht erlebt?
Kerr: Meine Mutter hat das alles mit soviel Zuversicht gemacht, dass ich gar keine Angst hatte. Ich war neun, und ich habe das alles gar nicht richtig verstanden, was da passierte. Wir haben meinen Vater dann später in Zürich getroffen. Er wartete am Bahnhof auf uns und konnte uns erst nicht sehen. Er hat mir später gesagt, es sei die schlimmste halbe Stunde seines Lebens gewesen. In Zürich sind wir zwei, drei Tage geblieben. Dann haben meine Eltern gesagt, wir fahren in den Süden. Mein Vater dachte ja, er würde in der Schweiz schreiben können. Er hat das auch eine zeitlang versucht, aber niemand hat seine Artikel drucken wollen. Die Schweizer wollten eben den Hitler nicht verärgern. Dann sind wir nach Lugano gefahren. Und das war großartig, denn mein Vater hatte früher gar nicht so viel Zeit für uns, weil er meistens immer arbeitete. Wir waren glücklich, mit ihm zusammen zu sein. Er hat uns im Zug furchtbar zum Lachen gebracht. Kurze Zeit, nachdem wir in Lugano angekommen waren, wurde ich sehr krank. Ich hatte drei Wochen ganz hohes Fieber, und meine Eltern hatten große Angst. Es kamen verschiedene Ärzte. Es muss für meine Eltern eine sehr schlimme Zeit gewesen sein. Man geht in ein fremdes Land, das Kind wird krank, man kennt die Ärzte nicht, kann nicht nach Hause. Und der schreckliche Geldmangel - davon wusste ich damals nichts.
einestages: Hat Ihr Vater damals überhaupt Geld verdienen können?
Kerr: Als wir - nach dem Schweizer Exil - in Paris lebten, hat mein Vater ein Filmdrehbuch über Napoleon geschrieben, aus der Sicht von Napoleons Mutter. Keiner wollte es haben. Aber dann hat der Produzent Alexander Korda es für die Riesensumme von tausend britischen Pfund gekauft. So sind wir dann nach England gekommen.
einestages: Was ist aus dem Filmprojekt geworden?
Kerr: Der Film wurde natürlich nicht gemacht, wie Filme nie gemacht werden. Wir haben eigentlich nie gewusst, ob der Korda je die Absicht hatte, diesen Film zu machen oder ob er nur helfen wollte. Das hat uns zum zweiten Mal das Leben gerettet, denn wenn wir im Krieg in Frankreich geblieben wären, hätte man uns auch verhaftet.
Im Exil die Sprache verloren
einestages: Ging es der Familie Kerr in England besser?
Kerr: Meine Mutter hat in London angefangen, Geld zu verdienen als Sekretärin. Es hat immer gerade nur gereicht, immer wieder haben Leute uns aushelfen müssen. Es war schrecklich. Mein Vater hat noch weiter für das "Pariser Tageblatt" geschrieben, eine deutsche Zeitung in Paris. Aber die hatten auch kein Geld.
einestages: Sprach Ihr Vater überhaupt Englisch?
Kerr: Er konnte es lesen, er las Shakespeare auf Englisch. Französisch dagegen sprach er perfekt, wie Deutsch, aber Englisch konnte er nicht wirklich. Er hat da im Londoner Exil eigentlich seine Sprache verloren. Er besaß kaum deutsche Bücher im Exil. Das muss schrecklich für ihn gewesen sein. Mein Vater wohnte in einer Art Pension in London. Als er 1948 starb, fanden wir nur ganz wenige Bücher in seinem Zimmer.
einestages: Nach dem Krieg ist Ihr Vater noch einmal nach Deutschland zurückgekommen, und zwar für eine Theateraufführung nach Hamburg.
Kerr: Die britische "Control Commission" hat ihn 1948 nach Deutschland geschickt. Er sollte über das Theater schreiben und ist nach Hamburg geflogen. Er war noch nie in seinem Leben geflogen. Als er ankam, waren da Fotografen und Journalisten. Er machte eine Hafenrundfahrt, und man richtete ihm ein großes Mittagessen aus. Abends ist er dann ins Theater gegangen, ich glaube es war "Romeo und Julia". Als er den Zuschauerraum betrat, sind die Leute aufgestanden und haben applaudiert. In der Nacht hatte mein Vater dann im Hotel einen schlimmen Schlaganfall und lag auf dem Boden in seinem Zimmer. Am Morgen kam ein Journalist und fand ihn da. Mein Vater wusste, was passiert war, er konnte auch noch sprechen, und er sagte dem Journalisten: "Das Stück war schlecht, aber so schlecht war es doch nicht!"
Abschiedsbriefe für alle
einestages: Da klingt er fast wie der bissige Theaterkritiker in alten Weimarer Zeiten. Aber tatsächlich ging es ihm so schlecht, dass er seinem Leben ein Ende bereiten wollte?
Kerr: Meine Mutter ist dann sofort zu ihm gefahren, er war halbseitig gelähmt. Er sagte meiner Mutter, er könne auch nicht mehr richtig denken. Er wollte nicht weiterleben, und meine Mutter hat ihm dann etwas besorgt. 1948 war das ganz leicht. Man brauchte ein paar Zigaretten und dann konnte man alles bekommen. Meine Mutter hat das Gift von einem Arzt bekommen. Damals war Selbstmord in England ein Verbrechen. Meine Eltern wollten nicht, dass man weiß, dass mein Vater seinem Leben ein Ende bereitet hat. Mein Bruder, der in Cambridge studiert hatte, wurde ja schon Jurist, und es hätte ihm schaden können. Meine Mutter hat dann den letzten Tag mit meinem Vater verbracht und ist dann abgereist, um nicht dabei zu sein.
einestages: Wie hat sich das Weitere dann abgespielt?
Kerr: Da gab es einen schottischen Journalisten in Hamburg, MacRitchie war sein Name, der hat uns sehr dabei geholfen. Man hatte meinem Vater gesagt, er dürfe keine Abschiedsbriefe schreiben. Aber der MacRitchie hat sich gedacht, das ist ein Schriftsteller, da kann man nie wissen. Also ist er um fünf Uhr früh ins Krankenhaus gegangen und hat die Zettel alle eingesammelt. Mein Vater hatte natürlich an uns alle geschrieben.