
Israel-Fotograf Rudi Weissenstein: Das Auge des Aufbaus
Israel-Fotograf Rudi Weissenstein Chronist des Neubeginns
Die Anwesenden halten den Atem an: Am 14. Mai 1948 um 16 Uhr erhebt sich David Ben-Gurion von seinem Stuhl im Kunstmuseum von Tel Aviv. Mit einem Hämmerchen sorgt der Politiker für Ruhe. Dann verliest er die Worte, die Juden in ganz Palästina in Jubel ausbrechen lassen: "Gleich allen anderen Völkern, ist es das natürliche Recht des jüdischen Volkes, seine Geschichte unter eigener Hoheit selbst zu bestimmen." Knapp 2000 Jahre nach der Zerstörung des letzten jüdischen Staates durch die Römer verkündet Ben-Gurion damit eine Sensation: die Gründung Israels.
Einziger offizieller Fotograf war damals Rudi Weissenstein. Nervös schoss er jene Aufnahme, die ihm zu Berühmtheit verhalf: Ben-Gurion, festlich gekleidet mit der Unabhängigkeitserklärung in seinen Händen, unter dem Porträt von Theodor Herzl, Begründer des Zionismus.
Nur wenige Stunden später befand sich der neue Staat schon im Krieg mit seinen arabischen Nachbarn. Die letzten britischen Soldaten hatten sich gerade erst aus Palästina zurückgezogen, das laut Uno-Beschluss vom November 1947 in einen arabischen und einen jüdischen Staat geteilt werden sollte.
Für Weissenstein, selbst überzeugter Zionist, war das Foto vom 14. Mai 1948 ein Höhepunkt seiner Karriere. Und doch umfasst sein Lebenswerk viel mehr: Wie kaum ein anderer Fotograf dokumentierte er über Jahrzehnte das Alltagsleben und die Menschen des jungen Staates Israel.
Die Welt durch die Linse verstehen
Mehr als eine Million Negative hat Weissenstein der Nachwelt hinterlassen. Eine Auswahl seiner besten Aufnahmen zeigt nun der Bildband "Rudi".
Weissenstein lichtete Juden und Araber, Drusen und Briten ab. Die Kamera war sein Werkzeug, um das Land und seine so verschiedenen Menschen zu verstehen. "Diese Linse gibt mir die Möglichkeit, die halbe Welt zu durchschauen", notierte er 1936. "Doch noch wichtiger ist, durch diese Linse Erkenntnisse über die Welt zu erlangen."
Shimon Rudolph Weissenstein, 1910 im böhmischen Iglau (im heutigen Tschechien) geboren, entdeckte schon als Kind seine Leidenschaft für die Fotografie. Den ersten Apparat gab ihm sein Vater, ein wohlhabender Kartonagenhersteller. "Als ich acht Jahre alt war, habe ich ein Geschenk bekommen, das mein Leben vollkommen veränderte. Und das war eine kleine hölzerne Kamera", erklärte Weissenstein, der als Muttersprache Deutsch erlernt hatte, viele Jahre später.
Als junger Mann ging Weissenstein nach Wien und absolvierte eine Buchdruckerlehre. Sein Vater hatte andere Pläne für ihn: Rudi sollte in den Familienbetrieb einsteigen oder ein Hotel in der Schweiz führen, hielt davon aber nichts - und arbeitete als Pressefotograf in Prag.
Bilder von Kibbuzim und Beduinen
Seine Zukunft sah Weissenstein nicht in Europa. Der weit verbreitete Antisemitismus stieß ihn ab, er hoffte auf die Neugründung eines jüdischen Staates. 1936 reiste Weissenstein nach Palästina, zu dieser Zeit britisches Völkerbundsmandat. Im Gepäck: seine Kamera.

Israel-Fotograf Rudi Weissenstein: Das Auge des Aufbaus
In Tel Aviv begann Weissenstein seine neue Karriere, die Stimmung war damals bürgerkriegsähnlich. Zahlreiche Juden kamen aus Europa ins "Heilige Land". Nach der Flucht vor Nazis und Judenhass wollten sie in Palästina eine neue Heimat aufbauen. Spannungen mit der arabischen Bevölkerung waren die Folge, ebenso mit der britischen Mandatsmacht. Um Unruhen zu vermeiden, begrenzten die Briten die Aufnahmezahlen für einreisewillige Juden.
Rudi Weissenstein schoss Foto um Foto. Von den Bewohnern der Kibbuzim, ländlichen Kollektivsiedlungen, die der rauen Natur Ackerland abtrotzten. Vom ersten Konzert des Palestine Symphony Orchestra 1936 in Tel Aviv. Von den neuen Siedlungsbauten, von arabischen Beduinen, der Wüste.
Ein Fotogeschäft namens Frucht des Lichts
1940 fand der Fotoreporter mit den strahlenden Augen sein privates Glück: Er heiratete die aus Prag stammende Tänzerin und Akrobatin Miriam Arnstein. Gemeinsam mit ihr erfüllte er sich seinen beruflichen Traum und eröffnete in Tel Aviv das Fotogeschäft Pri-Or ("Frucht des Lichts").
In den Morgenstunden zog Weissenstein an den Strand und fotografierte britische Soldaten. Später kamen sie in das Fotogeschäft, kauften Abzüge, schickten sie ihren Familien in der Heimat. Immer mehr Menschen gingen zu dem talentierten Fotografen.
Pri-Or wurde zu einer kulturellen Institution, regelmäßig kamen Prominente vorbei, etwa Künstler Marc Chagall und US-Präsidentengattin Eleanor Roosevelt, die Ministerpräsidenten Menachem Begin und Yitzhak Rabin. Bald hieß es: "Wer im Schaufenster von Pri-Or ausgestellt ist, gewinnt die nächsten Wahlen."
Wenn Weissenstein nicht im Laden war, zog er per Auto oder Kamel durchs Land, um Städte und Dörfer, Menschen und Landschaften zu fotografieren. Er und seine Kamera waren unzertrennlich, sie fanden Schönheit und Schrecken zugleich: 1937 schoss Weissenstein Fotos des Kibbuz Sarid nahe Nazareth. Prachtvolle Bäume, sattes Gras - und mittendrin ein bewaffneter Wächter zum Schutz vor Angriffen.
"Ihr glücklichen Augen "
Zehn Jahre später lichtete er ein Mädchen ab. Vor einem geöffneten Fenster, die Sonne scheint ihr ins Gesicht. Schwer zu erahnen, was sie durchgemacht haben muss: Weissenstein fotografierte in einer Unterkunft für Überlebende des Holocausts.
Preisabfragezeitpunkt
10.06.2023 01.07 Uhr
Keine Gewähr
Hoffnung und Neubeginn, Hass und Konflikte im neu gegründeten Israel - mit seinem Talent, seiner Neugier und seinem Einfühlungsvermögen wurde Rudi Weissenstein zum Chronisten einer ganzen Region. Als er 1992 starb, ließ Ehefrau Miriam seinen Lieblingsvers von Goethe auf den Grabstein gravieren:
Ihr glücklichen
Augen,
was je ihr gesehn,
es sei wie es wolle,
es war doch so schön!
Geschäft und Andenken des großen Fotografen bewahrte seine Frau. Noch mit über 90 Jahren stand Miriam Weissenstein im Laden, 2011 starb auch sie. Heute führt Ben Peter, ihr Enkel, Pri-Or weiter - und hütet das fotografische Gedächtnis Israels.