
70 Jahre »Der Fänger im Roggen«: Eine Mordslektüre
Salingers Roman »Der Fänger im Roggen« Der Landneurotiker
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Beruhigt euch, Leute, möchte man bisweilen ausrufen, es ist nur ein Roman, jemand hat sich all das ausgedacht, bitte bleibt am Boden! Welche Wirkung erfundene Geschichten entfalten können, erstaunt immer wieder. Am 16. Juli 1951 erschien »Der Fänger im Roggen«. Seitdem sorgt das Buch zuverlässig für Aufregung, Ärger und Entsetzen.
Warum? Die Frage hat in 70 Jahren etliche literaturwissenschaftliche Seminare verschlissen.
Es ist die Geschichte von Holden Caulfield. Der 16-Jährige fliegt wegen schlechter Noten kurz vor den Weihnachtsferien von der Schule, traut sich nicht nach Hause, irrt drei Tage durch Manhattan und nimmt überall Heuchler und Blender (»phonies«) wahr. Darum geht es im Kern: Holdens Abscheu gegen die »Verlogenheit der Erwachsenen«, unterlegt mit Großsprecherei und jugendlichen Sexfantasien, geschrieben aus einem psychiatrischen Sanatorium im Rückblick auf »diesen Irrsinnskram, der mir so um letztes Weihnachten passiert ist«.
Aus heutiger Warte ein harmloser Plot, damals jedoch sprachlich anrüchig und in seinem schnoddrigen Stil seiner Zeit gewagt voraus. 30-fach übersetzt soll sich »The Catcher in the Rye« 65 Millionen Mal verkauft haben. Die Fünfzigerjahre wurden zur »Salinger-Ära«, auch später noch machten sich Fänger-Fans den Spaß, sich auf Partys als Holden Caulfield vorzustellen, um das Literaturwissen anderer zu testen. Dass das Rätselhafte und Anstößige zum Erfolg des Romans beitrug, versteht sich von selbst. Bis heute streiten Textdeuter, ob es sich um einen Roman für die Jugend oder über die Jugend, also für Erwachsene, handelt.
Schock bei der KZ-Befreiung
Einig ist man sich über die autobiografische Färbung. Wie Holden Caulfield flog Jerome David Salinger, Jahrgang 1919, wegen schlechter Zensuren von einer New Yorker Privatschule und wechselte auf eine Militärakademie. Sein Vater Solomon, Ex-Rabbiner mit osteuropäischen Wurzeln, betrieb in New York einen Käse- und Fleischhandel und schickte den Jungen im Herbst 1937 zu Verwandten nach Wien, für ein Praktikum in einer Schlachterei.
Fünf Monate später kehrte Jerome zurück – mit dem Entschluss, Vegetarier und Schriftsteller zu werden, und unter den Eindrücken antisemitischer Schikanen kurz vor dem »Anschluss« Österreichs. Es war die zweite Verstörung in seiner Jugend. Ein paar Jahre zuvor hatte er bei seiner Bar-Mizwa überraschend erfahren, dass seine Mutter eigentlich Katholikin war und sich vor der Heirat von »Marie« in »Miriam« umbenannt hatte. Die Heuchelei der Erwachsenen – vielversprechender Stoff für Kurzgeschichten.

70 Jahre »Der Fänger im Roggen«: Eine Mordslektüre
Im Juni 1944 folgte die Rückkehr nach Europa: »Special Agent« Salinger landete mit dem 12. Infanterieregiment in der Normandie, wegen seiner guten Deutschkenntnisse wurde er später beim US-Geheimdienst in Gunzenhausen eingesetzt. Ende April 1945 befreite Salinger mit anderen US-Soldaten das KZ Kaufering IV, ein Dachau-Außenlager für geschundene, schwerkranke Häftlinge.
Als die Truppen vorrückten, begannen die Aufseher die Insassen bei lebendigem Leib zu verbrennen. Den jungen Männern bot sich ein grauenhafter Anblick: Berge halbverkohlter, teils noch lebender Körper . Nach dem Krieg ließ sich Salinger für psychotherapeutische Behandlungen in eine Militärklinik einweisen. »Front-Schock« lautete die Diagnose, heute heißt das »Posttraumatische Belastungsstörung«.
Mitte 30 und fertig mit der Welt
Zu den schrecklichen Erlebnissen hat Salinger sich nie öffentlich geäußert, seiner Tochter Margaret soll er später lediglich gesagt haben: »Du bekommst nie wirklich den Geruch von brennendem Fleisch aus deiner Nase, egal wie lange du lebst.« Seine Biografen David Shields und Shane Salerno nennen »Der Fänger im Roggen« einen »versteckten Kriegsroman«.
Der Rummel um sein Werk, der jeden Jungautor jubilieren ließe, passte Salinger gar nicht (»beruflich und persönlich demoralisierend«). Vom Verlag verlangte er, sein Foto vom Cover zu entfernen. Die Kontroversen begannen: Wertkonservative Amerikaner forderten den Bann von Schul-Lehrplänen, die Sprache sei obszön und vulgär, der Protagonist zu negativ. Ein Zählwettbewerb setzte ein, wie oft das Wort »goddam« vorkam, man konnte sich schließlich auf 255 Mal verständigen.
Und Salinger? Schwieg zu all dem, sein letztes Interview gab der nun weltberühmte Autor 1953.
Mitte 30 und fertig mit der Welt – weg von Geschwätz und Lärm floh er 1953 aus New York in das abgelegene Cornish in New Hampshire. Schon in den späten Vierzigerjahren hatte er sich dem Zen-Buddhismus zugewandt, es folgten Hinduismus, Sufismus, Vedanta und Yoga, er experimentierte mit makrobiotischer Ernährung und landete später bei der Astrologie. Salinger-Beobachter nannten seine isolierte Sinnsuche »umgedrehten Exhibitionismus«. Auch sein Alter Ego träumt vom Einsiedlerleben in einer Hütte, getarnt als Taubstummer: »Es wäre mein Gesetz, dass niemand, der mich besuchte, etwas Verlogenes tun dürfte. Falls jemand etwas Verlogenes tun wollte, könnte er nicht bei mir bleiben«, lässt er Holden sagen.
Der »Fänger« sollte sein einziger Roman bleiben. Fortan veröffentlichte Salinger nur noch Kurzgeschichten und Novellen, 1965 war auch damit Schluss. Schreibhemmungsgerüchten trat er 1973 in einem raren Telefonat mit einem Reporter barsch entgegen, er schriftstellere nun »zu meinem eigenen Vergnügen«.
Alternder Sonderling mit sehr jungen Frauen
Etwas aber lockte ihn immer wieder aus seiner Festung: Frauen. Sehr junge Frauen. 1942 begann er eine Beziehung zu der 16 Jahre alten Oona O'Neill, Tochter des Literaturnobelpreisträgers Eugene O'Neill. Kein Geringerer als Charlie Chaplin spannte ihm die Freundin aus und hatte mir ihr dann acht Kinder. Nach Kriegsende heiratete er die Deutsche Sylvia Welter; die Ehe hielt nur wenige Monate, dann kehrte die junge Ärztin von New York nach Deutschland zurück.
Es folgte Claire Douglas, mit der Salinger die Kinder Matt und Margaret hatte; als Scheidungsgrund 1967 nannte Claire seine »Gleichgültigkeit und Kommunikationsverweigerung«. Ein paar Affären später – 1972 etwa mit der Studentin Joyce Maynard, die dazu ihre Memoiren veröffentlichte (»At Home in the World«) – heiratete Salinger 1988 die Krankenschwester Colleen O'Neill (nicht verwandt mit Oona).
Alle haben gemein, dass sie viel jünger als Salinger oder sogar noch Teenager waren. Er lebe so zurückgezogen, um seine allzu jungen Frauen zu verbergen, mutmaßten Kritiker. Der #MeToo-Empörung von heute würde Salinger kaum standhalten, im Verhältnis zu Frauen werden seine Schwächen deutlich. Für Oona und Charlie Chaplin hatte er nur Verwünschungen übrig, erinnert sich Tochter Margaret, und als er von seiner ersten Frau Sylvia 1972, nach fast 30 Jahren, einen Brief erhielt, zerriss er ihn ungeöffnet.
Salinger verkrachte sich mit seinen Kindern, mit Journalisten, prozessierte gegen einen Biografen und 2009 hochbetagt gegen einen schwedischen Autor, der den »Fänger im Roggen« parodistisch fortsetzen wollte. Er schimpfte die bestellten Bauarbeiter in seinem Haus eine »feindliche Invasion«. Namhafte Regisseure und Schauspieler wie Jerry Lewis, Marlon Brando, Billy Wilder, Leonardo DiCaprio, Jack Nicholson, Elia Kazan oder Steven Spielberg hätten das Buch gern auf die Bühne oder Leinwand gebracht, er wies sie alle ab. Am 27. Januar 2010 starb Salinger im Alter von 91 Jahren. Eine Trauerfeier hatte er sich verbeten, aus »Respekt vor meinem Privatleben«.
Inspiration für verwirrte Attentäter
Wer war J.D. Salinger? Exzentriker, Neurotiker oder nur Misanthrop? Genialer Selbstinszenierer? Alles zusammen? So rätselhaft wie sein Verfasser ist die Faszination des Buchs für Psychopathen.
Mark David Chapman verehrte das Buch, noch mehr verehrte er John Lennon. Am 5. Dezember 1980 flog der 25-Jährige von Honolulu nach New York, irrte drei Tage durch Manhattan und um Lennons Wohnsitz, das Apartmenthaus »The Dakota«. Am 8. Dezember ließ er sich von seinem Idol noch ein Autogramm geben, am Abend dann feuerte er dort fünf tödliche Kugeln auf Lennon ab. Danach setzte sich Chapman auf den Bürgersteig und las seelenruhig im »Fänger«. »Für Holden Caulfield, von Holden Caulfield, das ist meine Aussage«, hatte er sich als »Widmung« hineingeschrieben. Der Friedensaktivist Lennon sei zum Lebemann verkommen, ein Verräter seiner Ideale, ein Heuchler, gab Chapman zu Protokoll.
Unter den Tausenden trauernden Fans, die sich noch in der Mordnacht vor dem Dakota versammelten, soll sich auch John Hinckley befunden haben. Chapman und Hinckley kannten einander nicht, haben aber auf fast unheimliche Weise einiges gemeinsam: Sie sehen ähnlich aus, wurden beide im Mai 1955 geboren und zu begeisterten Leser des »Fänger«. Vier Monate später, am 30. März 1981, versuchte Hinckley, US-Präsident Ronald Reagan in Washington zu erschießen. Bei seinen wirren Aussagen gab er als Motiv an, sein Idol John Lennon sei ermordet worden, und er wolle der Schauspielerin Jodie Foster imponieren. Hinckley führte das Buch ebenfalls bei sich.
Der Terrorist Theodore Kaczynski, der »Unabomber«, hatte in seiner einsamen Holzhütte ein Exemplar von »Der Fänger im Roggen«; der mörderische Guru Charles Manson fühlte sich seelenverwandt mit Holden Caulfield. Eine weitere mörderische Spur führt zu Robert John Bardo: Am 18. Juli 1989 erschoss der 19-Jährige die Schauspielerin Rebecca Schaeffer, 21, in deren Haus in West Hollywood. Der Attentäter hatte sie lange verehrt und verfolgt. Durch eine Bettszene mit einem Mann in einer Filmkomödie sei Schaeffer zu einer »weiteren Hollywood-Hure« verkommen, sagte Bardo später – und warf bei seiner Flucht eine Kopie von »Der Fänger im Roggen« auf ein Hausdach.