Blick in die eigene Stasiakte »Ach nee, die ganze Post an meine Mutti«

Blick in den Archivfundus der Stasiunterlagenbehörde in Berlin
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Es ist nur ein nüchtern-bürokratischer Akt, der sehr zwiespältige Emotionen hervorrufen kann: Erleichterung und Gewissheit. Oder Wut und Verbitterung.
Mit der Integration der Stasiunterlagen ab dem 17. Juni 2021 ins Bundesarchiv ändert sich formal manches, menschlich aber wenig.
Die bange Unsicherheit vor der Akteneinsicht bleibt: Könnten alte Freundschaften an neuen Gewissheiten zerbrechen? Oder kann eine Akteneinsicht auch Beziehungen kitten, die von einem womöglich unbegründeten Verdacht belastet waren?
Sich seine Stasiakte zu ziehen, erfordert Mut. Lesen Sie hier von acht Menschen, die diesen Schritt wagten und über die der SPIEGEL in den vergangenen Jahren berichtete.
Er wollte immer in die Ferne reisen. Allein das machte Gernot Friedrich in der DDR verdächtig, besonders weil er es hartnäckig mit diversen Transitvisa-Tricks versuchte.
Vollends ins Visier der Stasi geriet er, weil er auf seinen Reisen durch Polen und die Sowjetunion eine im Kommunismus verfemte Ware schmuggelte: Bibeln, die er über das evangelische Gustav-Adolf-Werk in Leipzig bezog. 150 Exemplare schleuste der Pfarrer auf abenteuerliche Weise in den Ostblock, etwa zu einer deutschstämmigen Gemeinde an der Wolga.
Dass seine Akte deswegen mehrere Ordner füllt, machte Friedrich fassungslos. »Ach nee, die ganze Post an meine Mutti«, sagte er 2012 dem SPIEGEL und deutete auf Dutzende kopierte Postkarten. »Hier, ein detaillierter Grundriss meiner Wohnung in Jena. Und der hier, IM ›Romain‹, das war ein befreundeter Pfarrer, den die Stasi gezwungen hatte, mich auszuhorchen.«
Die Stasi sah in dem eher unpolitischen Reisenarren einen Kopf eines konspirativen Netzwerks, weil sie im Gustav-Adolf-Werk »ein umfangreiches System zur Nachrichten- und Informationssammlung« des Westens vermutete. Die Spitzel charakterisierten Friedrich als »äußerst geschickten Redner«, der mit Ironie »Hetze« und »Antipathie gegen die Russen« schüre; er sei »sehr anpassungsfähig« und erschleiche sich Vertrauen. »Wenn ich das lese«, sagte Friedrich, »klingt es, als ob sie über einen ganz anderen Menschen geschrieben hätten.«
Wie nah er am Abgrund stand, erfuhr er erst durch seine Akte. Die Stasi unterzog ihn »gewissen Tests«, versuchte ihm ein Gesangbuch unterzuschieben, in das ein Mikrofilm mit militärischen Informationen eingearbeitet war. Sie erwog gar, ihn einer »falschen medizinischen Behandlung« auszusetzen.
Ein Autofahrer überfuhr ihn in Jena in einer übersichtlichen Situation beinahe. Ein Anschlag? Aktenbelege gibt es dafür nicht. Friedrich ist dennoch davon überzeugt. Denn er hatte den auf ihn angesetzten IM »Romain« nach der Wende zur Rede gestellt – und der hatte angedeutet, es habe solche Pläne gegeben.
Vielleicht hätte Hans Weber (alle Namen der Familie geändert) im Juli 1997 die Stasiakte seiner Familie lieber nicht lesen sollen. Denn darin befand sich auch der Obduktionsbericht seiner Mutter Anna. Die Details ihres Suizids rissen Wunden einer traumatischen Kindheitserfahrung auf.
In der Nacht zum 4. September 1965, zehn Tage nachdem Hans Webers Vater, ein BND-Spion, von der Stasi verhaftet worden war, schloss sich seine Mutter im Wohnzimmer ein. Dann erhängte sie sich am Querbalken des Fensters. Nebenan schliefen Hans Weber, fünf Jahre, und sein zwei Jahre älterer Bruder.
»Die Verhöre haben sie umgebracht«, sagte Hans Weber 2012 im Interview mit dem SPIEGEL. Seine Akte scheint das zu bestätigen. Darin finden sich Protokolle von erniedrigenden Verhören. Sie »habe kein Ziel und keine Aufgabe mehr, sie habe mit allem abgeschlossen«, sagte Anna Weber einer Nachbarin vor dem Suizid.
Die beiden Kinder suchten damals tagelang nach der plötzlich verschwundenen Mutter. Man verriet ihnen auch dann nichts, als die Jugendfürsorge sie zu ihrem Großvater schickte, wo sie aufwuchsen. Offiziell war die Mutter im Krankenhaus. Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen.
Bis zum Tod des Vaters 1997, der zum Impuls wurde, die Stasiakte einzusehen. Hans Weber bereute das später, sagte er. Besonders wegen der Fotos seiner Mutter aus dem Obduktionsbericht: eine leblose Frau, die seltsam verdreht auf dem Boden lag.
Ihn faszinierten schon immer Dinge, die plötzlich verschwanden. Dann verspürte Robert Conrad den Drang, sie mit der Kamera festzuhalten. In der DDR aber war das nicht opportun, wenn man sich als Chronist verstand.
Heimlich fotografierte Conrad die vom Abriss bedrohten Fachwerkhäuser in seiner Heimatstadt Greifswald und anderswo, die der geschichtsvergessene Staat durch Plattenbauten ersetzen wollte. Er wohnte aus Protest in Abrisshäusern. Er verstand sich als Dokumentar der Zerstörungswut und zeigte seine Fotos in kirchlichen Kreisen. Er stieg sogar als Bauarbeiter verkleidet in die Berliner Ruinen des »Führerbunkers«.
Das alles brachte ihm Verhöre und Hausdurchsuchungen ein. Und doch war Conrad überrascht, als er 1993 seine Stasiakte durchblätterte. Die Stasi hatte ihm den Namen »Der Sammler« gegeben – zumindest das fand er passend.
»Beim Lesen wurde mir abwechselnd heiß und kalt, als ich mehr und mehr begriff, welch unverdientes Glück mich vor DDR-Gefängnissen verschont hatte«, sagte er dem SPIEGEL. Einigen seiner Freundinnen und Freunde sei es anders gegangen. Er habe »all die Jahre gar nichts von der Gefahr gewusst und daher einigermaßen unbefangen gelebt«.
Den Akten konnte er entnehmen, dass seine angeblich »feindlich-negative Grundposition« reichte, um ihn acht Jahre lang zu observieren. Spitzel sollten ihn zu strafbaren Handlungen und Äußerungen provozieren. Das Studium wurde ihm verwehrt.
»Übrig bleibt der Ekel, der sich unwillkürlich einstellt, wenn man die endlosen Seiten übergriffiger Spitzelberichte liest«, so Conrad. »Die Maßnahmenpläne sind erschreckend oft dümmlich und häufig einfach nur fanatisch.«
Auffällig wurde man im SED-Staat schon mit dem Hören vermeintlich aufrührerischer Musik. Raik Adam aus Halle trug lange Haare und liebte Heavy Metal. Die kleine Subkulturszene wurde bespitzelt, Adam eine »verfestigte feindlich-negative Einstellung« unterstellt. 1986 durfte er ausreisen.
Drei Jahre später rächte er sich mit symbolisch gemeinten Anschlägen auf die Berliner Mauer vom Westen aus. Am 28. Jahrestag des Mauerbaus warfen er und Freunde aus der einstigen Hallenser Metal-Szene Molotowcocktails auf die Mauer und einen Wachturm, dessen Besatzung sie vorher warnten.
Adam weiß, wie naiv und leichtsinnig diese und andere Aktionen waren. Der Blick in die Stasi-Akten verschaffte ihm aber die Möglichkeit, diese Geschichte auf Grundlagen der Dokumente und eigenen Erinnerungen später als Graphic Novel zu verarbeiten.
»Dass wir auch im Westen überwacht wurden, wussten wir«, sagte er dem SPIEGEL. »Freunde in Halle wurden regelmäßig von der Stasi über uns befragt. Oberstleutnant Peter Romanowski vom MfS in Halle schrieb seitenweise Berichte.« Die Stasi ahnte, dass die Hallenser etwas an der Mauer planten, konnten aber nichts belegen.
»Die heftigste Überraschung war, dass eine ebenfalls aus Halle Ausgereiste, die dort in meiner direkten Nachbarschaft gewohnt hatte, den gesamten Bekanntenkreis aus Ex-Hallensern in West-Berlin eiskalt ausspitzelte. Ihre Ausreise hatte sie sich mit der Verpflichtung erkauft, auch im Westen für die Stasi zu arbeiten, wie schon zuvor in Halle.«
IM »Vera Stein« sammelte fleißig Informationen über Adam: Telefonnummer, Reiseziele, monatliches Einkommen. »Wir haben IM ›Vera Stein‹ nach der Wende konfrontiert. Aber sie bestreitet bis heute vehement, diese Person zu sein. Eigentlich unglaublich.«
1999 saß der Fotograf, der für seine Aufnahmen in der DDR zunächst ausgezeichnet worden war, aufgewühlt vor seiner Akte in der Rostocker Außenstelle des BStU.
»Stundenlang las ich gebannt«, erinnerte Siegfried Wittenburg sich 2016 im SPIEGEL. »Mal standen mir die Haare zu Berge, mal musste ich laut lachen. Gleich der erste Bericht war von der Nachbarin meiner Eltern. Sie fing die Briefe ab, die ich aus dem NVA-Grundwehrdienst an die Kollegen meiner Brigade schrieb, wo sie als Sekretärin arbeitete.«
Einen Vorgang gegen Wittenburg löste der Leiter des Kulturhauses in Rostock aus, wo er einen Fotozirkel geleitet hatte. Aus Solidarität hatte Wittenburg eine willkürlich zensierte Ausstellung boykottiert. Es folgte eine »Operative Personenkontrolle« (OPK), Deckname »Linse«. So sollte er auf staatsfeindliche Tätigkeiten überprüft werden.
In der Akte fand Wittenburg den Nachweis, wie seine Wohnung durchsucht worden war: Vermerkt war etwa, was für Bücher im Regal standen und wie viel Geld im Schrank lag. »Lachen muss ich darüber, dass die Schnüffler keine Probe von den Typen meiner Schreibmaschine anfertigen konnten, um damit Schriftstücke zu identifizieren. Denn unvorhergesehen kam der Nachbar nach Hause – der meines Wissens selbst Stasi-Offizier war.«
Wittenburg beantragte auch, die Klarnamen der auf ihn angesetzten Spitzel offenzulegen. Es waren Freunde und Vorgesetzte. Einer war der Lebensgefährte der besten Freundin seiner Frau. Dessen Informationen führten aber auch dazu, dass die OPK »Linse« eingestellt wurde.
Zwölf Jahre nach Akteneinsicht sprach Wittenburg diesen Mann an. Der erzählte ihm, er habe aus Angst um seine Tochter systemkonform gehandelt. Zum Abschied sagte Wittenburg: »Danke. Wir können uns wieder in die Augen blicken. Doch Freunde können wir nicht wieder werden.«
Verwunderlich war es kaum, dass westliche Korrespondenten in der DDR überwacht wurden. Intensität und Aufwand, die sich durch die Akteneinsicht belegen ließen, überraschten aber doch: Mit einem Heer an Agenten hatte die Stasi in den Achtzigerjahren den SPIEGEL bespitzelt. Der »Operative Vorgang« unter dem Tarnnamen »Tarantel« sollte »den Feind packen, ihn entlarven, verunsichern, seine Informationskanäle unterbrechen«.
Im Zentrum stand Ulrich Schwarz, SPIEGEL-Korrespondent in Ost-Berlin. Alles an ihm interessierte. Und weil Schwarz häufig einen merkwürdig anmutenden Gegenstand in sein Wohnbüro mitschleppte, wuchs das Misstrauen: Ausführlich wurde über diesen »kupferfarben eloxierten Gegenstand«, der »ca. 50-60 cm lang« sei, fabuliert. Verdächtig schien, dass Schwarz das Ding »ständig in Zeitungen« gewickelt trug.
Für die Stasi war Schwarz eine harte Nuss: Als Katholik und studierter Theologe führte er nach Spitzel-Erkenntnissen eine »gute Ehe« und galt als unempfänglich für erotische Avancen. Zudem war er bemüht, seine Informanten vor Nachstellungen zu schützen, und rief wichtige Kontakte aus Telefonzellen an.
Die Stasi zog daher den Ring der Agenten enger. Büroräume wurden verwanzt, eingehende Telefonate abgehört, Ferngespräche mitgeschnitten. Zwei als Putzmänner getarnte IM durchwühlten sogar den Papiermüll im SPIEGEL-Büro. Für kritische Berichte erntete Schwarz Psychoterror durch nächtliche Anrufe: »Leb wohl, leb wohl, leb wohl.« Und allen, die mit dem SPIEGEL-Büro Kontakt aufnahmen, drohte die Gefahr, »operativ bearbeitet« zu werden. Das konnte auch zu Freiheitsstrafen führen.
Trotz ihrer Sammelwut lüfteten die Spitzel das Geheimnis um den rätselhaften Gegenstand von Ulrich Schwarz nicht. Es war ein Kuhfuß – ein Brecheisen. Schwarz trug ihn bei sich, weil sein Büro im 16. Stock lag und der Fahrstuhl häufig steckenblieb. Mit dem Kuhfuß konnte er sich befreien, ohne Stunden auf den Notdienst zu warten.
Harald Hauswald galt der DDR als suspekt, weil er meisterhaft subtil Widersprüche und enttäuschte Versprechungen der DDR fotografierte. Noch gefährlicher ließ ihn wirken, dass er auch für einige westdeutsche Magazine wie den »Stern«, »Geo« und »Merian« arbeitete.
Offizielle und Inoffizielle Mitarbeiter, die ihn sogar in seiner Dunkelkammer ausspionieren sollten, beschrieben seine Fotos als »trist« und voller »Skepsis zum Leben in der DDR«. 1985 gab es einen Stasi-internen Haftbefehl gegen Hauswald, unter anderem wegen vermeintlicher »staatsfeindlicher Hetze« und »Agententätigkeit«. Seine Kontakte zu Westjournalisten bewahrten ihn vor der Verhaftung, wie ein interner Vermerk belegt: »Aus politischen Gründen im Moment nicht ratsam.«
Hauswalds Lieblingssatz in seiner Stasiakte zeigt allein sprachlich die Entmenschlichung der Hatz: »Das Objekt Hauswald geriet außer Kontrolle.« Das hatten frustrierte Verfolger notiert, die den Fotografen aus dem Blick verloren, als er mit einem Fahrrad verkehrt in eine Einbahnstraße fuhr. Pech für die Spitzel – sie saßen nämlich im Auto.
1979 schrieben die DDR-Familien Strelzyk und Wetzel Geschichte, als ihnen per Ballon die Flucht in den Westen gelang. Doch erst durch seine Akte wurde Peter Strelzyk klar, dass die Stasi danach einen ehemaligen Freund auf ihn ansetzte.
Er hieß Jürgen Dier alias IM »Diener«. Als vermeintlicher Fluchthelfer hatte er in der DDR im Gefängnis gesessen, durfte aber 1982 nach seiner Entlassung ausreisen. Peter Strelzyk stellte ihn nichts ahnend in seinem Elektrofachgeschäft in Bad Kissingen an.
Der Spitzel lieferte der Stasi nicht nur intime Details aus dem Privatleben der Strelzyks. Er übernahm bald auch den Elektroladen, der nach einigen Jahren pleiteging. War das die Rache der Stasi? Dieser Verdacht drängte sich Peter Strelzyk (2017 verstorben) auf, als er seine Akte durchblätterte. Beweisen ließ sich das nicht. Aber es gab für ihn noch weitere böse Überraschungen: Auch seine Schwester und sein Bruder hatten ihn ausgespitzelt.